Rezension zu Gesellschaftliche Spaltungen
socialnet.de vom 23. Mai 2018
Rezension von Hans-Peter Heekerens
Schriftenreihe »Subjektivität und Postmoderne«
Das vorliegende Buch ist in der Schriftenreihe »Subjektivität und
Postmoderne« in der Reihe »Forschung Psychosozial« des
Psychosozial-Verlags erschienen; die Entstehung verdankt sich der
guten Beziehung zwischen dem Herausgeber der Schriftenreihe, K.-J.
Bruder, und Hans-Jürgen Wirth, dem Gründer des
Psychosozial-Verlags. Unter den zahlreichen und für die hiesige
Soziale Kultur in aller Regel interessanten Einzeltiteln wurde m.
W. bislang nur zwei bei socialnet rezensiert.
– Das eine ist »Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur
Aktualität Peter Brückners« (2013, hrsg. von K.-J. Bruder, C.
Bialluch und B. Lemke; socialnet-Rezension:
www.socialnet.de/rezensionen/14836.php). Dieses Buch vereint
Vorträge des Kongresses der »Neuen Gesellschaft für Psychologie«
(NGfP) im Jahre 2012, dem 90. Geburts- und 30. Jahrestag von Peter
Brückner, in dessen Tradition man Klaus-Jürgen Bruder sehen
darf.
– Die zweite Rezension betrifft »Migration und Rassismus: Politik
der Menschenfeindlichkeit« (2017, hrsg. von K.-J. Bruder und C.
Bialluch), wo man Vorträge des NGfP-Kongresses von 2016 findet
(www.socialnet.de/rezensionen/22200.php).
Andere Bände der Reihe harren noch einer socialnet-Rezension. Ich
denke dabei v.a. an Knuth Müllers »Im Auftrag der Firma.
Geschichte und Folgen einer unerwarteten Liaison zwischen
Psychoanalyse und militärisch-nachrichtendienstlichen Netzwerken
der USA seit 1940« (2017; mit einem Vorwort von K.-J. Bruder), der
von einer Liaison berichtet, von der man Näheres wissen wollte seit
der Lektüre von Andreas Peglaus »Unpolitische Wissenschaft?«
(Gießen: Psychosozial-Verlag, 2. Aufl. 2015; socialnet-Rezension:
www.socialnet.de/rezensionen/18421.php). Ich meine, die
Schriftenreihe »Subjektivität und Moderne« verdient – auch von
Seiten (potentieller) socialnet-Rezensent(inn)en – noch mehr
Aufmerksamkeit als bisher.
Die NGfP
Viele Bände von »Subjektivität und Moderne« sind Dokumentationen
von Kongressen der NGfP, der »Gesellschaft für Theorie und Praxis
der Sozialwissenschaften«. Gegründet wurde sie 1991 in Berlin von
Diplom-Psycholog(inn)en, die ein Gegengewicht bilden wollten zur
akademischen Psychologie, die ihre Fragestellungen in den letzten
Jahrzehnten zunehmend mehr konzentriert hatte auf solche
naturwissenschaftlicher Natur, die mit quantitativer Forschung zu
verfolgen sind. Stattdessen sollten (wieder) human-, geistes- und
kulturwissenschaftliche Aspekte der Psychologie zur Geltung
gebracht werden – und das mit Hilfe qualitativer Forschung. Seit
1992 erscheint zweimal im Jahr als offizielles Organ der NGfP das
»Journal für Psychologie« (Open Access:
www.journal-fuer-psychologie.de). Gründungsmitglied und seit Jahren
1. Vorsitzender der NGfP ist Klaus-Jürgen Bruder.
Herausgeber
Ich stelle zunächst den zweiten und dritten Herausgeber vor, da es
zu dem ersten aus aktuellem Anlass Ausführlicheres zu sagen gibt.
Der zweite Herausgeber des Buches ist der promovierte
Diplom-Psychologe Christoph Bialluch aus Berlin, der Lehraufträgen
an verschiedenen Institutionen, von der Berufsschule bis zur
Universität, nachgeht, und dessen wissenschaftliches Interesse der
Theorie und Geschichte der Psychologie, vor allem der Psychoanalyse
und ihrer gesellschaftlichen Bezüge gilt; er ist zweiter
Vorsitzender der NGfP. Dritter Herausgeber ist Jürgen Günther,
ebenfalls aus Berlin; er ist Diplomlehrer für Politische Ökonomie
und Diplomökonom und arbeitet als Leiter in Kooperationsprojekten
mit der Berliner Senatsbildungsverwaltung und Berliner
Förderschulen.
