Rezension zu Sexualität von Männern
kritisch-lesen.de vom 10. April 2018
Rezension von Olaf Stuve
Der Männergesundheitsbericht wird seit 2010 von der Stiftung
Männergesundheit herausgegeben. Die dritte Ausgabe mit dem
Schwerpunktthema »Sexualität von Männern« ist in Zusammenarbeit mit
dem Institut für angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule
Merseburg erarbeitet worden. In 31 Beiträgen ist ein
facettenreicher Einblick in verschiedene Sexualitäten von Männern*
unter dem Gesichtspunkt der sexuellen Gesundheit entstanden. Es
handelt sich dabei um einen Beitrag zur politischen, theoretischen
und praxisorientierten Diskussion über Männlichkeiten im Kontext
geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Die versammelten
Perspektiven auf das Thema sind notwendigerweise widersprüchlich
und beinhalten zugleich überraschende Schnittpunkte.
Wenn Männlichkeiten und Sexualitäten einerseits pluralisiert und
damit ein essentialistisches Verständnis von ihnen in Frage
gestellt werden, so entsteht daraus notwendigerweise eine Spannung
gegenüber medizinischen Perspektiven, die auf männliche
Körperlichkeit und Heterosexualität von cis-Männern fokussiert. Es
wird in dem Band auch nicht davor zurückgeschreckt, jene Felder zu
thematisieren, in denen es um (strafrelevante)
Grenzüberschreitungen im Kontext von Sexualität und Männlichkeit
geht. Dabei gelingt es eine Orientierung an den Perspektiven von
Opfern sexueller Gewalt zu verfolgen und zugleich wird ein Horizont
der sexuellen Gesundheit für alle nicht aus dem Auge verloren.
Sexuelle Gesundheit ist ein zentraler Begriff, der die
Gesamtausrichtung des Bandes bestimmt. Mit ihm wird deutlich
gemacht, dass eine selbstbestimmte Sexualität von den materiellen
und immateriellen Bedingungen für ein gutes Leben für alle nicht
absehen kann.
Sexualitäten und Männlichkeiten im Plural
denken
Martin Dinges zeigt, wie Sexualitäten sich im
Laufe der Geschichte verändern und
macht damit gleich zu Anfang klar: Sexualität ist nichts
natürliches. Vielmehr ist Sexualität ein modernes Konzept, das im
19. Jahrhundert entstanden und seither ständigen Veränderungen
unterworfen gewesen ist. Erkämpfte Freiräume bezüglich Sexualitäten
und Geschlechtervorstellungen, wie sie zum Beispiel während der
Weimarer Republik errungen worden waren, werden im
Nationalsozialismus in einer rassistisch-heteronormativen
Bevölkerungspolitik wieder aufgehoben. Auch aktuell befinden wir
uns in einer Phase der Politisierung von Sexualität, die Formen
eines »Kulturkampfes« (S. 35) annimmt. Dieser Kulturkampf spielt
sich zwischen denen ab, die sich für gleiche Rechte aller
Geschlechter und Sexualitäten einsetzen und denen, die an einer
essentialistischen Vorstellung von Geschlecht und Heterosexualität
festhalten und damit Pluralisierungen als Bedrohung einer
vermeintlich ursprünglichen Ordnung ablehnen. So wird klar:
Gesellschaftliche Entwicklungen in Sachen sexueller Politiken sind
keineswegs geradlinig in Richtung Emanzipation ausgerichtet.
Nicola Döring richtet ihren Blick anschließend auf das Verhältnis
von Sexualitäten und Männlichkeiten. Sie plädiert für eine
Wahrnehmung von Männlichkeiten, in der sowohl negative als auch
positive Aspekte männlicher Sexualität in der Forschung betrachtet
werden können. Sie will einen Fokus einseitiger Betrachtungen
negativer Seiten von Männlichkeit verlassen, wie er ihrer Meinung
nach mit einem machtanalytischen und herrschaftskritischen
Verständnis von Männlichkeit verbunden ist. Mit Konzepten wie zum
Beispiel einer »balancierten Männlichkeit« oder von »queer
straighten Männlichkeiten« (S. 42) soll es ermöglicht werden,
Aspekten wie »sexuelle Lust« und »zwischenmenschliche Nähe und
Bindung« (S. 64) eine positive Gewichtung in Verständnisweisen von
Männlichkeiten zu geben. Ob allerdings mit einer Pluralisierung von
Männlichkeiten auch Hierarchiesierungen und Herrschaftsverhältnisse
in Frage gestellt oder aufgelöst werden, bleibt eine offene
Frage.
