Rezension zu Das Unbewusste, Band 1-3
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Rezension von Gerald Mackenthun
Die Psychoanalyse prägt seit 100 Jahren die Beschäftigung mit
Psychologie, Psychotherapie, Kunst und Kultur. »Das Unbewusste« ist
ihr unverlierbarer Bestandteil, die Annahme unbewusster
Seelenanteile gehört heute unbestritten zur »conditio humana«.
Die »Bibliothek der Psychoanalyse« des rührigen Gießener Verlegers
Hans-Jürgen Wirth hat sich zum Ziel gesetzt, die Rolle der
Psychoanalyse als wissenschaftstheoretische Grundlage für alle
Human- und Kulturwissenschaften weiter zu festigen. Dabei sollen
die ausdifferenzierten Strömungen der Psychoanalyse zu Wort kommen
und der Dialog mit Nachbardisziplinen intensiviert werden.
Gleichzeitig geht es darum, sich der gemeinsamen Wurzeln in Form
von Grundlagentexten zu vergegenwärtigen. Diesem ehrgeizigen
Unterfangen ist ein weiterer zentraler Baustein hinzugefügt worden:
Im Frühjahr 2005 erschien der 718-Seiten-Sammelband »Macht und
Dynamik des Unbewussten«, der erste Band des auf drei Bände
angelegten Versuchs, eine Gesamtschau der Auseinandersetzung über
»das Unbewusste« in Philosophie, Medizin und Psychologie
nachzuzeichnen. Herausgeber sind die Psychoanalytiker Michael
Buchholz und Günter Gödde.
Das Unbewusste ist keine Erfindung Freuds, sondern wurde von ihm im
19. Jahrhundert aus anderen Feldern in seine Psychoanalyse
eingebaut. Schon damals tobte der Streit über Bedeutung und Inhalt
des Unbewussten, ein Konzept, das sich gegen eine allzu
optimistische Sicht auf eine möglicherweise überbewertete
Rationalität des Menschen wandte. Als Abstraktum konnte sich der
Begriff freilich nicht gegen willkürlich erscheinende Deutungen zur
Wehr setzen; der historische Blick auf die Wandlungen des Begriffs
– vorgenommen von Günter Gödde 1999 in „Traditionslinien des
»Unbewussten« – lässt den Leser verwirrt zurück; jeder durfte sich
zum Thema etwas ausdenken und fast schon beliebig verwenden.
Immerhin, durch Freud wurde es zum Zentralbegriff der Psychoanalyse
und der Tiefenpsychologie. Die Aporie, etwas (absolut) Unbewusstes
bewusst machen zu können, ist nur ein winziger Ausschnitt aus der
anhaltenden Debatte um diesen wenig greifbaren Gegenstand, über den
sich so trefflich spekulieren lässt. 718 Seiten für einen ersten
Band scheint da nicht zu wenig zu sein, zwei weitere Bände sollen
folgen: »Das Unbewusste in aktuellen Diskursen – Anschlüsse«
(Herbst 2005) und »Das Unbewusste in der Praxis – Erfahrungen«
(Frühjahr 2006).
Die Beiträge des 1. Bandes zeigen, welche vor-freudschen Wurzeln
das Unbewusste in der (auch außereuropäischen) Philosophie, Medizin
und Psychologie hat, beschreiben die Entwicklungen des Begriffs
durch und nach Freud und zeigen, wie sehr das Unbewusste in den
Nachbarwissenschaften und längst in der empirischen
Psychotherapieforschung als selbstverständlich angenommen wird.
Seine Ursprünge liegen in Romantik (»Lebenskraft«) und Aufklärung,
stark tangiert werden Konzepte von »Geist« und »Willen«, es
erfolgte die Dienstbarmachung für Medizin, Psychologie und
Psychotherapie (zunächst in Magnetismus und Hypnotismus) und es
erfährt unvermindert Wertschätzung in der gegenwärtigen
Tiefenpsychologie.
Die neue Psychologie des Unbewussten umfasst Kognition, Sprache und
Sprechen, Neurowissenschaft und Baby-Watching (ein Teil davon wird
erst in Band II und III behandelt). »Riesig ist das Territorium,
verzweigt die Flüsse und Ströme, fruchtbar die Auen und tief die
Sümpfe«, seufzen die Herausgeber im Vorwort. Das Projekt in seiner
ausgreifenden Art ist zu bewundern, und der Preis zumindest des
ersten Bandes ist so niedrig kalkuliert, dass Interesse über den
engen Kreis der Psychoanalytiker hinaus geweckt werden kann. Der
Inhalt jedenfalls spricht für eine weite Verbreitung, werden doch
Schopenhauer und Nietzsche, Fechner und Janet, Freud und A.Adler,
Jung und Ferenczi, Rank und Lacan, Kohut und M.Klein, Bion und
Bollas zitiert und ausgearbeitet. Als Individualpsychologe freue
ich mich besonders über den Betrag »Die Einheit von bewusst und
unbewusst in der Theorie Alfred Adlers« von Almuth
Bruder-Bezzel.