Und da ist dann der erste Herausgeber, Klaus-Jürgen Bruder, dessen
Name ja nun schon wiederholt in unterschiedlichen Zusammenhängen
gefallen ist. Der Diplom-Psychologe Klaus-Jürgen Bruder arbeitet
als Psychoanalytiker und lehrt als Privatdozent im
Wissenschaftsbereich Psychologie der FU Berlin. Habilitiert wurde
er mit »Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der
behavioristischen Sozialtechnologie« (Frankfurt a.M.:
Suhrkamp,1982). Seine Promotion verlief mit ungewöhnlichen
Schwierigkeiten: Als er 1972 seinen »Entwurf der Kritik der
bürgerlichen Psychologie« als Dissertation an der Universität
Hannover bei Peter Brückner vorlegte, konnte dieser das
Promotionsverfahren nicht (weiter) betreuen, da er wegen des
Vorwurfs der RAF-Unterstützung ab 1972 für zwei Semester vom Dienst
suspendiert worden war; Klaus Holzkamp übernahm das Verfahren.
Ungewöhnlichen Schwierigkeiten sieht sich Klaus-Jürgen Bruder auch
in jüngster Zeit ausgesetzt. Die Vorwürfe sind anderer Art als bei
Peter Brückner und nicht »von Staats wegen«. Sie wurden im Dezember
2017 in einem »Offenen Brief« vorgebracht von einer 30 Mitglieder
starken »Initiative kritische Psychologie«: Unter dem Vorsitz von
Klaus-Jürgen Bruder sei die NGfP »weitgehend in den
verschwörungsideologischen Sumpf der Querfront eingegangen«; ferner
ist die Rede von »friedenspolitisch verbrämtem Antiamerikanismus«
und »strukturellem Antisemitismus«. Wer sich näher informieren
möchte, sei auf online verfügbare Dokumente, Interviews und
einschlägige Artikel (Fikentscher, 2018; Korinth, 2018;
NGfP-Vorstand, 2017; Schäfer, 2018) verwiesen.
Als Außenstehender kann man die Angelegenheit zunächst einmal
psycho- und gruppendynamisch deuten; über (versuchten) »Vatermord«
sind wir seit C.G. Jung und Sigmund Freud gut informiert. Indessen:
So zeitlos psycho- und gruppendynamische Prozesse als solche auch
immer sein mögen, ihre konkret-historische Ausformung wird
maßgeblich vom jeweiligen relevanten Kontext gestaltet. Und der
scheint bei den 30 von der »Initiative kritische Psychologie«
offensichtlich folgender zu sein: Anfang Dezember 2017
verabschiedete der Parteivorstand der LINKEN einen Beschluss,
»Klare Kante gegen Querfront«, in dem man sich »unmissverständlich
von Aktivitäten von Rechtspopulisten, Nationalisten,
Verschwörungstheoretikern und Antisemiten, die rechtspopulistische
Welterklärungsmuster und ›Querfront-Strategien‹ salonfähig
machen wollen« (zitiert nach Meisner, 2017) distanziert. Mit
solcher »LINKEN-Parteiführungs«-Autorität ausgestattet, haben die
besagten 30 zum Angriff auf die linke Autorität Klaus-Jürgen Bruder
geblasen. Und das mit besten (parteipolitischen) Gewissen: »Lieber
mit der Partei irren, als gegen die Partei recht haben«.
Solcher Art Parteiraison verfallen allerdings nur Menschen mit
einem Hang zum Devotlerischen. Andere nehmen sich die Freiheit zu
eigenständigem Denken. Etwa das LINKE-MdB-Mitglied Andrej Hunko
(folgende Zitate zitiert nach Meisner, 2017). Der nennt den
Parteivorstandsbeschluss »eine Posse«, sieht eine »wabernde
Unschärfe und assoziative Vermengung der Begriffe ›Querfront‹,
›Nationalismus‹, ›Verschwörungstheorie‹ und ›Antisemitismus‹« und
merkt an: »Diese Begriffe werden inzwischen mit einer
erschreckenden Leichtigkeit und oftmals ohne jede ›Beweisführung‹
verwendet, um politische Gegner zu diffamieren.« Das ganze hier
Kritisierte steht, das sei angemerkt, in einer unseligen Tradition,
über die uns bereits 2004 die (Warn-)Schrift »Sie warn die
Antideutschesten der deutschen Linken« (hrsg. von G. Hanloser,
Münster: Unrast Verlag) informiert hat.
