Rezension zu Faszinosum Sexualität
socialnet.de vom 1. Juni 2018
Rezension von Rüdiger Lautmann
Das Buch gibt einen Einblick in die wissenschaftliche Arbeit
Danneckers seit dem Jahre 2003. Es enthält in chronologischer
Reihung 15 Aufsätze, von denen elf in den letzten Jahren an
teilweise entlegenen Stellen publiziert worden sind. Immerhin gut
ein Viertel des Buchumfangs war bislang unveröffentlicht. Das
Themenspektrum ist weit gespannt, zentriert um solche Aspekte des
Sexuellen, die gegenwärtig als Problem gehandelt werden, wie
beispielsweise: Genderspezifik, Fetischisierung,
Geschlechtsidentität, Sexualisierung, Cybersex.
Aufbau, Inhalt und Diskussion
Das Grundsätzliche wird gleich einleitend vorgetragen. Sexualität
oder »die Beziehung, die wir zu ihr einnehmen, verändert sich in
geradezu bestürzender Regelmäßigkeit« (9). Unterschieden wird
zwischen dem ›Primärprozess‹ und dem Deutungsüberbau. Fest ist am
sexuellen Begehren, dass nach einem äußeren Objekt verlangt wird;
variabel und wandelbar ist das, was jeweils als sexuell empfunden
wird.
Sexuelles Erleben wird in dieser Sicht vor allem durch die es
grundierenden und begleitenden Interpretationen bestimmt. Daher
müssen die üblichen Verhaltensmessungen (welche Praktiken mit
welcher Frequenz) als behavioristische Reduktionen gelten, die das
eigentlich Ursächliche verfehlen. Dieser Theorieansatz entspricht
durchaus dem der interpretativen Soziologie, welche die
gesellschaftlichen Bedeutungszuweisungen in den Mittelpunkt des
Verstehens rückt. Vertreter der Psychoanalyse und der klassischen
Kritischen Theorie müssten hier ihre Grundannahmen vermissen;
Dannecker bleibt der Soziologe, als der er in den 1970ern
angetreten ist.
Werden die Diskurse und subjektiven Überzeugungen als alleiniger
Faktor etabliert und die Körperereignisse als bloß abhängige
Variable geführt, dann verschiebt sich andererseits die Analyse auf
das rein mentale Geschehen. Die sozialen Regeln und persönlichen
Selbstverständnisse machen die Sexualität aus – und wiederum wird
diese halbiert. Das Dilemma droht auch deswegen, weil die intimen
Begegnungen dem Beobachtungszugriff meist entzogen bleiben, von
einer Laborforschung à la Masters und Johnson abgesehen. Wir haben
meist nur die Daten aus Interviewerhebungen, wo die vorformulierten
Fragen und durch Verlegenheit verzerrten Antworten nur ein
ungenaues Bild der tatsächlichen Abläufe ergeben.
Der Bedeutungskomplex ›Sexualität‹ ist bei Dannecker sehr umfassend
gedacht. Die Emotion ›Liebe‹ besitzt hier keinen großen Einfluss,
und ›Erotik‹ kommt als eigenständige Dimension nicht vor. Nacktheit
in der Werbung wird dann mit »pornografischem soft-core«
gleichgesetzt (22), »durch den Gebrauch von Kosmetika und den
Besuch von Fitnessstudios« haben wir es mit der «Herstellung eines
sexuellen Körpers« zu tun (23). Andere Konzepte wie Attraktivität
und eben Erotik würden hier eine weniger aufregende Sicht
gestatten.
Dannecker besteht zu Recht auf einer engen Verkoppelung der
Dimensionen Geschlecht und Begehren, womit er einer starken
Strömung queerer Diskurse widerspricht, die behauptet, heutzutage
konzentrierten sich die Menschen nicht mehr so sehr auf die
Geschlechtszugehörigkeit ihres Triebobjekts (27–30). Vielmehr komme
es, entgegen Gunter Schmidt, nicht so sehr auf das Merkmal des
Genitalbesitzes, also die Anatomie an, sondern auf den sich in
vielen Zeichen verkörpernden Geschlechtscharakter (31 f.).
Die Travestie schwuler Männer, sei es der sich in Frauenkleidern
hüllende Knabe, sei es die Performance einer Drag-Queen, verdanke
sich dem Wunsch, über das Verstecken des Penis einen Zugang zum
Vater zu finden (36). Hier wie an manch anderer Stelle lugt
freudianisches Denken hervor, das wie immer eine beeindruckende
Erzählung, aber keine zwingende Plausibilität enthält.
Über Freuds Urtext von 1905, der das Denken über das Sexuelle
revolutioniert hat, handeln denn auch weitere Passagen des Buchs
(40–50, 51–70, 122–124). Für Dannecker «ist die Psychoanalyse eine
Erfahrungswissenschaft« (39), weil sie mit den Erfahrungen von
Patienten und Therapeuten arbeitet. Als Drittes möchte er noch »den
Einfluss der persönlichen sexuellen Erfahrung« hinzunehmen (39).
