Rezension zu Filmpsychoanalyse
literaturkritik.de vom 7. Mai 2018
Rezension von Kai Sammet
Mit Popcorn auf die Couch?
Andreas Hamburger hat eine interessante, aber zu ungenaue Idee, was
Filmpsychoanalyse sein könnte
Warum geht man ins Kino? Weil man Cineast ist, weil man Theater
nicht mag, weil man verliebt ist und in der letzten Reihe sitzen
will, weil es nach zwanzig Jahren Ehe besser ist, im Dunklen stumm
zu sein, als sich beim teuren Italiener anzuschweigen (vielleicht
finden sich die Hände ja doch bei einem Liebesfilm) … Da hat nun
Andreas Hamburger, Psychoanalytiker und Professor an der
International Psychoanalytic University Berlin, eine interessante
Idee, was Psychoanalyse über Filme sagen könnte. Es geht um uns
Zuschauer und das gesellschaftlich Unbewusste. Das steht in
Kontrast zu anderen psychoanalytischen Zugängen. Manche verstanden
Filme als Ausdruck des Unbewussten des Filmemachers. Oder
Filmfiguren wurden psychoanalytisch auseinandergebastelt. Das
Konzept der ›spectatorship‹ warf statisch psychoanalytische Raster
über die Zuschauerreaktion. Das wendet Hamburger empirisch, ihn
interessiert konkretes Rezeptionsverhalten. In vielen Städten gibt
es filmpsychoanalytische Initiativen. Wie dort Deutungen entstehen,
beschreibt Hamburger am Beispiel der Münchner Gruppe: Nach Wahl
eines übergeordneten Themas schlagen Gruppenmitglieder passende
Filme vor, Moderatoren stellen diese vor, man sieht sie gemeinsam
an. Gemäß Freuds Dreischritt Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten
wird wiederholt, die Zuschauer tauschen Erfahrungen aus, die
»entstehende Dynamik« wird »als Spiegelung des vom Film
thematisierten psychodynamischen Musters interpretiert«. Dann wird
durchgearbeitet: Die erarbeitete Interpretation muss am Film und an
der Sekundärliteratur zum Film geprüft werden.
Das klingt bestechend und ist in Analogie zu einer Langzeitanalyse
oder einer Gruppenpsychoanalyse gebaut. Doch wozu dieser Aufwand?
Hamburger meint: Ins Kino gehen bedeute, sich beim Film auf die
Couch zu legen. Und was meint das? Analytiker und Analysand
entwickeln in einer Analyse eine gemeinsame Deutung. Psychoanalyse
ist Interaktion, Entwurf eines szenischen Verstehens, Konstruktion
eines Zwei-Personen-Stücks. Im Kino seien die Rollen nun anders
verteilt. Wir, die Zuschauer sind es, um deren Analyse es geht: Der
Film ist es, »der wie ein deutender Analytiker prototypische Szenen
ausmalt und uns mit Imaginationen konfrontiert, die etwas
aufgreifen, von dem er annimmt, dass es uns innerlich beschäftigt.«
Aha.
Im szenischen Verstehen fühlt sich der Analytiker in die Szene des
Klienten ein. Genauso, meint Hamburger, »tauchen wir in die vom
Kunstwerk evozierte Szene ein und benützen die Wahrnehmung unserer
eigenen Befindlichkeit als Zuschauer dazu«, deren unbewussten
Inhalt zu verstehen. Das ist zu unscharf. Totes Celluloid
kann sich nicht einfühlen. Die Filmdeutung kann nur im Zuschauer
und im späteren Gruppenprozess erfolgen, die Zuschauer wären dann
Analytiker und Analysand in Personalunion und in Auseinandersetzung
mit sich und in der Gruppe. So sagt es Hamburger aber nicht. Damit
verunklart er das Pingpong der Interaktionen und damit den
womöglich tatsächlich ablaufenden unbewussten und später
aufgedeckten Prozess.
Auch sein zentraler Gedanke bleibt unpräzise. Das Kino ist
Illusionsmaschine par excellence, man ist »drin«, affektiv
mitgerissen. Dieser Sog komme durch die »kunstvolle Abstimmung« der
Zeitabfolge des Films mit früh erlernten Zeitstrukturen unseres
Affektlebens zustande, Filme steuern unsere Affekte durch
»Zeitdramaturgie«, vor allem durch Schnitt und Montage. Suspense
zum Beispiel funktioniert nur, weil der Wechsel von Spannung und
Entspannung unsere früheste Lebenserfahrung darstellt. Spannung und
Entspannung sind durch die frühe Mutter-Kind-Dyade in uns
verankert. Die Mutter geht auf den Affekt des Kindes ein, sie
spiegelt ihn zurück und markiert ihn als je spezifischen. Zwar
spiegelt oder markiert das Kino keine Affekte, so Hamburger, doch
erleben wir »im Kino Affekte, als ob sie gespiegelt wären«. Filme
verwenden »die zeitlichen Engramme« unserer »Primärerfahrung«.