Thema
Genauer, als mit Buchtitel und -untertitel angedeutet, kann man das
Thema des Buches schwerlich benennen. Das liegt daran, dass hier
die Beiträge eines Kongresses, nämlich des NGfP-Kongresses
»Gesellschaftliche Spaltungen – Erfahrung von Ungleichheit und
Ungerechtigkeit« vom März 2017 in Berlin, versammelt sind. Wer
jemals auch nur einen einzigen Kongress miterlebt hat, weiß: Mit
thematischer Grenzsetzung gehen Referent(inn)en äußerst flexibel
um, und was die inhaltliche Ausgestaltung anbelangt, so lassen sie
uns Zeug(inn)en ihrer Fantasie und Kreativität werden.
Wer es dennoch »handfester« haben möchte, möge sein Heil suchen im
Ankündigungstext des Verlages: »Der politische Rechtsruck in
Deutschland und Europa verweist auf gesellschaftliche
Fehlentwicklungen, die sich vor allem in wachsenden
gesellschaftlichen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und der
Aushöhlung der Demokratie manifestieren. Aus vielfältigen,
kritischen Perspektiven beleuchten die BeiträgerInnen des
vorliegenden Bandes aktuelle Phänomene der gesellschaftlichen
Spaltung jenseits des medialen und akademischen Mainstreams. Ihre
detaillierten Analysen zeigen auf, wie die politische
Rechtsbewegung die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und
Reich, in politische Klasse und Bevölkerung sowie zwischen
Lohnarbeit und Kapital verdeckt, indem die Erfahrungen von
gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit den ›Fremden‹
zur Last gelegt werden, die den Einheimischen vorgeblich das
wegnehmen, was ihnen bereits vorher fehlte.«
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält zwischen einem kurzen Vorwort der Herausgeber und
ausführlichen Angaben zu den Autor(inn)en 27 Beiträge mit je
eigenem Literaturverzeichnis, verfasst meist von Akademiker(innen),
darunter zu einem Viertel Psycholog(inn)en. Unter den 28
Autor(inn)en – in einem Fall gibt es eine doppelte Autorenschaft –
finden sich 21 Männer und 8 Frauen; von den 8 Frauen berichtet die
Hälfte aus der Praxis, was die Männer fast gar nicht tun.
Vielleicht könnte ja jemand künftig mal einen Beitrag des
(Arbeits-)Titels »Anmerkungen zur Gender-Frage auf NGfP-Kongressen
unter besonderer Berücksichtigung des Theorie-Praxis-Verhältnisses«
verfassen.
Manche der 27 Beiträge wurden in gleicher oder anderer Gestalt
schon vor dem Kongress publiziert. Von den Herausgebern sind sie
acht Gruppen (Buchteilen) zugeordnet und von ihnen mit Titeln
versehen. Zuordnung und Betitelung kann man einigen Sinn
zubilligen, wenngleich man sich andere Zuordnungen und
Überschriften vorstellen kann. In einem Falle zumindest erscheint
die Zuordnung unsinnig: Was »Die anderen kriegen alles, wir kriegen
nichts.« Ergebnisse eines Workshops zur Konflikttransformation in
einer Notunterkunft für Geflüchtete (K. Groninger & B. Friele)
unter RECHTSEXTREMISMUS (Teil 4) zu suchen hat, bleibt
schleierhaft; der bessere Platz dieses Praxisberichtes wäre unter
PRAXIS (Teil 8).
Jedenfalls aber: Die jeweils in einem Buchteil versammelten
Einzelbeiträge sind insgesamt so unterschiedlich in Fragestellung,
Inhalt und Methodik, dass man eine Inhaltsangabe unmöglich nach den
acht Buchteilen vornehmen kann. Es bleibt nur der Weg über die
Einzelbeiträge, die über Titel, Autorschaft und Positionierung im
Buch hinaus mit einigen Strichen charakterisiert werden.
