Rezension zu Das enteignete Bewusstsein
Socialnet.de vom 7. Mai 2018
Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Die »dialektische Anthropologie« von Hans Kilian, eine Verbindung
von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie.
Zeitdiagnose: Überlieferte Sozial- und Identitätsstrukturen
behindern notwendige Veränderungen und führen zu einer kollektiven
Identitätskrise.
Autor und Herausgeber
Hans Kilian (1921–2008) leitete an der Gesamthochschule Kassel ein
interdisziplinäres wissenschaftliches Zentrum für Psychoanalyse,
Psychotherapie und psychosoziale Forschung und untersuchte
interdisziplinär Defizite in der kulturellen und psychosozialen
Entwicklung des Menschen.
Jürgen Straub ist Psychologe, Sozial- und Kulturwissenschaftler,
seit 2008 Professor für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der
Universität Bochum und Mitherausgeber der Zeitschrift
Psychosozial.
Pradeep Chakkarath ist nach dem Studium der Philosophie und
Geschichte Mitarbeiter in der Kommission zur Erforschung des
politischen und gesellschaftlichen Wandels in den neuen
Bundesländern (KSPW) und beteiligt an Untersuchungen zur
psychosexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen In
Deutschland Ost und West.
Entstehungshintergrund
Die Sorge um unbewusst verfestigte kulturelle Traditionen, Macht-
und Herrschaftsverhältnisse, die – unerkannt und -bearbeitet – zu
einer Identitätskrise führen und emanzipatorische Entwicklungen
behindern.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in zwei Teile:
1. Ein sehr ausführliches und kritisches Vorwort der beiden
Herausgeber (78 Seiten) und
2. den Text von Hans Kilian: Das enteignete Bewusstsein. Zur
dialektischen Sozialpsychologie (307 Seiten).
Zu 1.
Straub und Chakkarath: Kurzes Vorwort und ein längerer Artikel
»Selbsterkenntnis und soziokulturelle Praxis im Wandel« (78
Seiten). Im Vorwort weisen die Herausgeber daraufhin, dass dieses
Buch das bedeutendste von Kilian ist.
Unter dem Thema »›Selbsterkenntnis und soziokulturelle Praxis im
Wandel‹ vom ›enteigneten Bewusstsein‹ zur transkulturellen
Identität in postpatriarchalischen Gesellschaften« wird auf das
Datum der Veröffentlichung 1971 – in Gestalt eines »abstrakten
Fragments in terminologisch-polemischer Richtung« – hingewiesen.
Kilians Monographie verfolge unter Bezug auf die Psychoanalyse und
den Marxismus eine zweite Aufklärung i. S. einer engagierten,
emanzipatorischen Humanwissenschaft, dialektische Sozialpsychologie
benannt. Er glaube an eine mehrgliedrige Vernunft i.S. einer
aufgeklärten differenzierten historischen Selbstbeziehung des
Denkens, Fühlens und Handelns, die durch die gesellschaftlichen
globalen Entwicklungen herausgefordert sei, eine realitätsbezogene
kontingente Identität zu integrieren. Der Abschied vom Absolutismus
des bürgerlichen Subjekts mache neue identitätstheoretische
Reflexionen angesichts eines »a-sozialen Individuozentrismus« und
einer ahistorischen Konstruktion von Wirklichkeit notwendig. Es
gehe um eine transkulturelle Wirklichkeit, die im historischen
Prozess frühe (von Geburt an) unbewusst internalisierte soziale
Interaktionsformen und Identifikationen kritisch hinterfragt,
wieweit sie dem realen gesellschaftlichen emanzipatorischen Wandel
noch gerecht werden.
Straub und Chakkarath kritisieren die missionarisch-messianische
Perspektive von Kilian, seine schwärmerisch religiös anmutende
Idealisierung der Botschaft von Jesus als Protagonist einer
postpatriarchalen Kultur, betonen jedoch auch dessen aufklärerische
Leidenschaft und praktisch politisch-gesellschaftliches
Engagement.
Zu 2.
Kilian: Das enteignete Bewusstsein. Zur dialektischen
Sozialpsychologie (307 Seiten).
Im Vorwort (5 Seiten) beschäftigt sich Kilian mit seinem
theoretischen Verständnis des historischen und gesellschaftlichen
Unbewussten.
Es folgt der erste Teil »Perspektiven einer dialektischen
Anthropologie« (141 Seiten).
