Rezension zu Bindung und Gefahr (PDF-E-Book)
Kinderanalyse 2/2018
Rezension von Hans von Lüpke
Obwohl international seit 40 Jahren bekannt und Thema einer
Vielzahl von Forschungsprojekten, wird das DMM
(Dynamic-Maturational Model of Attachment and Adaptation), das
»Dynamische Reifungsmodell der Bindung und Anpassung« von Patricia
McKinsey Crittenden im deutschen Sprachraum noch kaum diskutiert.
Dabei signalisiert das Stichwort »Anpassung« bereits einen neuen,
weiterführenden Aspekt in der Bindungsforschung. Anstelle der
primären Orientierung am Ideal einer »sicheren Bindung an die
Fürsorgeperson« als Ergebnis der Feinfühligkeit dieser Bezugsperson
geht es hier auch um eine aktive Leistung des Kindes. Nicht
Sicherheit steht im Mittelpunkt, sondern die Vermeidung oder
Bewältigung von Gefahren. In einem der Texte des vorliegenden
Sammelbandes heißt es zur Rolle der Fürsorgeperson: »Die große Nähe
zu dieser Fürsorgeperson ist der beste Schutz vor Leid und eine
Quelle von Trost und Geborgenheit — im besten Falle. Was aber, wenn
die Bindungsfigur selbst den Säugling gefährdet oder zur Quelle von
Gefahren wird?« (S. 20)
Das DMM basiert auf den Vorstellungen von Bindung, wie Bowlby und
Ainsworth sie entwickelt haben. Crittenden war selbst Schülerin von
Mary Ainsworth. Es zeigt sich aber auch, welche Bedeutung den
biographischen und professionellen Erfahrungen der Forscher
zukommt. Bowlby hat Trennungen von wichtigen Bezugspersonen durch
die kriegsbedingten Verhältnisse in den 40er Jahren erlebt und
deren Folgen untersucht. Crittenden begann ihre Arbeit als
Entwicklungspsychologin auf der Grundlage systemischer
Familientherapie mit Interventionen für misshandelte Mütter und als
Lehrerin in einer Schule für sozial benachteiligte Kinder. Sie
baute 1970 ein Zentrum zur Unterstützung von Unterschichtsfamilien
auf und leitete ein Kinderschutzteam in Miami. Im Laufe der Jahre
bezog sie immer mehr Forschungsansätze in ihre Arbeit ein, so
Kognitionswissenschaften, beziehungsorientierte Theorien,
Säuglingsforschung, Neurobiologie und psychoanalytische Konzepte
wie das vom dynamischen Unbewussten im Kontext des Bindungskonzepts
von Bowlby. Schließlich war Bowlby Psychoanalytiker, auch wenn er
vom Mainstream der Psychoanalyse seiner Zeit abgelehnt wurde. Er
thematisiert Entwicklungsstörungen als Folge von unzureichenden
Bindungserfahrungen mit der Mutter, während Crittenden komplexe
Gefahrensituationen in Blick hat, bei denen Sicherheit nur durch
die Bindung an eine Bezugsperson nicht erreicht werden kann, wenn
diese selbst komplexen Gefahrensituationen ausgesetzt ist. Hier
müssen die Kinder durch eine bestmögliche Anpassung an die
jeweilige Gefährdung auch einen eigenen Beitrag leisten. Man könnte
sagen: Das Bowlby-Konzept orientiert sich an weißen westlichen
Mittelschichtsfamilien. »Ein vorwiegend sicheres Bindungsmuster
passt (...) optimal in eine für das physische Überleben weitgehend
gefahrlose Welt«, schreibt Hellgard Rauh in ihrem Beitrag (S. 52).
Das DMM dagegen ist vor allem auf Kinder in komplexen
psychosozialen Notsituationen orientiert.