I. VERORTUNGEN
– Humoristen oder Trottel. Über Denkblockaden und Aufklärung (U.
Schneider). Ausgangs- und Bezugspunkt dieses vom
Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes verfassten Essays ist: »Wenn in unserer
Demokratie tatsächlich alle Macht vom Volke ausgeht, was wir
unterstellen wollen, und wenn das Ergebnis dessen ist, dass zehn
Prozent der der Bevölkerung rund drei Viertel des gesamten
Vermögens und Jahr für Jahr rund 40 Prozent des gesamten Einkommens
unter sich aufteilen, dann muss es sich entweder um ein Volk
großartiger Humoristen oder großartiger Trottel handeln.«
(S. 16)
– Gesellschaftliche Spaltung. Erfahrung von Ungleichheit und
Ungerechtigkeit (K.-J. Bruder). Zentrale Aussage: »Geht man davon
aus, dass es an der Vergesellschaftung der entscheidenden
Produktionsmittel vorbei höchst wahrscheinlich keine Rettung der
Zivilisation gibt (›Sozialismus oder Barbarei‹ [Luxemburg…]), so
können die Eliten keine Antwort haben, da sie sich aus Gründen der
Vernunft selbst abschaffen müssten.« (S. 34)
– Gesellschaftliche Spaltungen. Erfahrung von Ungleichheit und
Ungerechtigkeit bis ins Extrem (C. Bialluch). Ausführung eines
praxiserfahrenen und psychodynamisch ausgebildeten Psychologen zu
salafistisch geprägter Radikalisierung, deren
Entstehungsbedingungen und den Möglichkeiten sowie Notwendigkeiten
einer nicht zu-, sondern aufdeckenden
psychosozialen/therapeutischen Arbeit mit Menschen, die
salafistisch radikalisiert wurden.
– Bedenkenswertes über Gerechtigkeiten (H. Klenner): Wie auch immer
man diesen Juristen, der in der DDR sowohl in Amt und Würden war
als auch »in Ungnade« fiel, beurteilen mag: Was er hier prägnant zu
Gerechtigkeit, Recht und Grundgesetz zu sagen weiß, ist
überzeugend.
II. MEDIEN
– Das Tittytainment-Programm. Deutschland sucht den Super-Bettler
(U. Gellermann). Wen Zweifel beschleichen daran, dass die
»herrschenden« Medien die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts
als die Wahrheit berichten, wirft immer öfter einen Blick auf die
RATIONALGALERIE (www.rationalgalerie.de). Hinter der steckt der
Autor des vorliegenden Beitrags, in dem das deutsche TV-Angebot
ironisch bis sarkastisch kommentiert wird.
– Über gesellschaftliche Ohnmacht und systemische Übermacht (W.
Wetzel): geistreiche Variationen zum Adornoschen Diktum »Die fast
unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen,
noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« (zitiert
nach S. 72)
– Wie stellt Angela Merkel gesellschaftliche und soziale
Ungleichheiten in den Medien dar? (M. Galliker): eine
beeindruckende medienpsychologische Untersuchung des von der
Bundeskanzlerin im fünfjährigen Beobachtungszeit von 4/2012 bis
3/2017 in Reden und Interviews verbal Vorgetragenen.
– Demografische Entwicklung. Realität und mediale Aufbereitung (G.
Bosbach). Der Autor, ausgewiesener Statistikkenner, zu dessen
Forschungsschwerpunkten »Statistik-Missbrauch« gehört, führt uns
hier sein ganzes Können vor – und das bei einem solch trockenen
Thema auf recht unterhaltsame Weise.
III. Soziale Ausgrenzung
– Statusakrobatik. Biografische Verarbeitungsweisen von
Prekarisierungsprozessen (N. Grimm): eine empirische Studie, die
eindrücklich demonstriert, was qualitative Forschung leisten kann;
zu Grunde liegen Panel-Daten aus den Jahren 2007 – 2012 von
bundesweit 453 biographisch-narrativen Interviews.