Nachdem die Begriffe Sexualitäten und Männlichkeiten erläutert
worden sind, wird von Heinz-Jürgen Voß und Doris Bardehle der
Begriff der sexuellen Gesundheit eingeführt, wie er sich im Rahmen
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt hat. Sexualität
und Gesundheit werden dabei nicht reduziert betrachtet. Vielmehr
ist »sexuelle Gesundheit [...] untrennbar mit Gesundheit insgesamt,
mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden« (S. 83). Gesundheit
ist nicht nur Fehlen von Krankheit, sondern vielmehr körperliches,
emotionales, mentales und soziales Wohlbefinden in Bezug auf
Sexualität. Hier wird eine Perspektive des prinzipiell Möglichen
eingenommen, mit der es um Bedingungen für ein gutes Leben für alle
geht. Diese Bedingungen müssen realpolitisch erkämpft werden.
Wider die binäre Zweigeschlechtlichkeit
In dem
programmatischen Titel »Männergesundheitsbericht« liegt bereits ein
grundsätzlicher Widerspruch, ist doch damit »eine Binarität von
Geschlecht suggeriert«, die dazu auffordert, »rationalisiert über
etwas zu schreiben, das nicht binär und nicht rationalisierbar ist
- über Geschlecht« (S. 240). Arn Sauer und Annette Güldenring
problematisieren, dass das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit immer
wieder als begrenztes und begrenzendes Denksystem auftaucht. Dabei
bringt es ihrer Meinung nach mehr Probleme als Lösungen mit sich,
wenn über Geschlecht, Männlichkeiten, Männer* und Sexualitäten
nachgedacht und gearbeitet wird. Sauer und Güldenring plädieren
dafür, über die Grenzen einer naturalisierenden Logik der
Zweigeschlechtlichkeit hinauszugehen, die die Auseinandersetzungen
immer noch prägt, wenn es zum Beispiel um Transgeschlechtlichkeit
geht. Auch Takle Flörcken fragt, »inwiefern Asexualitätsforschung,
die von binären Geschlechtermodellen ausgeht, geschlechtliche
Vielfalt asexueller Menschen sinnvoll abbilden kann« (S. 233). Aus
diesen Perspektiven werden verstärkt Ansätze der
Community-Forschung und Beratung gefordert. Mit ihnen werden
Hoffnungen einer stärker heterogenisierenden und
nicht-pathologisierenden Herangehensweise verknüpft, wie sie in der
vorherrschenden medizinischen, psychologischen und beratenden
Praxis vermisst werden. Welche Fragen und Problemstellungen in
Ansätzen der Community-Beratung auftauchen können, bleibt an dieser
Stelle unbesprochen, geht es doch hier vor allem darum, zunächst
Alternativen zu vorherrschenden Praxen zu stärken.
Eine Heterogenisierung von männlichen beziehungsweise
geschlechtlichen Wirklichkeiten steht in einem Spannungsverhältnis
gegenüber zweigeschlechtlicher Vereindeutigung, wie sie –
vielleicht notwendigerweise – in Beiträgen über den Zusammenhang
von Sexualität, sexuellen Störungen und Identität mit Fokus auf
Cis-Männer entsteht. Diese Spannungen sind in dem Band aber keine
ärgerlichen gegenseitigen Ausschließungen, sondern erscheinen
vielmehr produktiv, weil bei allen Autor*innen das Bemühen um die
Anerkennung von Heterogenität deutlich zum Ausdruck kommt.
Überraschende Schnittstellen...
