Rezension zu »O Wollust, o Hölle«

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Rezension von Paul Parin

Die Geschichte einer Inquisition – neu aufgelegt

Der Autor Lütkehaus ist Professor für Literaturwissenschaften. In dem Buch, das nach mehr als zehn Jahren neu aufgelegt wurde, hat er den literarischen Niederschlag einer Epoche versammelt, in der bedeutende aufgeklärte Philosophen, Dichter und Schriftsteller einer Inquisition ausgesetzt waren. Die Onanie, eine Sünde, war zu einem Laster wider das Gesetz der Natur erklärt worden, das Kinder und Jugendliche ergreift. Sie betrieben ihre Sucht heimlich, die ohne Aussicht auf Heilung zu Krankheit, Siechtum und zu einem frühen Tod führt.

Die Aufklärung hatte das Bild des Menschen verändert. Die Onanie, eine schändliche Sünde gegen die christliche Moral, wurde zur Krankheit erklärt und medizinisch-naturwissenschaftlich beschrieben und untersucht.
Noch während der Französischen Revolution hat der Arzt Philippe Pinel /1745-1826) die Irren »befreit«. Sie waren nicht mehr gefährliche Monster, die Angst und Abscheu erregten und mit brutaler Härte behandelt wurden. Als Menschen waren sie jeder Fürsorge und Therapie bedürftig. Die Arbeitskraft der Geheilten konnte der aufblühenden Industriewirtschaft zugute kommen.
Die grundlegende Abhandlung über die Krankheit Onanie hat Simon-André-David Tissot verfasst. Die Sucht Onanie – für die bald weniger anstößige Namen gefunden wurden – befällt Knaben und Mädchen. Auch bei sorgfältigster Überwachung kann sich das Kind nicht befreien. Wer der Sucht verfallen ist, begeht Selbstmord; denn die tödlichen Krankheiten, die sie unausweichlich nach sich zieht, führen nach langem Siechtum zu einem frühen Tod.

In einem brillanten Vorwort stellt Lütkehaus dar, wie sehr sich die aufgeklärten Geister – angefangen von J. J. Rousseau – von Tissot und seinesgleichen überzeugen ließen. Die medizinische Theorie ließ sich zu einer rücksichtslosen Jagd gegen jeden, der in Verdacht geriet, verwenden. Friedrich Nietzsche hat seine langjährige Freundschaft mit Richard Wagner brüsk abgebrochen, als er vernahm, Wagner habe den Verdacht geäußert, sein Hirnleiden sei eine Folge des verwerflichen heimlichen Lasters.

(Seither hat der Fortschritt der Medizin den Zusammenhang der furchtbaren Folgekrankheiten mit der Onanie und auch die Diagnostik der angedrohten Krankheiten hinfällig werden lassen. Tissots Schreckbild gilt heute als überholte, skurrile und pseudowissenschaftliche Zeiterscheinung.)
Die Sammlung von Texten reicht bis zu jenen Schriftstellern, die am makabren Szenario zweifelten, und bis zur Psychoanalyse. In Freuds Schlusswort der Onaniediskussion und dem Beitrag von Wilhelm Stekel, Freuds später verstoßenem Anhänger, war die Schrecken erregende Umdeutung der sexuellen Gewohnheit ihrer Grundlage beraubt und endgültig erledigt; so schien es.
Lütkehaus hat erfahren, dass ein Tabu fortbestand, über das »geheime« Laster zu sprechen. Untergründig wirkte die Inquisition fort. Schon bei der Sammlung der Texte stieß er auf Hindernisse. Als er in einem liberalen Universitäts-Institut einen Vortrag über »Die Onanie in der Literatur« anmeldete, ersuchte man ihn, einen weniger anstößigen Titel zu wählen. Dies war Grund genug, die Debatte mit einer neuen Ausgabe wieder in Gang zu bringen. Im kurzen Vorwort zur 3. Auflage weist er auf einen weiteren Anlass hin: Die weit verbreitete Darbietung von Vorlagen zur Onanie im Fernsehen und anderen Medien. »Es ist überdeutlich, dass die kommerzialisierte Sexualität ihr Entsublimierungsgeschäft auf der Basis überkommener Tabus und Neurosen treibt.«

Der Psychosozial-Verlag hat eine Rezension von mir verlangt. Man wählte einen sehr alten Psychoanalytiker, der Stadien der Onanie-Debatte miterlebt hat. Vielleicht würde er dazu helfen, das inquisitorische Potenzial des überholten Hexenglaubens endgültig zu entkräften.