Dieser ist unterteilt in:
1. Die enteignete Identität des vierdimensionalen Menschen (76
Seiten). Kilian begründet ausführlich sein zentrales Anliegen,
indem er für die Anerkennung der »Vierdimensionalität« des Menschen
(neben der körperlichen, psychischen und intellektuellen Dimension
die der Prägung durch historischen Erfahrung, die unbewusst von
Geburt an die Selbstwahrnehmung und unser Denken, Fühlen und
Handeln gestaltet hat) plädiert. Gemeint ist mit der letzteren eine
unbewusste, früh erworbene Struktur von sozial vermittelter
geschichtlicher, herrschaftsstruktureller und konformistischer
Subjektivität, die bislang von der Psychoanalyse und den
Sozialwissenschaften vernachlässigt wurde. Diese führe nicht nur zu
Selbstblindheit und Spaltungen, sondern stehe auch einem
realistisch notwendigen Strukturwandel entgegen und werde selbst
durch eine erfolgreiche Revolution nicht radikal verändert. So sei
z.B. der Ödipuskomplex ein Merkmal patriarchalischer
Herrschaftskultur, die in der Gegenwart äußerlich aufgelöst wurde,
aber innerlich dennoch weiterhin bestehe. Diese Herrschaftskultur
eines patriarchalen historischen Sündenfalls, sei von Marx und
Freud auch nur zur Hälfte kritisch auf die Füße gestellt worden und
deshalb immer noch wirksam. Sie sei weder durch eine kritische
Gesellschaftstheorie, noch durch eine kritische Praxis der
progressiv befreiten Selbststeuerung aufgehoben. Die kollektive
Dialektik der subjektiven Identitätsstrukturen und der veränderten
gesellschaftlichen Realitätsstrukturen sei der Schlüssel zum
Verständnis von Prozessen eines psychosozialen Strukturwandels in
der Übergangszeit von Fremdidentität zu echter Selbstidentität.
2. Das Elend des Positivismus oder die Reproduktion des enteigneten
Bewusstseins in der Unwissenschaft des Menschen (58 Seiten). Unter
Bezug auf die Theologin Dorothee Sölle (Theologie nach dem Tod
Gottes) beschäftigt sich Kilian mit dem Einfluss veralteter
Strukturen, z.B. des Neopositivismus, der Fakten den Rang von
Wahrheit gibt und sie damit irrational aufwertet, was zu einer
Gesichtsfeldverengung führt. Die »menschengerechte Erkenntnis des
Menschen« wird durch die Verführung zur Faktenlogik verhindert,
wenn diese zum Maß aller Dinge und damit zum Erkenntniswiderstand
wird. Die Subjektverabsolutierung von klassengespaltenen
(göttlichen) Herrschaftskulturen sei als Prägemuster zu Ende, deren
Verleugnung führe zu einer irrationalen Reaktionsbildung gegen den
Fortschritt und stehe einer Metanoia (Umkehr) der Spaltung von
Glauben und Leben im Weg. Die Petrifikation (Versteinerung) der
Wahrheit sei gleichzeitig ihr Tod. In der konkreten, d.h. gelebten
Wahrheit von Jesus sieht Kilian eine »heile Menschlichkeit«, i. S.
einer Metaphysik der »Gegenseitigkeitsstruktur« gegen den
Sündenfall einer Regression in patriarchale oder positivistische
Strukturen. Es gibt keine, auch in der äußeren Realität zu
Veränderungen führende Metanoia, ohne eine bewusst integrierte
Realdialektik der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt in der
sozialen wie intrapsychischen Kommunikation. Die bisherige
Kulturgeschichte sei eine unvollendete Menschwerdung solange das
volle Bewusstsein der verdrängten unbewussten geschichtlichen
Identität – i. S. einer Relativitätstheorie von geschichtlichen
Seins- und Denkstrukturen – nicht erreicht ist und die Hindernisse
in der eigenen Denkstruktur – sowohl bei Psychoanalytikern als auch
bei Marxisten, da sie zwar inhaltlich progressiv aber strukturell
repressiv gewesen seien –, nicht erkannt sind. Die bürgerliche
egozentrische Steuerung des Denkens versage angesichts der
aktuellen gesellschaftlichen Realität mangels integrativer
Kompetenz eines fehlenden vierdimensionalen Menschen mit einer
zukunftsbezogenen dialektischen Identitätsstruktur. Kilian
konkretisiert das am Beispiel einer Mutter, die ihre egozentrische
neurotische Struktur einem Säugling überstülpt, der sich unbewusst
»selbstverstümmelnd« anpasst und – psychoanalytisch formuliert –
ein falsches Selbstbewusstsein entwickelt, das Wachstum, Reifung
und Veränderung behindert. Kilian weitet dieses Modell aus auf
neuronale Schaltungen, die sich resistent gegenüber Veränderungen
verhalten (als sei die historisch-hermeneutische Grundlage seiner
kritischen Überlegungen nicht ausreichend und sie deshalb noch
biologisch »objektiviert« werden müssten). Denkinhaltliche und
Prämissen des bürgerlichen egozentrischen Weltbildes behinderten
die integrative Kompetenz von realistisch notwendigen Brüchen und
Veränderungen. Die Projektion von mit anderen Mitgliedern der
Gesellschaft geteilten Herrschaftsverhältnissen von »oben« und
»unten« werde durch Kindheitsdressur verabsolutiert zur Stimme
Gottes oder eines Naturgesetzes und führe zu verzerrten
Selbstwahrnehmungen und Identitätskrisen. Auch bei
Psychoanalytikern bestehe eine partielle Geschichtsblindheit,
möglicherweise verstärkt durch die zeitliche Differenz zu Freud.
