Rezension zu Inklusion - ein leeres Versprechen?

Seelenpflege – In Heilpädagogik und Sozialtherapie 2/2018

Rezension von Thomas Maschke

Schulversuche und wissenschaftliche Forschung im Bereich Integration und Inklusion können in Deutschland auf eine nahezu 50-jährige Tradition zurückblicken, die Jahrestagungen der deutschsprachigen Inklusionsforscherinnen auf eine gut 30-jährige. Man könnte annehmen, dass die hier gewonnenen Erfahrungen und Forschungsergebnisse dazu führen, auf dem inhaltlichen Feld Klarheit und eine eindeutige Forschungs- wie (auch politische) Handlungsrichtung auf Seiten der Inklusionsbefürworter (deren Gegner gibt es ja zur Genüge!) zu erreichen. Das von Georg Feuser, einem der »Urgesteine« der Integrations- bzw. Inklusionsbewegung, 2017 herausgegebene Buch mit dem provokanten Titel »Inklusion – ein leeres Versprechen?« weist auf das Gegenteil: Das Feld ist von grundlegenden Kontroversen durchzogen, welche HerausgeberInnen und AutorInnen an Titel und Inhalt der 29. InklusionsforscherInnen-Tagung 2015 identifizieren und als Antwort darauf das hierzu besprechende Buch veröffentlichen. Den Verantwortlichen besagter Tagung mit dem Titel: »Inklusion ist die Antwort – was war noch mal die Frage?« wird »Geschichtslosigkeit« (Vorwort, S. 11; vgl. Reichmann-Rohr, S.123ff.), »selbstreferenzielle Beschäftigung mit sich selbst« (Stein, S. 120), Zusammenhangslosigkeit und letztlich »Trivialisierung« (Lanwer, S. 13ff.) sowie mangelndes Verständnis der Widersprüchlichkeiten und der Komplexität politischer Einflussnahme auf die »der Kultur zuzuordnen[de] Sphäre der Bildung« (Feuser S. 184f.) vorgehalten. Feuser pointiert einleitend seine Kritik mit der Aussage: »Hier wird geforscht, nicht gedacht« (Vorwort, S. 11). Die Erarbeitung einer »antwortenden« Publikation als Bestandsaufnahme grundlegender Ergebnisse von Inklusionsforschung zur dezidiert gewünschten kritischen (!) Auseinandersetzung der Lesenden mit den jeweiligen Inhalten ist einerseits Provokation und drückt gleichzeitig den Anspruch aus, umfassende Theoriebildung (als Basis für zu gestaltende Praxis) zu betreiben. Insofern ist dieses Buch als Beitrag zu einem vielleicht weniger interdisziplinären, als »innerdisziplinären« Diskurs (vgl. hierzu Rödler, S. 91) zu verstehen. Die vorliegenden Beiträge versuchen diesen mit differenzierenden Schwerpunkten und von unterschiedlichen Standpunkten aus. Diese können im Rahmen einer Buchbesprechung nur skizziert werden.
So weist der Beitrag Lanwers einen grundlegenden philosophisch-erkenntnistheoretischen Zugang auf, welcher dezidiert die »dialektische Einheit von Erkennbarkeit und Veränderbarkeit« (S.19 ff.) bearbeitet und damit als kritisch im o.g. Sinne zu verstehen ist. Jantzen schreibt politisch-zeitkritisch, u.a. mit dem Aufdecken von »halbierter Inklusion« (S. 62). Mit dem Aufzeigen von Barrieren (S. 35 ff.) und dem Appell, Demokratie zu erstreiten (vgl. S. 47) liegt der Aufsatz Grafs – inhaltlich wie gedruckt – dazwischen. Rödler zeigt, auch besonders in der Auseinandersetzung mit Singers »Praktischer Ethik«, die anthropologische Begründung und Notwendigkeit einer Allgemeinen Pädagogik auf, indem er Teilhabe als »Gattungsvoraussetzung« (S. 88) definiert. Stein wiederum beschreibt durch ihre Auseinandersetzung