Die inhaltliche
Breite der Themen bringt überraschende Überschneidungen hervor, die
dazu anregen, an den Schnittstellen weiterzudenken. Ein Beispiel
findet seinen Ausgangspunkt bei Aisha-Nusrat Ahmad und Phil C.
Langer, die auf chronische Erkrankungen, Sexualitäten und
Männlichkeiten blicken. Sie argumentieren zunächst, dass die
vorherrschende soziale Konstruktion von Männlichkeit immer noch mit
Vorstellungen von »Macht, körperlicher Stärke,
Durchsetzungsfähigkeit, sexueller Potenz usw. aufgeladen ist«.
Davon ausgehend bedeuten »chronische Erkrankungen gleichwohl eine
tiefgreifende Problematisierung des vergeschlechtlichten
Selbstbildes und der sozialen Agency/Handlungsfähigkeit« (S.
341).
Eine Folge, so konkretisieren sie weiter, kann eine »abnehmende
Möglichkeit einer Erektion und das infolgedessen (meist) veränderte
Sexualleben« sein (S. 341). Von Betroffenen kann das als Entziehung
ihrer Männlichkeit betrachtet werden. Ahmad und Langer verweisen
auf Schwierigkeiten in Bezug auf die Verwendung von sexuellen
»Hilfsmitteln«. Sie beschreiben, wie schwierig es für einen Teil
von Männern ist, alternative Formen der Sexualität zu erproben.
»Wenn du es aufblasen musst, um es hochzubringen, vergiss es; es
ist nicht natürlich, wenn Du es tust. Ich will einfach, uh, kein
künstlicher Mann sein« (S. 343). Die Männlichkeitsanforderung
Erektionsfähigkeit und eine bestimmte Vorstellung von Sexualität
stellen sich hier als Hindernis für einen vielleicht hilfreichen,
alternativen Umgang mit den Folgen chronischer Erkrankungen auf das
Sexualleben dar. Anja Drews bringt aus einer völlig anderen
Blickrichtung auf den Umgang mit Sextoys einen mögliche Perspektive
so auf den Punkt:
»Wenn wir es schaffen, den Fokus jenseits vom Geschlechtsverkehr
auf eine spielerische, weniger genitalzentrierte Sexualität zu
richten, wenn die männliche Erektion nicht mehr maßgeblich
verantwortlich ist für eine erfüllte Sexualität und von diesem
Druck befreit wird, kann Sexspielzeug eine sinnvolle Erweiterung
der sinnlichen Genüsse darstellen« (S. 289).
...und wichtige Anstöße
Angesichts der Diagnose
über die aktualisierte Politisierung von Sexualitäten und
Geschlechterverhältnissen, ist in dem Männergesundheitsbericht 2017
eine wichtige Stimme für eine geschlechtliche und sexuelle
Vielfalts- und Gerechtigkeitspolitik zu sehen. Orientierungspunkte
für die Ausrichtung des Berichts stellen reale Bedürfnisse in einer
heterogenen geschlechtlichen und sexuellen Wirklichkeit dar. Das
erscheint umso wichtiger, sind Männlichkeit und Sexualität derzeit
doch zu einem umkämpften Terrain geworden, wie lange nicht mehr.
Für weitere wissenschaftlich-praktische Diskussionen in den
Arbeitsfeldern Medizin, sexual- und geschlechterreflektierte
Pädagogik, soziale Arbeit, (Psycho-)Therapie sowie kritische
Geschlechter-, Männlichkeits- und Männer*forschung sind eine Fülle
von Informationen und Anregungen mit dem Bericht vorgelegt. Es ist
zu hoffen, dass der engagierte Austausch im Rahmen der
interdisziplinären Zusammenarbeit an dem Bericht fortgesetzt wird.
Eine gemeinsame respektvolle und herrschaftskritische
Sprachfindung, ohne eine Leitbegrifflichkeit vorzugeben sowie eine
Weiterentwicklung von Praxen, die von der Anerkennung einer
sexuellen und geschlechtlichen Heterogenität gekennzeichnet ist,
scheint nicht nur angesichts der Angriffe von rechts nötiger denn
je.
www.kritisch-lesen.de