Rezension zu Gesamtausgabe in 23 Bänden (SFG)
RISS Nr. 87 1-2018
Rezension von Karl-Josef Pazzini
Der siebte Band enthält Schriften aus den Jahren 1897 bis 1899. Es
ist die Zeit des intensiven Austauschs mit Wilhelm Fließ. Freud
wird 1897 außerordentlicher Professor. Im Zusammenhang damit sind
»Inhaltsangaben der wissenschaftlichen Arbeiten des Privatdozenten
Dr. Sigm. Freud« zu sehen.
Die zweite abgedruckte Arbeit, »Die infantile Cerebrallähmung«, ist
für den Zeitraum, den der Band eigentlich umfasst, insofern
veraltet, als Freud sich nun eher auf das konzentriert, was später
»Psychoanalyse« heißen wird. Die »Cerebrallähmung« gehört noch zu
den Forschungen der Somaanalyse, könnte man sagen. Dieser Teil
umfasst inklusive der angehängten etwa 80 Rezensionen zum Thema
knapp 400 Seiten des Bandes. Es ist faszinierend, zu verfolgen, wie
Freud mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen in die
Darstellung einsteigt, der Frage nachgeht, wie eine Systematik von
Bezeichnungen gewonnen werden könne für unterschiedliche
Erscheinungen von Krankheiten und den Status der Bezeichnungen für
die Theoriebildung. Geht es bei den Überschriften der Lehrbücher um
Symptome, Syndrome, Krankheitsbilder oder Krankheitsnamen, sind es
rein klinische, rein pathologisch-anatomische oder Mischformen? (44
f.). »Man muss ein nosographisches System, in welchem pathologische
Entitäten von so verschiedenem Werth und Herkunft wie
gleichberechtigt neben einander stehen, für ein sehr unvollkommenes
erklären, und kann den Autoren einen Vorwurf daraus machen, dass
sie nicht mehr bestrebt sind, diese Mängel den Ärzten klar zu
Bewusstsein zu bringen, um ihnen dadurch eine Reihe von
unausgesetzten Missverständnissen und Denkfehlern zu ersparen. Für
die Mängel selbst ist nur der gegenwärtige Zustand unseres Wissens
verantwortlich.« (48 f.). Er macht deutlich, wie Beschreibung,
Theoretisierung und Behandlungsmöglichkeiten zusammengehen. Der
medizinische Laie wird mit einer theoretischen Aufarbeitung dessen,
was man wissen kann, konfrontiert, in der damaligen Gegenwart wie
auch historisch. Freud produziert tabellarische Übersichten der von
einzelnen Forschern genauer untersuchten Fälle (eine Tabelle,
eingeteilt in Kategorie, Ätiologie, klinische Form bis zur
Autopsie, liegt dem Band bei). Bemerkenswert, wie Freud nicht nur
die Symptome im Auge hat, sondern auch deren individuelle
Wertigkeit (z.B. 163). Die Schrift zeugt von Handwerk
unterschiedlicher Art, nicht zuletzt dem der scharfen theoretischen
Fassung. Insofern unterscheidet sie sich doch nicht von den
psychoanalytischen Schriften. Auch nicht in der Klarheit der
Argumentation, die an sich schon ästhetisch Freude macht. Diese
Schrift und die Gesamtheit der Rezensionen dazu waren bisher in
keiner der Freud-Ausgaben publiziert.
Es folgen »Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen« (Freud
nennt ihn, so Tögel, in einem Brief an Fließ Gartenlaubenartikel,
ziemlich frech und wesentlich bestimmt Ärgernis zu geben), »Zum
psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit« und »Über
Deckerinnerungen«.
Band 7 bringt die »Traumdeutung« in der ersten Auflage so, wie sie
im
November 1899 erschien, zum Abdruck. Auch diesem Band ist eine
kurze Einleitung des Herausgebers, Christoph Tögel, vorangestellt.
In kurzen Zügen wird die Vorgeschichte zur intensiven Beschäftigung
Freuds mit der Traumdeutung skizziert, angefangen mit den
»ungefügigen Träumen«, aufgezeichnet in einem Privattraumbuch, von
denen Freud an seine Braut schreibt, dann im Briefwechsel mit
Wilhelm Fließ bis zu den nachweisbaren Lektüren zur
Traumforschung.
Interessant auch die Herkunft des Mottos »Flectere si nequeo
superos, archeronta movebo« , das Freud, obwohl mit Vergil
vertraut, aus einer Broschüre von Ferdinand Lasalle mit dem Titel
»Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens« übernahm, was
Tögel entdeckt. Das ergibt für das Motto einen sozialen und
politischen Zusammenhang, nicht nur einen humanistisch gelehrten.
Es ist jener Lassalle, den
Freud auch mit einem Zitat aus seiner
Verteidigungsrede vor dem Berliner Kriminalgericht von 1863 in
einem Brief an Jung in Sachen Sabina Spielrein erwähnt. Freud nutzt
dabei Lassalles Bild von der springenden Eprouvette des Chemikers
beim Experiment, das ihn nicht an der weiteren Forschung hindern
werde: »Mit einem leisen Stirnrunzeln über den Widerstand der
Materie setzt er, sowie die Störung beseitigt ist, ruhig seine
Forschungen und Arbeiten fort. Aber um der Nation und ihrer Ehre
willen, um der Wissenschaft und ihrer Würde, um des Landes und
seiner gesetzlichen Freiheit, um des Angedenkens willen,
(...).«
Eine Kleinigkeit, die bisher nicht publiziert war: Freud hat in
seinem Druckexemplar auf der Rückseite des Inhaltsverzeichnisses
›Errata‹ notiert, die er ernst nahm als Verschiebungen und Symptome
und in »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« (1901) als
Beispiele analysierte.