mit Arendt, Gramsci und Negt das Politische »als Handeln im ›Zwischen‹« (Stein, S. 120). Reichmann-Rohr befragt in seinem umfangreichen Beitrag die »Pädagogikgeschichte« (S. 176) mit dem Fokus auf Ausgrenzung bzw. Macht-Strukturen versus Demokratisierung, indem er auch dezidiert »Aussenseiterlnnen in der Geschichte der Pädagogik« (S. 153) darstellt und würdigt. Besonders wirkt hier die Auseinandersetzung mit dem Werk H. M. Deinhardts, dessen gemeinsam mit J. D. Georgens erarbeitetes frühes Standardwerk »Die Heilpädagogik« (1861 und 1863) bekannt ist. Seine Würdigung als Schiller-Forscher durch Rudolf Steiner (S. 148) hingegen ist wohl weniger im Bewusstsein heutiger (Waldorf- und Heil-) Pädagogen und könnte ein neues Licht auf das umfangreiche Werk dieses Lehrers und Forschers werfen. Grundsätzlich kann, so Reichmann-Rohr, eine »Hinzugewinnung an Humanem« (S. 163) bei der historischen Spurensuche und Gewichtung ein Kriterium »einer für das ›Hier und Jetzt‹ bedeutsam gemachten Vergangenheit« (S. 175) sein.
Den auch mit einem Umfang von 100 Seiten gewichtigsten Beitrag steuert abschließend der Herausgeber selber bei. Feuser analysiert radikal und gedanklich scharf, dabei phasenweise auch persönlich erfahrungsbezogen und provokant, die aktuelle Situation einer »Integration der Inklusion in die Segregation« (S. 190), und möchte die LeserInnen anregen »selbst nach den Fragestellungen zu suchen, auf die Inklusion nicht nur eine Antwort, sondern möglicherweise eine conditio sine qua non zur Schaffung einer Basis sein könnte, von der ausgehend das Überleben der Gattung Mensch […] in den Bereich des Möglichen rückt« (S. 186). In sechs »Momenten« (ebenda) erarbeitet Feuser Aspekte des Feldes zur »Entstehung der Frage«: zunächst »aus der Bedrohung des Lebens schlechthin« (S. 190 ff.), dann »aus der Begegnung« (S. 199 ff.), weiter »aus der Negation der Vernunft« (S. 210 ff.), dann »aus der Geschichte des Fachs« (S. 221 ff.), weiter »aus der Ungleichheit« (S. 239 ff.) und schließlich »aus dem Bruch mit ausgrenzender Herrschaft durch Bildung« (S. 251 ff.). Letztlich geht es dabei um die Umsetzung von »Gleichheit – Solidarität – Gerechtigkeit« (ebenda): Die Zielrichtung von humanem Denken und Handeln wird postuliert.
Die in diesem Band versammelten AutorInnen beziehen Position: Sie thematisieren radikal ausgrenzende und entwürdigende sozio-ökonomische Bedingungen, um von dieser Basis – die Dialektik politischen Denkens und Handelns (s.o.) der LeserInnen potentiell initiierend – Demokratisierung im Sinne solidarischen Miteinanders zu fordern. »Inklusion« ist auf der Grundlage eines solchen Verständnisses ein Indikator notwendiger gesellschaftlicher Transformation. Dieser Ansatz mag manchem/r LeserIn einseitig erscheinen: Die Verwirklichung des »Gesellschaftsprojektes« jedoch braucht radikal Denkende und Mahnende. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch zur aktiven und kritischen Auseinandersetzung einer breiten Leserschaft zu empfehlen! Ein eigener Standpunkt kann und/oder soll von den LeserInnen errungen werden: auch von denjenigen mit einem anthroposophisch-heilpädagogischen Hintergrund.
... wenn dort auch in einem vermeintlich anderen inhaltlichen Kontext verwendet.


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