Sicher, Schnitt und Montage wollen durch Zeitarchitektur emotional
beeinflussen. Aber genügt dazu eine formale Struktur? Zwischen
Mutter und Kind geht es um Inhalte, nicht nur um ein zeitliches Hin
und Her von Babyaffekt und Mamaspiegel. Mama muss auch den Inhalt
des Gefühls verstehen. Dieses Hin und Her ist eine
face-to-face-Interaktion, bei der es immer wieder zu
Einregulierungen zweier füreinander Anwesender geht. Kann eine
Schnittfolge Mama sein? Hier bleiben die Bezüge zwischen
Zeitstruktur des Films und Zeit-/Inhaltsstruktur der frühen
Interaktion doch zu diffus im Analogischen.
Ebenso wenig befriedigen Hamburgers Überlegungen zum Kino als
Gruppenerfahrung. Der »Kinoraum« sei ein »mächtiger Mitspieler in
der Kinoerfahrung«. Wie die Masse sei die Gruppe-im-Kino ein
eigener kollektiver Akteur, Stichwort unbewusste Gruppendynamik.
Hamburger weiß: Die Kinozuschauer geraten »in eine Konstellation,
die der Position des Säuglings gegenüber der Brust ähnelt«. Wie
bitte? Niemand hängt an einer kollektiven ›Zitze‹, wenn es hinter
einem raschelt, neben einem scharrt und räuspert, vor einem die
nächste Szene vor-erzählt wird. Es gibt nicht die Gruppenerfahrung
im Kino, sondern ein Wechselspiel zwischen Anonymität und,
manchmal, Einklang mit anderen Kinozuschauern. Das muss sich auch
im Unbewussten spiegeln.
Auch Ausflüge ins Gesellschaftlich-Große-Ganze überzeugen nicht.
Als Beispiel seien Überlegungen zu James Bond angeführt. Es mag
sein, dass Bond mit Daniel Craig in die Postmoderne geführt wurde,
die vermeintlich angestaubte Bond-Maskulinität brauchte
Generalüberholung. Auch das ist zu pauschal. Es gibt nicht die
Männlichkeit, nur Männlichkeiten, Hegemonie hin oder her.
Ratlos lässt einen dann Hamburgers Interpretation dieses erneuerten
Bond zurück. In Bond-Filmen geistern stets »übermächtige
Frauenfiguren« im Hintergrund herum, man sieht eine Triangulierung
von Bond, Bösewicht und Frau: »Dieses Dreieck, in dem zwei Männer
um eine Frau kämpfen – einer, der sie beschädigen, und einer, der
sie beschützen will«, stelle »den ödipalen Erzählstrang dar.« War
das im Ödipus-Komplex nicht anders? Konkurriert da Sohn nicht mit
übermächtigem Papa um Mama-Frau? Jeder will sie für sich – aber
doch nicht sie beschädigen. Überdies ist bei Bond der Bösewicht
meist schlicht ein durchgeknallter Bösewicht, Väterlichkeit gibt es
bei ihm nicht.
Wie auch immer – jedenfalls sei der neue Bond nicht mehr ödipaler
Mama-Beschützer, vielmehr opfere die übermächtige Mutter beide
Männer im Dreieck. Da ist nicht mehr »die sexuelle Mutter«, sondern
die »existenziell-übermächtige Mutterfigur des präödipalen Kindes«,
die vernichtet. Wenn nun aber im Spionagethriller gesellschaftlich
Unbewusstes zum Ausdruck kommt und das Männlichkeitsmodell Bonds
generalüberholt wurde – heißt das dann, dass man sich
psychoanalytisch den postmodernen Mann als einen schlotternden,
kaum der Sprache fähigen Kindskopf im Angesicht der vernichtenden
Mutter denken soll? Das überzeugt nicht. Ganz abgesehen davon
belehrte einen die MeToo-Debatte, dass die präpotent-ödipale
Männlichkeit im Bademantel doch so vergangen noch nicht ist. Auch
aus diesen Gründen kann Hamburgers faszinierende Idee,
gesellschaftliche Unbewusstheiten, Kino und Zuschauerrezeption
kurzzuschließen, so nicht überzeugen.
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