Rezension zu Das Lied des Grünen Löwen

Jahrbuch Musiktherapie Band 10, 2014 (Dr. Ludwig Reichert Verlag)

Rezension von Dorothea Dülberg

Wer dieses Buch liest, begibt sich auf eine ausgedehnte Reise durch viele Jahrhunderte abendländischer Geistes- und Kulturgeschichte. Mit Erläuterungen zu Konzepten der Analytischen Therapie in Verbindung mit musikwissenschaftlichen Werkbeschreibungen zu europäischer Klavier- und Orgelmusik großer Musikmeister soll nicht weniger als die Geschichte der Entwicklung der individuellen Psyche aus der kollektiven Psyche heraus nachgezeichnet werden. Dabei betrachtet der Autor die Musikgeschichte als »eine Art lebendes, erlebbares Museum der verschiedenen Entwicklungsstadien« (391) hin zur Individualisierung: Anhand zahlreicher Musikbeispiele erläutert er seine These, dass die beschriebene Musik nachvollziehbar mache, wie die »belebte Natur, die Rhythmen der Rituale und der Mythologie, schließlich auch die sozialen Strukturen ... im Laufe des Kulturprozesses ins Innere der Psyche hinein« kamen (a.a.O.).

Eine Reise dieser Dimension braucht Etappen, und so gliedert sich dieses Buch in 12 Abschnitte, die ergänzt sind durch Abbildungen aus verschiedenen Jahrhunderten, durch viele Notenbeispiele und einige illustrierende Grafiken. Der reichhaltige Anhang liefert notwendiges Rüstzeug für die lange Lesereise mit Anmerkungen, Literaturliste, einer Zusammenstellung der ausführlich besprochenen Musikstücke und dem wertvollen Hinweis, dass die Einspielungen dieser Werke, zum Großteil vom Autor als Pianisten selber vorgenommen, kostenlos als download auf der Internetseite des Verlages zur Verfügung stehen.

Jörg Rasche, Jahrgang 1950, ist Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse und Psychotherapie. Er ist Dozent an den C. G. Jung-Instituten Berlin und Zürich, Kirchenmusiker und Pianist. Für ihn ist Musik »nicht Ersatz, nicht Regression, nicht Pathologie, nicht Als-ob, sondern eine Art, partizipierend in der Welt zu sein und zu leben« (a.a.O.). Die Entwicklung und der bleibende Zugang zum »partizipierenden Bewusstsein« wird dem Autor zu einem Hauptthema der Reise durch die Jahrhunderte. Er versteht dies als Ausbildung einer Bewusstheit, die auch das eingeübte Hören auf die Stimmen des Unbewussten mitumfasst. Dass er zur Entwicklung dieses »partizipierenden Bewusstseins« als Jung/'scher Analytiker einen Beitrag leisten möchte, wird als engagiertes Anliegen deutlich, unterstrichen von biographischen Erzählungen zum eigenen Musikerleben und einer persönlichen Widmung zu Beginn: »Ich widme das Buch all denen, die Kinder zum Hören ermutigen«.

Das Symbol des Grünen Löwen im Buchtitel stammt aus dem »Rosengarten der Weisen«, (Rosarium Philosophorum) einem alchemistischen Werk des 13. Jahrhunderts, das in 10 Stufen die Bereitung des »Stein der Weisen« als äußeres Werk und inneren Weg beschreibt. Der Grüne Löwe ist in vielen Geschichten des Mittelalters ein Gefährte der Weisen und Zauberer, er versinnbildlicht Wandlungsprozesse als dynamisches Geschehen mit offener Richtung. »Als alchemistisches Prinzip löst der Grüne Löwe alle Bedeutungen und Sicherheiten auf, um etwas Neues zu ermöglichen« (385). In diesem Sinne ist es ein passendes Bild auf ebenfalls grünem Umschlagcover.

Rasche verweist in seiner Arbeit durchgehend auf »Analogien zwischen musikalischen und alchemistischen Strukturen« (25) und ordnet, C. G. Jung folgend, »die Bilderwelten der Alchemisten als Bild-Protokolle unbewusster Fantasien« (a.a.O.) ein. Das fordert vom Leser eine Haltung vorurteilsfreier Neugier und Durchhaltewillen, um diesen vielen thematischen Verästelungen in jedem Kapitel aufs Neue folgen zu wollen.

An den Werken der Passacaglia c-moll von Johann Sebastian Bach und der Klaviersonate op. 110 von Ludwig van Beethoven erläutert der Autor im 1. Kapitel seine Thesen zunächst exemplarisch: In der Form eines Schreittanzes und der anschließenden Fuge bei Bach beschreibe die Musik einen Wandlungsvorgang, in dem Vertrautes zerbreche und ein neues Individuum geboren werde. Bach schrieb dieses Werk in einer Zeit des Umbruchs der begonnenen Aufklärung, in der die gefügte mittelalterliche Welt mit ihren christlichen Vorstellungen Risse bekommen hatte und die Individualität des Einzelnen als neues Thema entstand. Beides habe Bach in diese Musik des Schreittanzes und der Fuge hineingearbeitet. Als Mystiker, der bereit gewesen sei für die Begegnung mit dem Transpersonalen, habe Bach in großer Intuition diese Themen erfassen und in einer »Semantik der Beziehungen« (387) bearbeiten können.