Das Buch besteht aus Beiträgen von Autorinnen und Autoren, die
meist eine längere Zusammenarbeit mit Patricia Crittenden
verbindet. Es beginnt mit einem Vorwort von Michael B. Buchholz und
der einleitenden Orientierung von Nicola Sahhar, Wolfgang Milch und
Martin Stokowy. Als erster Beitrag folgt die Darstellung des
CARE-Index (»Child-Adult Relationship Experimental Index«) von
Nicole Letourneau und Penny Tryphonopoulos. Hier geht es um die
Auswertung der dreiminütigen Videobeobachtung einer spielerischen
wechselseitigen Interaktion zwischen Erwachsenem und
Säugling/Kleinkind ab der Geburt bis zum Alter von drei Jahren. Im
Gegensatz zur »Fremden Situation« bei Ainsworth ist dies keine
Beobachtung einer experimentell erzeugten Stress-Situation zur
Diagnostik des Bindungsverhaltens, sondern eine Möglichkeit zur
Analyse der wechselseitigen spontanen Interaktion als Grundlage für
die Entwicklung von Bindungsstrategien. Neben den verschiedenen
Varianten der Sensitivität in der Kooperation werden vor allem
versteckte Zeichen von Feindseligkeit oder Erwartungsdruck der
Erwachsenen ausgewertet. Da schon beim Säugling davon ausgegangen
wird, dass er sein Verhalten auf die Wünsche der Erwachsenen
einstellen kann, geht es beispielsweise um Zeichen wie ein Lächeln,
das nicht die Stimmung des Kindes ausdrückt, da es nach Beendigung
des Blickkontakts wie »weggewischt« verschwindet. Der CARE-Index
eignet sich auch zur Intervention und Forschung. Es folgt eine
Darstellung der Bindungsentwicklung und deren Testung am Ende des
ersten Lebensjahres von Hellgard Rauh. Hier beginnt ein
kreisförmiges Modell der Bindungsstrategien, das wie ein roter
Faden in den weiteren Texten fortgesetzt wird. Es orientiert sich
an der Klassifikation von Ainsworth: A für vermeidend unsicher, B
für sicher und C für ambivalent unsicher. Ein wesentlicher
Unterschied besteht jedoch darin, dass in diesem Konzept Übergänge
vorgesehen sind, die noch als unproblematisch angesehen werden. So
findet sich zwischen Typ B und A als Variante von B die Kategorie
»reserviert«. Alle Bindungsstrategien vom Typ B werden
zusammenfassend als »balanciert« bezeichnet, der reine B-Typ als
»komfortabel« (S. 300). Auch gibt es nicht den Begriff der
»unsicheren Bindung«, da alle Varianten als primär adaptiv und in
diesem Sinne als sicher angesehen werden. Die reine (»komfortable«)
B-Strategie steht bei diesem kreisförmigen Modell oben in der
Mitte. Nach links geht es auf der Grundlage einer vorwiegend
kognitiven Wahrnehmungsverarbeitung zur A-Strategie, auf der
rechten Seite mit vorwiegend affektiver Wahrnehmungsverarbeitung
zur C-Strategie. Die A-Strategie wird verstanden als der Versuch
des Kindes, die (seiner überwiegend kognitiven Wahrnehmung
entsprechend) nur geringe Verfügbarkeit der Bezugsperson nicht zu
überlasten, Das Kind reduziert den Ausdruck eigener Bedürfnisse und
zeigt sich möglichst heiter, zufrieden und darüber hinaus sozial.
Damit gelingt es dem Kind, eine funktionierende Interaktion
aufrechtzuerhalten. Entscheidend für die weitere Entwicklung ist
das Ausmaß dieser Reduktion eigener Bedürfnisse. Hier besteht die
Gefahr, dass diese so weit gehen kann, dass die Kinder sich selbst
nicht mehr wahrnehmen, nicht schützen und in der weiteren
Entwicklung Opfer von (auch sexueller) Ausbeutung werden, wobei
Promiskuität und im Extremfall Prostitution das Ergebnis sein
können. Von besonderer Bedeutung ist die mögliche Fehleinschätzung
dieser Kinder: Da sie etwa im Kindergarten als sozial, leicht
lenkbar und schnell einzugewöhnen angenehm auffallen, kann ihre
Entwicklung als »besonders weit« fehlinterpretiert und damit eine
Gefährdung für die weitere Entwicklung übersehen werden. Diese
können in der wahnhaften Idealisierung bei einem von außen her
konstituierten Selbst, das beim Scheitern sich selbst anschuldigt,
bestehen (wahnhafte Kognition). Die C-Strategie wird im Kontext
dieses Konzeptes verstanden als der Versuch, ein stetig
wechselndes, für das Kind unkalkulierbares Verhalten der
Bezugsperson zu kontrollieren. Dazu kann aggressives Verhalten
dienen, aber auch eine vorgebliche Hilflosigkeit, Besonders diese
letzte Variante kann die Kinder wiederum schwerwiegenden
Missverständnissen aussetzen. Die gelegentlich sogar
entwicklungsverzögert wirkenden Kinder können bei Vertretern der
»helfenden Berufe« in zunehmendem Maße Hilfsangebote provozieren.