– Der Kampf um die Deutungshoheit über das Konzept der »relativen
Armut« (L. Hausstein): ein Beitrag des in Ökonomie qualifizierten
Autors von »WAS DER MENSCH BRAUCHT-2015«
(www.nachdenkseiten.de)
– Der Beitrag der Schule zur Vertiefung der gesellschaftlichen
Spaltung (M. v. Garrel) ist weitaus bedeutsamer, als das in den
üblichen Analysen zur Bildungs(un)gerechtigkeit (vgl. etwa
Heekerens, 2017) sichtbar wird. Diese Unsichtbarkeit rührt daher,
dass auch Faktoren von Bedeutung sind, die in (inter-)nationalen
Schulleistungsstudien einfach nicht erfasst werden (können).
IV. Rechtsextremismus
– Attraktivität des Rechtspopulismus (A. Bruder-Bezzel):
Politische, ökonomische und (tiefen-)psychologische Ansätze zur
Erklärung der Attraktivität des Rechtspopulismus werden
vorgestellt, diskutiert und gewichtet.
– Klassistische Kollektivsymbolik, Proletarische
Protestmännlichkeit, AfD (A. Kemper). Die zentrale These der hier
zu findenden Analyse: »Proletarische Männer bilden zunehmend eine
Männlichkeit aus, die komplizenhaft im Sinne einer faschistoiden
oder zumindest autoritären hegemonialen Männlichkeit ist. Sie
erhoffen sich hiervon eine größere patriarchale Dividende.«
(S. 167)
– »Die anderen kriegen alles, wir kriegen nichts.« Ergebnisse eines
Workshops zur Konflikttransformation in einer Notunterkunft für
Geflüchtete (K. Groninger & B. Friele). Die wesentlichen
Erkenntnisse des von den hier referierenden Klinischen
Psycholog(inn)en durchgeführten Workshops münden in zwei
Vorschläge: »Erstens: eine Burn out-Prävention durch eine
professionelle Begleitung der MitarbeiterInnen im Rahmen von
Supervision, in der emotionale Belastungen aufgefangen und
Frustrationen verstanden werden können, damit es nicht nur um
›Durchhalten‹ geht, sondern um emotional verfügbare
Handlungsoptionen in der jeweiligen Konfliktsituation. Zweitens:
eine aufrichtige und anerkennende Kommunikation zwischen
MitarbeiterInnen und BewohnerInnen. Die BewohnerInnen haben
gezeigt, dass sie sehr geduldig sein können und schlechte
Bedingungen ertragen können, wenn Ihnen als Mitmenschen begegnet
wird, die zuhören und verstehen können.« (S. 176)
V. Politik und Theorie
– Politik und Theorie. Die Neueste Linke als erschöpfte Kraft auf
dem Feld der Ungleichheiten (G. Hanloser). Unter Heranziehung von
und in Auseinandersetzung mit Schriften Didier Eribons und
Jean-Claude Michéas/' unternimmt es der Autor, »die Distanz der
Neuesten Linken zu den Proletarisierten zu analysieren«
(S. 181).
– Gerechtigkeit? Was ist das? (F. Voßkühler). Hier findet sich eine
linke Kritik an der LINKEN-Politikerin, Sahra Wagenknecht. Deren
Vorstellungen (dargestellt in Wagenknecht, 2011, 2016), was an die
Stelle des derzeit herrschenden Kapitalismus zu treten hätte, damit
es zu mehr (sozialer) Gerechtigkeit käme, werden als
nicht-marxistisch beurteilt. Des Autors Grundidee ist, »dass sich
auf der Grundlage einer demokratischen und sozialistischen
Planwirtschaft die Gerechtigkeit tatsächlich verwirklichen kann«
(S. 204); darüber lässt sich trefflich streiten.