In Beethovens Klaviersonate op. 110 begegnen sich mehrere Themenkomplexe und Motive, viele Variationen und Überleitungsmotive sind zu hören. Für Rasche sind dies Abbildungen von sich immer weiter differenzierenden Ich-Strukturen: »Aus Strukturen der alten kollektiven Psyche wurden Elemente des individuellen Seelenlebens« (34). Aus vieler Stimmen Rede müsse sich nun ein Sinn formen. Es gehe in Beethovens Musik um Getragen-Sein, Beziehung und Veränderung, Abschied und Trauer, Entladung und Ende – einem inneren Drama gleich. Was zuvor in »Projektionen draußen als Ritus stattfand, macht jetzt das innere Programm dieser Sonate aus« (39).

Die folgenden Kapitel entfalten diese spezifische Perspektive des Autors auf die Musik des europäischen Abendlandes. Dabei ist allein diese Zusammenschau als reichhaltige Bündelung musikgeschichtlicher Wegmarken schon wertvoll: von der Entfaltung der Kirchenmusik über Vokalpolyphonie, von der alchemistischen Musik des 15. Jahrhunderts über Bach/'sche Werke hin zum Wohltemperierten Klavier, von der Musik Mozarts über Beethoven zu Schumanns Kinderszenen und Chopins Balladen. Das Buch kann ebenso gelesen werden mit musikwissenschaftlichem Interesse an der Konzeption der vielen einzelnen Werke, die hier betrachtet werden. Die herausforderndste Perspektive ist aber wohl jene zu den deutenden Zusammenhängen, die der Autor auf Grundlage seiner analytischen Interpretation bildet:
Musik sei numinoser Ausdruck von Proportionen bei Pythagoras und der Mensch »eingebunden in die mythische Welt […] als Teil eines Ganzen« (64). Hier beginne das, was der Autor die »Fähigkeit zum partizipierenden Bewusstsein« nennt. Jeder individuelle Mensch trage archetypische Anlagen in sich, mit denen er in Verbindung treten könne und solle, denn die »Psyche selbst hat eine Tendenz, die Verwirklichung dieser grundlegenden Muster zu fordern und voranzutreiben« (72). Diese Dynamik finde ihre Spiegelung in der Musik.

Im Kapitel 3 (»Aufeinander hören – Musik und Psyche im Mittelalter«) erläutert Rasche, wie die Musik die christliche Haltung artikulierte, dass die Seele gleichsam ein Gefäß für die Begegnung mit Gott sei, ob einstimmig oder mehrstimmig vorgetragen. Die Musik habe das Denken in gerichteter Aufmerksamkeit geschult und sei so zur »gestaltgebenden Kraft (der) psychischen Struktur« geworden (91). Von der alchemistischen Musik (Kapitel 4: »Innere und äußere Welt«) über Bach (Kapitel 5: »Die Bewegung des Selbst«) kommt der Autor zu Mozarts Musik, die den Weg in Richtung ungeahnter Subjektivität nehme (Kapitel 6: »Der Weg zum inneren Paar«). Hier erklinge erstmals ein Kollektiv der Stimmen und Stimmungen im einzelnen Individuum. Fortan stellen sich neue »Vermittlungsaufgaben: zwischen dem Ich und den Affekten, Emotionen, Gefühlen, […] zwischen Begehren und Anpassung« (215). Rasches umfangreiche Musikreise durch die Geschichte kann hier nur in wenigen Umrissen skizziert werden – sein Anliegen dürfte klar geworden sein. Auf einer langen Reise voller Licht und Schatten, die in Beethovens Werken vielfachen Ausdruck erfahren haben (Kapitel 7: »Der Held und sein Schatten«, sowie Kapitel 8: »Individuation«), begann sich schließlich das Individuum auch als ein geschichtlich-biographisch gewordenes Individuum zu verstehen. Und natürlich lasse sich dies auch in den musikalischen Produktionen jener Zeit nachweisen. So spiegele die Musik zu Beginn der Moderne sowohl das eigene innere Kind mit dem Wert der Beziehung zur Mutter, z.B. in Schumanns Kinderszenen (Kapitel 9: »Das Kind und seine Eltern«) als auch die Begegnung mit seinen Schatten, z.B. in Chopins Balladen (Kapitel 10: »Die Treue und die reale Frau«).

Immer wieder führt Rasche den Begriff des »partizipierenden Bewusstseins« an, das sich in Beziehung zu Unbewusstem, zu archetypischen Strukturen befinde und das es gelte (wieder) auszubilden. Dabei könne die Musik als »Spiegel der Seele« unterstützen: »Ich möchte es so ausdrücken, dass sich in der Musik, seit Johann Sebastian Bach, etwas von dem partizipierenden Bewusstsein erhalten hat, das die Menschen früherer Zeit noch auszeichnete. Diese Ahnung spricht aus der Musik« (385). Und hier liege der Grund, warum uns Musik so sehr ergreifen und verändern könne.

Aufgrund seiner Vielschichtigkeit betrachte ich dieses Buch als eines jener Werke, das immer wieder zum Nachschlagen einladen wird, so facettenreich ist das Dargebrachte. Ein Index, der das Nachschlagen erleichtern könnte, fehlt leider.

Wie Musiktherapeuten dieses Buch in seiner Gesamtkonzeption einordnen werden, hängt sicherlich vom je eigenen professionellen Verortungshintergrund ab.

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