Als der Band vor mir lag, habe ich den Wink verstanden. Auf dem Umschlag ein Kupferstich von Rembrandt »Nackter männlicher Akt mit gefalteten Händen«. Der gegenüber sitzende Mann hat sein Glied mit beiden Händen gefasst. Der Gesichtsausdruck des zur Seite geneigten Kopfes ist zugleich verzückt und verstört. Ich sollte ohne euphemistische Verschleierung, wie es die »gefalteten Hände« sind, sagen, was ich von der Selbstbefriedigung halte.
Ich kann bestätigen, dass der Mythos von der Schädlichkeit der Onanie fortbesteht. Während meiner Analyse bei Rudolf Brun in Zürich, 1946-1948, hat der Professor oft ungefragt an Redaktionen von Lokalblättern und kirchlichen Publikationen geschrieben, sie sollten ihren Lesern nicht einen solchen schädlichen Unsinn vermitteln. Bereits in den zwanziger Jahren hat der berühmte Hirnforscher Konstantin von Monakow das »Eidetische Gewissen« postuliert. Wie die aufgeklärten Inquisitoren in Lütkehaus Buch nahm er an, dass jedem Menschen ein Gewissen innewohnt, das den Verstoß gegen die Gesetze der Natur mit Schamgefühlen verdeckt und mit Schuldgefühlen bestraft.
Als ich im Jahre 1952 meine Praxis in Zürich begann, war die Mehrzahl meiner Patienten und Patientinnen aus protestantischen und aus katholischen Familien – von ihrer Schuld überzeugt und fürchtete die schrecklichsten Krankheiten. Der Irrglaube war ihnen in der Familie eingeprägt worden.

Doch auch Psychoanalytiker hatten Respekt vor dem alten Aberglauben. Im Jahr 1960 hat Professor Heinrich Meng, der als Emigrant in Basel dozierte, einen Sammelband »Psyche und Hormon« herausgegeben, mit der Fallgeschichte über eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie von mir. Im gleichen Band der Beitrag eines Biochemikers in Jerusalem, in dem der Autor eine Polemik gegen das »schädliche Laster« der Onanie eingeschoben hatte. Es bedurfte der Drohung meinen Aufsatz zurückzuziehen, bis Meng sich widerstrebend entschloss, den Autor zu bitten, den Passus wegzulassen oder umzuschreiben. Man könne den berühmten Forscher nicht zensurieren. Der Professor in Jerusalem entschuldigte sich, er habe unbedacht die herrschende Meinung wiedergegeben und war mit der Streichung einverstanden. Meng galt als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker Deutschlands, stand dem Frankfurter Institut von Adorno und Horkheimer nahe, arbeitete noch lange in Basel als Analytiker und publizierte über die Freudsche Methode.