Damit wird das Kind immer ohnmächtiger und in geringerem Maße
fähig, sein eigentliches Ziel zu erreichen: als Handelnder durch
Kontrolle eine verlässliche Orientierung zu schaffen. Das Risiko
eines doppelten Missverständnisses beschreibt Ulrike Zach: »Das
hilflos wirkende Kind ist nicht so hilflos wie es sich den Anschein
gibt, und das sich aggressiv gebende Kind ist nur so lange
aggressiv, wie es sich so Zuwendung sichert und keine aggressiven
Gegenreaktionen auslöst. Die jeweilig abgespaltene Gegenseite des
Affekts ist im Hintergrund weiter wirksam. Ein sichtbar aggressives
Kind ist insgeheim trostbedürftig und ängstlich, ein sichtlich
hilfloses Kind ist insgeheim wütend.« (S. 72). Diese Wut kann beim
scheinbar hilflosen Kind gelegentlich unvermittelt durchbrechen –
zur tiefen Enttäuschung der Helfer, die sich »so für das Kind
engagiert haben«. Die letzte, dann in die Psychopathologie führende
Konsequenz der C-Strategie ist die Entwicklung eines wahnhaften
Affekts, der (im Gegensatz zur wahnhaften Kognition bei der
A-Strategie) die Schuldzuweisung paranoid nach außen verlagert und
sich drohend verhält. Dem von ihr thematisierten Entwicklungsalter
bis zu 13 Monaten entsprechend, bewegt sich die Darstellung bei
Hellgard Rauh noch im oberen, der balancierten B-Strategie nahen
Bereich. Die Autorin betont, dass in diesem Bereich alle Muster
prinzipiell gangbar sind und »noch keinen Hinweis auf mögliche
pathologische Entwicklungen« geben. Kinder mit dem C-Muster können
danach sogar für positive Umwelteinflüsse empfänglicher, besser auf
einen Wandel in der Umwelt vorbereitet sein, während ein vorwiegend
sicheres Bindungsmuster optimal in eine weniger gefahrvolle Umwelt
passt (S. 51/52). In die Diskussion einbezogen werden hier auch die
Bindungsstrategien von Kindern mit Down-Syndrom.
Der darauf folgende Text zum Vorschulalter von Ulrike Zach führt
auf der Seite der A-Strategie bis zu einem Maß an Gefügigkeit und
scheinbarem Sozialverhalten, das die Autorin als »Gefahr« für die
weitere Entwicklung einstuft. Bei einer Intensivierung der
C-Strategie zu Aggression und vorgeblicher Hilflosigkeit markiert
sie die Grenze für eine Entwicklungsgefährdung auch bei dieser
Bindungsstrategie. Kazia Koslowska setzt die Darstellung der
altersentsprechenden Entwicklung des Bindungsverhaltens im
Schulalter fort. Hier kommt der Weiterentwicklung von Sprache und
Kognition Bedeutung zu, etwa beim Konzept des
»Quellengedächtnisses«, das es den Kindern erlaubt, abzurufen
»wann, wo und wie sie bestimmte Teile von Informationen erhalten
haben« (S. 88).
Im Kapitel zur Bindungsentwicklung in der Adoleszenz thematisieren
Andrea Landini, Kasia Koszlowsk, Fiona Davies und Catherine
Chudleigh die Rolle der sich entwickelnden Sexualität bei der
Ablösung von den Eltern und der Gestaltung von Partnerschaften im
Kontext von Bindungsstrategien. Wichtig ist ihnen nicht nur die
»sichere Bindung«, sondern eine »erworbene B-Strategie«. Diese
selbstprotektive Strategie erlaubt die Wahl der am besten passenden
Strategie in Kontexten, in denen Gefahr erwartet oder begegnet wird
(S. 120). Dabei geht es vor allem um Flexibilität: »Adoleszenten,
die einer sicheren Kindheit entstammen, (...) müssen ihre ›naive
B-Strategie‹ um Strategien erweitern, die in einer Welt voller
Gefahren, Betrug und Leiden nützlich sind.« (S. 121).
Im anschließenden Text von Nicola Sahhar zur Rolle der
Bindungsstrategien Erwachsener geht es um einige noch ausgesparte
Themen wie die Problematik der sog. »desorientierten Bindungen«,
die Frage der transgenerationalen Stabilität von Bindungsstrategien
und traumatischen Erfahrungen, die Rolle der Mentalisierung und den
Bezug zu klinischen Störungsbildern. Fehlende Forschung, etwa zur
bindungsrelevanten Rolle des Platzes in der Geschwisterfolge, wird
themarisiert.