Eine aktualisierte kritische Standortbestimmung in Bezug auf
überlieferte Denkstile und Identifikationen und eine Reflexion des
dialektischen Realitätsprinzips, das unteilbar psychohistorische
und psychosoziale Kommunikationssysteme verbinde, sei
ausgeblieben.
2. Teil
Die unvollendete psychosoziale Hominisation des Menschen (31
Seiten). Die unbewusste Struktur des isolierten Subjekts sei eine
Aneignung des bewussten Erlebens der Beherrschten durch die
Beherrschenden, Ergebnis eines Produktionsprozesses eines
weitgehend sich selbst enteigneten Bewusstseins, das seiner
Kontaktmöglichkeiten, privatistisch eingeengt, beraubt und deshalb
dynamischen Realitätsstrukturen nicht gewachsen sei. Subjekt- und
Identitätsverlust seien ein Merkmal der modernen psychosozialen
Entwicklung jenseits herrschaftsstruktureller
Subjekt-Objekt-Spaltungen (ausführliche Hinweise auf
neurophysiologische Erkenntnisse, Denkstrukturen der Hopi-Indianer,
Psychosomatische Erkrankungen). Ein schwaches Ich werde unbewusst
zum Objekt eines übermächtigen herrschaftsstrukturellen Über-Ich,
verknüpft durch die Fiktion einer Einheit und unter Verlust eines
»normalen soziopathischen Bewusstseins«, der Kreativität und der
integrativen Kompetenz.
3. Teil
Materialien zur dialektischen Anthropologie (50 Seiten). Nach einem
Exkurs über die »psychophysiologischen Grundlagen der
Anthropogenese« (René Spitz, Erik Erikson, Arnold Gehlen)
entwickelt Kilian sein Model – »von der Hominisation zur
Humanisation« – einer evolutionären Entwicklung zu einer
vieldimensionalen Wirklichkeit, die geschichtliche und damit auch
vergängliche Entwicklungen nicht ideologisch verleugnet, sondern
sich – über das sich Bewusstmachen – dem Wiederholungszwang eines
(dem wahren Selbst) enteigneten Bewusstseins entzieht. Es folgt ein
längerer Exkurs über Jesus von Nazareth und dessen Anspruch auf
»eine integrale transkulturelle Identität des Humanen« im Gegensatz
zu »Petrus’ denkstruktureller Dechristianiserung« i. S. eines
Herrschaftsmodells. Eine Synchronisation des Bewusstseins mit der
Realitätsstruktur der geschichtlichen Welt ergebe sich aus dem
Leitmotiv der Wahrheitsfrage angesichts der makroskopischen
Kosmogenese und die mikroskopische Entdeckung des ‚inneren
Auslandes‘ des Unbewussten. Eine historische »Metanoia« (Umkehr,
Strukturwandel) sei notwendig, Abschied von gewohnten
Denktraditionen und Aufbruch zum Wesen des (ursprünglichen?)
»vierdimensionalen (heilen?) Menschen«.