Auf einen weiteren Anlass zur neuen Ausgabe konnte Lütkehaus vor mehr als zehn Jahren nicht eingehen, der sich neuerdings ergibt. Seither hat sich das Gesichtsfeld der Psychoanalyse erweitert. Analog »zum widening scope« bei der Erweiterung der Ich-Psychologie in den fünfziger Jahren kann man vom »widening scope« der Ethnopsychoanalyse sprechen.
Seit das Biographische Lexikon »Psychoanalyse und Ethnologie« von Johannes Reichmayr und Mitarb. Erschienen ist, kann man die öffentliche Meinung psychoanalytisch durchleuchten.
Der inquisitorische Missbrauch irrationaler Ideologien ist von »socialy shared fantasies« (s.s.f.) – in der Gemeinschaft wirksamen Fantasien – getragen. Die Untersuchung der öffentlichen Meinung ist gerade heute ein noch ungelöstes Problem zur Erfassung der Tagespolitik.
In jeder Gemeinschaft kann die Aufteilung der Menschen nach dem manichäischen Prinzip erzeugt werden. Wir sind die Guten, Edlen, Reinen, die Anderen sind böse, aggressiv und in jeder Hinsicht verwerflich; dazu kann es in Familien, Klans, Stämmen, Völkern oder Staaten kommen.
Ich spreche vom Projektiven Syndrom, und analysiere Staaten, deren Geschichte dokumentiert ist. Eine Gruppe sieht die bestehende Ordnung in Gefahr, durch Seuchen, Kriegsdrohung oder revolutionäre Widersacher; oder der Staat beansprucht die Vorherrschaft – Hegemonie – über andere. Es gelingt – schon vor der Erfindung von Radio und Fernsehen – in kurzer Zeit, die Anderen zu Unmenschen zu erklären. Die s.s.f. werden zu einer aggressiven Ideologie; das Mittel dazu sind Projektionen. Religiöse Vorurteile oder nationale Reminiszenzen modifizieren die Projektion zum Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation. Projektionen könnten relativ leicht zurückgenommen oder gelöscht werden; die projektive Identifikation richtet sich auf eine mit Erfahrungen oder Vorurteilen besetzte Entität. Das Projektive Syndrom stärkt den Zusammenhalt der Gruppe und iniziiert den aggressiven Konflikt. Das Ziel ist die Bestätigung einer Übermacht und der wahnhaften Überlegenheit der Unseren. Die Anderen müssen unterworfen, vertrieben oder vernichtet werden. Der Sieg lohnt sich materiell, durch Macht, Ehre und dergleichen und ist großer Anstrengungen und vieler Opfer wert.

Die projizierende Gruppe wird oft von einem Führer inspiriert, der mit dem Sieg sein grandioses Selbst realisiert. Während der Kampfphase verfolgt der Führer »mit nachtwandlerischer Sicherheit« sein ziel und schenkt den Folgen der ausgelösten Destruktivität keine Aufmerksamkeit. Jede Kritik wird unterdrückt und gilt als Verrat. Seine engsten Mitarbeiter erweisen sich als seine narzisstischen Partialobjekte. Solange das Machtgefüge hält, wird Abfall mit dem Tode bestraft.

Kritische Geister neigen dazu, den Führer als geisteskrank zu bezeichnen. In seinem Wahn ist er logisch und einfühlend, hat jedoch für alles übrige kein Gehör. Außerhalb der Inszenierung handelt er deshalb oft wie ein Schwachsinniger.
Als Beispiel nehme ich die Vertreibung der Juden und die Entstehung des Antisemitismus in Spanien. Die Pest wütete nacheinander in allen Ländern Europas. Weder säkulare und medizinische noch kirchliche Mittel wurden gefunden, um die Völker zu bewahren und Angst und Schrecken zu mildern. Der Zerfall des Staates drohte. Im christlichen Spanien – dem letzten Staat in Europa – wurden die Juden 1492 zum bösen Anderen erklärt. Die biblische Überlieferung musste umgeschrieben werden; alle Ungläubigen wurden zum Sündenbock. Die Mauren wurden vertrieben und viele Juden ließen sich taufen. Man war nicht lange in Verlegenheit, andere Kriterien für ihre Verwerflichkeit zu finden: Juden sind gottlos, sittenlos, zu reichen, zu arm und schmutzig, u.s.w.
Die Inquisition des Heiligen Offiziums richtete sich auf andere Ungläubige und diente in vielen Staaten noch Jahrhunderte danach als Ideologie, um Menschen, die der Subversion verdächtig waren, Ketzer, Hexen und Freigeister zu terrorisieren und zu vernichten. (Lütkehaus nennt die Jagd auf Onanisten Inquisition.)

Politiker, die das Projektive Syndrom in Gang setzen, durchschauen ihre Motive nicht, sie sind unbewusst. Das Syndrom ist bei vielen Kriegen der Neuzeit aus sehr verschiedenem Anlass aufgetreten. Ich erinnere an die Religionskriege nach der Reformation und an die Kolonialkriege, die lange vor dem Holocaust zu den größtem Genoziden geführt haben. Damals ist die Theorie des Sozialdarwinismus entstanden. Charles Darwin hat empört abgelehnt, dass seine Hypothese biologischer Entwicklungen, die mit Hunderten Millionen Jahren rechnete, zur Legitimation kurzfristiger Ansprüche missbraucht würde.
So verschieden die Anlässe auch waren, das Projektive Syndrom durchzuspielen, muss uns hier der Kampf gegen einen »inneren Feind« beschäftigen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums war die kommunistische Gesinnung nicht mehr ein überzeugendes Kriterium der Verwerflichkeit.