Damit steht eine solche Konzeption im Kreis der Kultur- und
Naturwissenschaften allerdings recht fremdartig da, wird dort doch
der Erfahrungsbegriff intersubjektiv bestimmt und der Beitrag des
Forschungssubjekts nur für heuristische Zwecke akzeptiert. Immerhin
verstehen wir, warum das Thema Sexualität den akademischen Betrieb
in Verlegenheit bringt: Es fehlt manchmal an den Anschlüssen
zwischen sexologischen und sonstigen Denkbewegungen.
Dannecker diskutiert die Spielarten von Fetischisierungen, die
Offerten des Internet, die Kontakt- und Partnerschaftsbörsen, die
Verlockungen des Geschlechtswechsels – sie alle finden hier zu
einer anschaulichen Vergegenwärtigung und psychodynamischen
Erläuterung. So vergeht einem bald die Versuchung, das zunächst als
bizarr Erscheinende als Nebenerscheinung abzutun. Denn:
»Möglicherweise liegt die Wahrheit der Sexualität sogar im
Abseitigen«, zumindest lässt sie sich von hier aus besser
erschließen (40). Das Normale wird für so selbstverständlich
genommen, dass es zu selten analysiert und ihm vom Publikum die
Aufmerksamkeit verweigert wird. Es ist also keine Sucht nach
Exotik, wenn Danneckers Texte gerne gelesen werden; es ist der
Drang nach Wissen.
Liebe als Dimension der lustvollen Intimität tritt bei den hier
vornehmlich untersuchten Subkulturen weniger in Erscheinung als in
der traditionell geordneten Oberwelt, wo das Begehren immer auch
mit Bezug auf eine Ehe gedacht wird. Für die Fetischszenen bemerkt
Dannecker, zwar sei eine Annäherung an ein lebendes Liebesobjekt
möglich, dieses bleibe jedoch in seiner sexuellen Bedeutung blass.
Wo die Qualität des Sexualerlebens so im Vordergrund steht, wo
Erregung und Befriedigung besser, stärker und intensiver sein
sollen, werde die Person eines Gegenüber »nur wie durch einen
Schleier wahrgenommen« (76 f.). Die durch die pornografischen
Inhalte des Internet gestützte Sexualbefriedigung ist längst zu
einem festen Bestandteil der Lustaktivitäten in der Bevölkerung
geworden (83), auch bei Frauen, obwohl dort nur etwa ein Viertel so
häufig wie bei Männern. Den oft gehörten Begriff ›Cybersex‹ benutzt
Dannecker für die nur am Bildschirm ablaufende Begegnung mit einem
Anderen und mit sexuellem Ergebnis. Dabei handele es sich um eine
Interaktion und nicht etwa um bloße Masturbation.
Dannecker ist ein einfühlsamer Experte zu Fragen der sogenannten
Internetsexualität, insbesondere in der Form des Chatting
(Austausch von Mitteilungen in Echtzeit) und mit Webkamera. Das
ungeheuer breite und vielseitige Angebot sexuell getönter Bilder,
Situationen und Kleindramen im Netz, leicht auffindbar und vielfach
kostenlos nutzbar, hat zu einer neuartigen Verfügbarkeit solcher
Stoffe und Anregungen geführt. Der Autor schildert die Mechanismen
hier ablaufender Kommunikationen. Sie entsprechen nicht realen
Begegnungen, und die hier erlangten Orgasmen unterscheiden sich von
einer Autoerotik im üblichen Sinne (81–91). Die in der Überschrift
des Kapitels aufgeworfenen Frage »Verändert das Internet die
Sexualität?« wird allerdings nur gestreift (90 f.) und hinhaltend
beantwortet: Da die virtuell erlebte Sexualität »mit Lust
assoziierte Erinnerungsspuren hinterlässt«, eröffne sich die
Möglichkeit, über die reale Sexualität »zu reflektieren und diese
als veränderbar zu begreifen« (91). So lautete schon immer das
Argument, mit dem die klassische Pornographie gegen ihre
Verächterinnen verteidigt wurde. Die Chancen lernen der
Selbsterfahrung stehen gegen Bedrohungsszenarien einer möglichen
Entgleisung.
In den jüngeren Passagen des Buchs erhalten die Aktiven einer
heteronormativitätskritischen Politik interessante
Argumentationshinweise. Die Interessenartikulation schwuler
Senioren – dazu wurde ein Bundesverband gegründet – müsse sich mit
der »Fetischisierung der Jugend« auseinandersetzen (133).