4. Teil
Die unvollendete Revolution des vierdimensionalen Menschen (9
Seiten). Unter Berufung auf Jesus, dann einer Latenzperiode der
Menschheit, die seinem Aufruf partiell folgte, und einem
bürgerlichen Übergangszeitalter der revoltierenden Vernunft und des
»innengelenkten« Über-Ich-Zwanges sei nun der Anspruch auf eine
transkulturelle Identität nicht mehr repressiv zu unterdrücken. Die
Geschichte einer statischen Identitätskultur sei zu Ende. Es gelte,
noch vorhandene Denkhindernisse zu beseitigen und die unvollendete
Revolution des Denkens zu vollenden durch Kontingenz und kritische
Offenheit gegenüber unbewussten Strukturen der Subjektivität im
Denken, Fühlen, Wollen und Handeln und fähig zu werden zu einer
Perspektivübernahme anstelle eines subjektivistischen und
ahistorischen Bewusstsein.
Diskussion
Ein nicht leicht zu lesendes Buch, das zunächst einlädt, mit dem
Vorwort der Herausgeber zu beginnen, eine Vorgehensweise, die ich
aber nicht empfehlen kann, weil man deren nachdenkliche und
kritische Äußerungen erst verstehen kann, wenn man sich mit Hans
Kilian selbst beschäftig hat. Dieser ist allerdings nicht leicht zu
lesen, obgleich sein Anliegen relativ rasch schon in den ersten
Kapiteln deutlich wird. Da er seine Ansichten aber nicht als
Meinungsäußerung sondern als begründete Ergebnisse eines
historischen Prozesses verstanden wissen möchte, müssen zu deren
Beweis die Ergebnisse der Hirnforschung, der frühkindlichen
Entwicklung, des psychoanalytisch erforschten Unbewussten,
religiöse und philosophische Belege herangezogen werden, die in
ihrer Breite und Ausführlichkeit das Buch schwer lesbar machen und
bei mir als Leser den Verdacht weckten, dass Kilian genau das, was
er eigentlich bekämpft, selbst unternimmt, seine persönliche
Meinung – und dessen Vorgeschichte – zu objektivieren, anstelle sie
zur Diskussion zu stellen.
Dennoch ist der Ausgangspunkt wichtig, dass unsere
Selbstwahrnehmung, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, durch
frühkindliche soziale Prägungen geformt ist. Diese werden
allerdings im Regelfall in der Pubertät einer kritischen Prüfung
unterzogen und teils dauerhaft identitätsstiftend bejaht, teils
aber auch verworfen bei gleichzeitiger Offenheit für neue und
andere Identitätsangebote. Die zwanghafte Übernahme elterliche und
gesellschaftlicher Identitätsangebote hat sich inzwischen zunehmend
gelockert, was einerseits einen größeren Grad an persönlicher
Freiheit bedeutet, andererseits aber auch einen Verlust an
Traditionen, mit denen man vor allem emotional verbunden ist;
dieser Gesichtspunkt kommt bei Kilian, der sehr kopflastig
argumentiert, zu kurz. Tradition und entsprechende Prägungen
können, aber müssen nicht, zum Denkhindernis werden. Auch Jesus,
der als Mensch ohnehin ein Unbekannter ist und dessen, auch
widersprüchliche, Botschaften wir nur durch seine Vermittler
kennen, war mit Sicherheit von Kindheit an sozial geprägt. Seine
Botschaften reichten für die eines Wanderpredigers aus, ohne Petrus
und Paulus (die Kilian kritisch sieht) wäre es wahrscheinlich auch
dabei geblieben.
Ein gewisser Messianismus ist Kilian nicht abzusprechen, oder eine
Nähe zu utopischen idealistischen Visionen wie die Aufhebung der
Widersprüche zwischen Tradition und Moderne; diese zu erreichen in
einer Menschheit, die sich existentiell in Vergangenheit und
Gegenwart und Zukunft bewegt, läuft auf eine ständiges Aushandeln
von Kompromissen und nicht auf einen harmonischen paradiesischen
Zustand hinaus. Allerdings auf die Gefahr der unbewussten
individuellen und gesellschaftlichen Verhärtung, Verknöcherung
lebendiger und notwendiger Entwicklungsprozesse wort- und
inhaltsreich hingewiesen zu haben, ist ein Verdienst von Kilian und
rechtfertigt auch die Herausgabe dieses Bandes.
Fazit
Keine leichte Lektüre, aber lesenswert auch wenn man dem Verfasser
nicht in allem folgt, als eine Anregung zum kritischen Nachdenken
über sich selbst und die Gesellschaft im Wandel der Globalisierung
und als ein reiches Material zum Gebrauch einer transzendierenden
Streitkultur.
www.socialnet.de