Um die Opfer einer Epidemie als die Anderen abzugrenzen, brauchte es eine besondere Anstrengung. Sexuell übertragene Ansteckung verwies auf die Sittenlosigkeit der Anderen. Für die Syphilis wurde – wie wir lesen – die christliche Verurteilung des Onanismus mit einer aufgeklärten Begründung versehen. Als in den achtziger Jahren Aids aufkam, hat ein amerikanischer Politiker, Pat Buchanan, der später für das Amt des Präsidenten kandidierte, auf den Rassismus im Hitlerreich zurückgegriffen. In TV-Sendungen forderte er, man müsse alle angesteckten Homosexuellen in Lagern isolieren, eventuell vernichten, um den Volkskörper zu schützen.

Andere Süchte boten sich an. Das Alkoholverbot in den USA, die Prohibition, hatte zu solchen Missständen geführt, Gangstertum u.a., dass es schließlich abgeschafft werden musste. Trinker sind nicht mehr Zielgruppe sondern Kranke, die nur gefährlich werden, wenn sie Motorfahrzeuge lenken.
Nach diesem Fehlschlag des Projektiven Syndroms ist es verwunderlich, das Konsumenten anderer Drogen, Heroin, Kokain oder des weniger schädlichen Hanf, Cannabis, zur Out-Group erklärt und ihnen der Kampf angesagt wurde. Verwerflich war, dass vor allem junge Menschen von der Sucht angesteckt wurden. Durch die Verbote wurde die Ausbreitung der Sucht befördert, im Drogenhandel wurden große Summen verdient und in ihre Bekämpfung werden Milliarden investiert. Doch die Ausgrenzung der Gruppe gelingt immer weniger. Männer, Frauen und Kinder aller Länder und aller Klassen betreiben ihre Sucht, ohne sich zu wehren, und lassen sich mitunter ärztlich behandeln. Das erinnert an die letzte Station der Onanismus-Inquisition.

Das Feindbild scheint abhanden zu kommen. Ein Ersatz wäre nötig. Eine leicht erkennbare Gruppe von hartnäckig Süchtigen sind Raucherinnen und Raucher. Das schädliche Laster wurde zuerst in den USA unter J. F. Kennedy angeprangert, aber ausdrücklich nicht als Sucht bezeichnet. Seither haben sich fast alle reichen Staaten einer Kampagne gegen das Rauchen angeschlossen. Gleichzeitig mit dem Erlass von Verboten vermehrt sich die Zahl süchtiger Raucher. Man hört nichts von Rauchverboten aus den Staaten, in denen Massen von hungernden und verelendeten Menschen, ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung, leben.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die wissenschaftliche Begründung der Rauchverbote zu verantworten. Der statistische Nachweis der Spätschäden gilt für alle Menschen. Doch werden kaum Daten veröffentlicht, die Schäden durch Rauchen mit anderen Schädigungen vergleichen, die der zivilisatorische Prozess verursacht.
Der Rezensent ist 87 Jahre alt und seit dem 16. Lebensjahr süchtiger Raucher. Seit ich vor bald siebzig Jahren das Medizinstudium begonnen habe, weiß ich über die Gefahren von Spätschäden Bescheid; habe aber das Rauchen nie aufgegeben.
Meine Zigarettenmarke wird an den internationalen Flughäfen verkauft. Dort sind die blauen Packungen mit einem weißen Aufdruck versehen, darauf in dicken schwarzen Lettern: Smoking kills. Protect children: dont make them breathe your smoke (Rauchen tötet. Schütze die Kinder, dass sie deinen Rauch nicht einatmen).
Bin ich ein Kindermörder? Müssen wir auf eine Inquisition gegen Raucherinnen und Raucher gefasst sein?

Literatur:
Reichmayr, Johannes; Wagner, Ursula; Ouederrou, Caroline; Pletzer, Binja:
Psychoanalyse und Ethnologie. Biographisches Lexikon der psychoanalytischen Ethnologie, Ethnopsychoanalyse und interkulturellen Therapie, Gießen 2003: Psychosozial-Verlag.

Wirth, Hans-Jürgen: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen 2002: Psychosozial-Verlag.





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