Allerdings wendet Dannecker hier einen anderen Begriff von
›Fetisch‹ an als im Aufsatz zur Fetischsexualität (71 ff.). Was an
einem Begehrensobjekt attraktiv gefunden wird, sollte nicht gleich
dem voraussetzungsreichen Fetischkonzept unterworfen werden. – Die
Durchsetzung der ›Homo-Ehe‹ könnte »eine undurchschaubare Anpassung
an die Heteronormativität« gewesen sein (138). Die »Kopien
traditioneller Zeremonien durch homosexuelle und lesbische Paare«
rühren aus einem Versagen her, Formen zu finden, um zu
symbolisieren, dass sie »es auch ohne Ehe ernst miteinander meinen«
(140). Hier lässt Dannecker wohl ein Verständnis für die Bedeutung
sozialer Institutionen vermissen. – Die VerteidigerInnen einer
›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ sollten die gegen sie erhobenen
Vorwürfe ruhig wörtlich nehmen. Dann stimme es, die gegenwärtigen
Jugendlichen als eine ›Generation Porno‹ zu bezeichnen, denn es
seien fast alle schon einmal mit pornographischem Material in
Kontakt gekommen (143 f.). Und was als ›Frühsexualisierung‹
angeprangert wird, bilde eine notwendige Phase der soziokulturellen
Personwerdung (nach Reimut Reiche, 144 f.). Dass Jugendliche sich
scheuen, mit ihren Eltern über Sexuelles zu sprechen, findet
Dannecker verständlich, wollen sie doch »ihre sexuellen Erfahrungen
als etwas Eigenes, von den Eltern Unabhängiges begreifen, das sie
für sich behalten möchten« (147). Wem das Mitteilungsbedürfnis sich
dann stattdessen offenbart und dass dies kaum kompetente Instanzen
sind, sagt der Autor nicht. – Einem Kongress zu AIDS und Hepatitis
gibt Dannecker auf den Weg, die Zwänge staatlicher
Gesundheitspolitik daraufhin zu betrachten, dass ein »Verlust des
Lebendigen droht«; denn das »Irrationale soll stranguliert und
restlos beseitigt werden« (153).
Bei aller Ausgewogenheit bleiben die gesellschafts- und
schwulenpolitischen Grundüberzeugungen sichtbar. So muss sich Hans
Giese, der unbestreitbar Ende der 1960er Jahre eine
aufklärend-liberale Sexualforschung in Deutschland etabliert hat
(rororo-sexologie! Institut für Sexualforschung in Hamburg!)
vorhalten lassen, er habe einen Teil der homosexuellen Männer
pathologisiert (100–102). Die Psychoanalyse hingegen, mit ihren
massiven antihomosexuellen Positionen und Ausschlüssen, wird mit
Samthandschuhen angefasst (117–129).
Das Hauptprojekt Danneckers der letzten Jahre betrifft die
Kommunikationsszene Internet, welche die von früher gewohnten Orte
der Subkultur – von Bar bis Badehaus – weitgehend abgelöst bzw.
ergänzt hat. Die Daten einer Befragung von 2011 mit sehr großer
Antwortenzahl sowie informelle Gespräche erlauben eine empirisch
gesättigte Darstellung und Interpretation des (nicht mehr ganz so)
neuartigen Mediums, in dem sich die Mehrzahl der heute aktiven
Homosexuellen bewegt. Wie schon bei seiner klassischen Studie von
1974 (mit Reimut Reiche) konzentrieren sich die Aussagen auf die in
der Subkultur anzutreffenden Personen, ohne dass man wüsste, wie
die zweifellos vorhandenen anderen Homosexuellen sich verhalten.
Einerseits kann man gewiss sein, dass zwischen beiden
Teilpopulationen gravierende Unterschiede bestehen. Andererseits
sind die von Dannecker beschriebenen Homosexuellen diejenigen,
welche sich auch öffentlich artikulieren und so das Bild des
Publikums bestimmen. Schließlich zeigt sich in der
Internetpopulation eine Fokussierung auf das Sexuelle, sowohl in
der Selbstdarstellung als auch in den Inhalten der Kommunikation
und damit für die so zustande kommenden Realbegegnungen. Genau wie
1974 bekommt das Publikum einen empirisch abgesicherten Einblick in
sexuelle Verkehrsformen, die zuvor kaum bekannt waren und bei denen
die Schwulen nicht zum ersten Male als Vorreiter einer künftigen
Allgemeinform fungieren.
Fazit
Das Bemerkenswerte des Buchs, verglichen mit anderen Publikationen
deutscher Sexologen, besteht darin, dass hier die sexuelle Dynamik
spezieller Szenen untersucht und verständlich gemacht wird. Wo
andere vor allem Probleme und Heilbedarfe erblicken wollen,
schildert Dannecker Subkulturen, die zum Kosmos körperlich-lustvoll
gestalteter Intimität hinzugehören, ohne dass ein Einzelner sie
alle für sich erleben oder nachvollziehen könnte. Auf die aktuellen
Kämpfe der queeren Bewegungen blickt Dannecker stets
kritisch-begleitend. So entsteht ein farbiges Bild zu den
Randkulturen des Sexuellen, die den Normalitätskern – in den
meisten Studien unterbelichtet bleibend – zu Veränderungen
antreiben.
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