– Arbeitsverhältnisse: Unternehmer als ungestrafte Rechtsbrecher
(W. Rügemer). Der Autor entfaltet und belegt hier seine zentrale
These: »Unternehmen und Regierungen beschwören Deutschland als
Rechtsstaat. Doch bei den Arbeitsverhältnissen können Arbeitgeber
und ihre Beauftragten … gegenüber abhängig Beschäftigten als
Rechtsbrecher agieren, ohne in den allermeisten Fällen sanktioniert
zu werden. In keinem Bereich ist die Rechtsverfolgungs-Praxis auf
so niedrigem Niveau.« (S. 207)
VI. Subjektspaltung
– Neoliberalismus als Konterutopie (R. Stumberger). Der Autor
unternimmt »den Versuch, die Vorherrschaft des Neoliberalismus mit
einem ihm eigentlich entgegengesetzten Begriff, nämlich den der
Utopie, zu fassen… Der Begriff des Utopischen soll Licht in jene
seltsam dunklen Zusammenhänge bringen, die dafür verantwortlich
sind, dass der Neoliberalismus trotz seiner offenkundigen
Menschenfeindlichkeit noch immer nicht verschwunden ist bzw. von
der Bühne gefegt wurde.« (S. 223)
– Ungleichheit als Produkt neoliberaler
Selbstverwirklichungsideologie (C. Dewanger). Fazit der
vorgebrachten Überlegungen ist: »Soziale Bewegungen, die wirklich
dem Neoliberalismus und damit dem Ungleichheiten erzeugenden System
etwas entgegensetzen wollen, sollten daher darauf achten, dass
Verbundenheit, Empathie, Rezeptivität und die Beachtung von
Ichlosigkeit im Mittelpunkt stehen. Und das nicht in Reden oder
Schriften, sondern in der täglichen, eigenen konkreten Praxis…«
(S. 240)
– Ökonomische Ungleichheit und politische Subjektivität.
Anmerkungen zu Hardts und Negris Common Wealth (T. K. Werkhofer).
Die hier verfolgte These lautet, »dass wir als Linke, wenn wir uns
einseitig auf die Kritik ökonomischer Ungleichheit konzentrieren
und beschränken, riskieren, dass unser Blick an den spezifisch
politischen Aspekten von Ungleichheit vorbeigeht« (S. 244).
– Gesellschaftliche Spaltungsprozesse im Subjekt. Anmerkungen zu
den psychologischen Mechanismen ihrer Entstehung und Aufhebung (A.
Perzy). Gleich nach dem ersten nun also ein zweiter Beitrag, dessen
Untertitel mit »Anmerkungen« beginnt. »Anmerkungen« – das klingt
nach Bescheidenheit, aber es gehört zum bildungsbürgerlichen
Wissen, dass »Anmerkungen« jene Orte sind, an denen sich wahre
Belesenheit zeigt. So auch hier: von Karl Marx über Anna und
Sigmund Freud zu Klaus Ottomeyer und Pierre Bourdieu alle, deren
Namen Klang hat und die zur behandelten Thematik etwas Näher- oder
Fernerliegendes geschrieben haben.
VII. Globale Ungleichheit
– Spaltung versus Diversität. Ideen und Praxen zur Einhegung von
Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten am Beispiel des Zapatismus (R.
Zimmering). Die Autorin bietet hier einen Einblick in eine
Thematik, für die sie hierzulande spätestens seit 2010 gilt, seit
dem Veröffentlichungsjahr ihrer Bücher »Zapatismus. Ein neues
Paradigma emanzipatorischer Bewegungen« (Münster: Westfälischer
Dampfboot Verlag) und »Die Zapatistas in Mexiko. Der
antisystemische und antietatistische Charakter einer populären
Bewegung« (Potsdam: Universitätsverlag; online verfügbar unter
(https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/4019/file/wtp13.pdf).
– »Warum hassen sie uns?« (G.W. Bush) (G. Rammer). Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier hielt anlässlich der Regierungsbildung eine
Rede, die man im vorliegenden Zusammenhang in Erinnerung rufen
muss: »Die Welt wird zunehmend zu einem unbewohnbaren Ort und wir,
die westliche Wertegemeinschaft, müssen erkennen, dass wir
wesentlich dazu beigetragen haben. Die Ungleichheit hat global
empörende Ausmaße angenommen. Die Länder Afrikas leiden unter
Ausbeutung durch Strukturanpassungsprogramme und unfairen
Freihandel; Konzerne missachten die Menschenrechte und entziehen
den Staaten Steuern. Zahlreiche Kriege um Ressourcen und
strategische Vorteile haben Elend und Millionen Menschen den Tod
gebracht. Neokolonialismus und Kriege auch mit deutschen Waffen
bedrohen immer mehr Menschen. 65 Millionen sind auf der Flucht,
aber wir bekämpfen die Flüchtlinge, nicht die Ursachen der Flucht.