Es folgen Texte von Steve Farnfield zu Problemen von Bindung und
Anpassung bei Ersatzeltern, zur Rolle der Bindungsdiagnostik bei
Familiengerichtsverfahren von Patricia Crittenden und zu
neurobiologischen Aspekten von Lane Strathearn. Die hier vertretene
Vorstellung, dass einige der dargestellten neurobiologischen
Prozesse bestimmten Varianten des Bindungsverhaltens »zugrunde
liegen«, bedarf allerdings der Diskussion. Zum einen können durch
unterschiedliche Methoden gewonnene Ergebnisse nicht kausal
miteinander in Bezug gesetzt werden, zum anderen ändern sich auch
neurobiologische Daten im Kontext psychodynamischer
Veränderungen.
Abschließend folgt eine Abhandlung zur Rolle der Bindungsdiagnostik
im forensischen Setting von Peder Norbech. Fünf Anhänge bieten
zusammenfassende Definitionen, Hinweise zu Testverfahren und
zentralen Aspekten des DMM-Bindungskonzepts sowie weitere
Ausführungen zu Gedächtnisstrukturen. Jedes Kapitel enthält die
altersgemäßen Testverfahren sowie eine Darstellung und Diskussion
informativer Fallbeispiele.
Den Herausgebern ist es gelungen, trotz der Vielzahl der
beteiligten Autorinnen und Autoren einen kohärenten Einblick in das
Konzept des DMM und die Breite seiner Anwendungsgebiete vorzulegen.
Der Bezug auf Bowlby und Ainsworth ist dem DMM wie den heute vor
allem in Deutschland verbreiteten Bindungskonzepten gemeinsam.
Unterschiede sollten eher als Ergänzung und nicht als Gegensätze
behandelt werden. Wenn das DMM neben der Rolle von Eltern und ihrer
Feinfühligkeit die aktive Anpassungsleistung der Kinder betont,
knüpft es auch an Erkenntnisse der Säuglingsforschung an, etwa das
Konzept der Urheberschaft (»Self-agency«) beim »Empfinden eines
Kern-Selbst« von Stern (Stern, 2010). Die Rolle der Bezugspersonen
betont aber auch Zach, wenn sie bei den Interventionszielen darauf
hinweist, dass sich auch bei der Bindungsperson Veränderungen
ergeben müssen (S. 71, S. 74). Für die praktische Arbeit mit
Kindern können vor allem Hinweise auf das Risiko von
Fehleinschätzungen sowie die am psychodynamischen Verstehen
orientierten Interventionsziele hilfreich sein. Darüber hinaus
ergeben sich Verbindungen zu Konzepten wie dem des »falschen
Selbst« von Winnicott bei der Bindungsstrategie vom Typ A
(Winnicott, 1960/1985) und zur Entwicklung einer ADHS beim
Bindungstyp C (Crittenden et al., 2014; Kiefer, 2014).
Wie zu Beginn bereits erwähnt, passt das Ideal der sicheren Bindung
an eine einfühlsame Bezugsperson vor allem in den Kontext einer
sicheren und gefahrlosen Umwelt. In der therapeutischen und
pädagogischen Praxis der Arbeit mit Kindern spielen jedoch die
Folgen von vielfältig belastenden Lebensbedingungen eine immer
größere Rolle: sowohl für die aktuelle Lebenssituation der Familien
als auch für mögliche traumatische Vorerfahrungen von Krieg,
Verfolgung und Flucht in der Vorgeschichte, nicht selten über
Generationen. Hier dürfte der Versuch, in erster Linie die
Feinfühligkeit der Eltern zu schulen, kaum ausreichend sein.
Anstelle der Ausrichtung auf eine »sichere Bindung« an selbst
unsichere Bezugspersonen geht es vor allem darum, den Kindern
Hilfen zur Entwicklung einer flexibel balancierten Bindung zu
geben, damit ihre Entwicklung durch die notwendigen
Anpassungsleistungen so wenig wie möglich gefährdet wird.
Dazu gibt das Buch wertvolle Hinweise für Therapeuten, Pädagogen,
Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Erzieher. Das im deutschen
Sprachraum bislang einzige Buch zum DMM füllt eine wesentliche
Lücke in der Literatur zur Bildungsforschung. Es ist eine Fundgrube
für breit gefächerte theoretische und praxisbezogene Informationen,
die zum Thema Bindung inzwischen unverzichtbar sind.