Unsere imperiale Lebensweise verursacht unermessliche Klimaschäden,
Gewalt, Zerstörung und Leid. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wir müssen handeln, denn die Folgen sind überall spürbar als
Sozialdarwinismus, Rassismus und Staatszerfall. Unser höchster Wert
muss der Mensch sein, nicht der Profit.«
(http://hinter-den-schlagzeilen.de/ungehaltene-reden) Man ahnt
spätestens ab dem dritten Satz und mit zunehmender Gewissheit: Da
wird zwar die Wahrheit erzählt, aber die Story ist ein Fake.
Kreativer Urheber desselben: Georg Rammer, der mit vorliegendem
Beitrag nur eine andere Erzählweise für dieselben Wahrheiten
gewählt hat.
– Der Neoliberalismus und die drei Großen Erzählungen unserer Zeit:
Globalisierung, demografischer Wandel und Digitalisierung (C.
Butterwegge). Der Autor des vorliegenden Beitrags ist wohl besser
und einem breiteren Kreis als jedes andere Mitglied der
Autorengruppe des vorliegenden Buches bekannt – nicht zuletzt wegen
seines Buches »Armut« (Köln: PappyRossa, 2016; socialnet-Rezension:
www.socialnet.de/rezensionen/21900.php). Im vorliegenden Beitrag
verfolgt er zunächst die Frage »Globalisierung: Herrschaft des
Marktes – Abschied vom Sozialstaat«, entfaltet dann die These »Der
demographische Wandel: Wie der Neoliberalismus die Biologie zur
Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit missbraucht«, um
schließlich der Frage »Das bedingungslose Grundeinkommen – eine
(sach)gerechte Antwort auf den Digitalisierungsprozess?«
nachzugehen.
VIII. Praxis (Beiträge nur von Frauen)
– MigrantInnen – gespaltene Subjekte (C. López Uribe). Die Autorin,
die ehrenamtlich spanischsprachige Migrant(inn)en durch
individuelle Beratung in Krisen- und Notsituationen unterstützt,
erzählt uns hier die auf Erzählungen der betreffenden Frau
beruhende Geschichte von Diana, die sie danach einer Analyse
unterzieht.
– Auswirkungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf den
Wertebildungsprozess in Deutschland lebender Jugendlicher mit
Migrationshintergrund (R. Girod). Die Autorin arbeitet(e) als
Lehrerin an den BAWI Fach- und Berufsfachschulen, Berlin in der
Ausbildung von Sozialassistent(inn)en. In manchen Klassen sind bald
die Hälfte der Schüler(innen) solche mit Migrationshintergrund –
überwiegend aus türkischen Familien, die bereits in der zweiten
oder gar dritten Generation in Deutschland leben. Auf Gesprächen
mit ihren Schülerinnen und Schulen basiert vorliegender
Beitrag.
– Herrschaftsverhältnisse in sozialen Einrichtungen. Ein Bericht
über die Lage in einem Kinderheim (I. M. Iclodean). Die Autorin
berichtet hier von Erfahrungen, die sie in der Inobhutnahmestelle
eines Kindesheims in der sozialpädagogischen Arbeit mit
unbegleiteten minderjährigen Migranten gemacht hat; sie
dokumentiert und analysiert.
Diskussion
Mit Blick auf seine doch sehr heterogenen Einzelbeiträge, kann man
das vorliegende Buch je nach Geschmack als bloßes Sammelsurium oder
geschicktes Arrangement ansehen. Wer vieles bringt, wird manchem
etwas bringen. Wer nur mit einigem Geschmack herangeht, wird das
Buch zufrieden aus der Hand legen; und sei es nach der Lektüre von
auch nur zwei oder drei Einzelbeiträgen.
Fazit
Das Buch sei empfohlen allen für die Ausbildung in Sozialer Arbeit
Verantwortlichen, die mit der Idee eines politisches Mandats der
Sozialen Arbeit (ausf. Werwein, 2008) etwas anfangen können. Sie
sollten auch dafür sorgen, dass es in die Bibliotheken
deutschsprachiger (Aus-)Bildungsstätten für Soziale Arbeit
aufgenommen wird und Studierende anregen, dies oder jenes zu lesen.
Ich halte eine Reihe der Buchbeiträge für geeignet, in der einen
oder anderen Form als Unterrichtsmaterial zu dienen; als Grundlage
für ein Referat etwa oder Gegenstand einer Gruppendiskussion.
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