Rezension zu Robert Walsers Mikrogramm »Beiden klopfte das Herz«

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Rezension von Harald Weilnböck

Marius Neukom untersucht die Konstruktionsprinzipien des Erzählens über seelisch verletzende Ereignisse und nimmt die Eingangspassagen von Binjamin Wilkomirskis autobiografisch intendiertem Buch »Bruchstücke«, das eine halluzinierte KZ-Kindheit als real entwirft, zum exemplarischen Studienobjekt. Die Frage ist, welche Mittel der narrativen Rezeptionssteuerung Verständnis und eine gemeinsame narrative Bearbeitung der mentalen Verletzung erzielen und welche andererseits moralischen Druck ausüben, um eine »soziale Immunisierung des Opferstatus« zu erwirken. Ferner: wie sich dabei wahrhaftiges und fantasmatisches Erzählen zueinander verhalten. Dies deckt sich mit dem Begriff der »narrativen Wahrheit«, den Hannes Fricke in seinem Buch über »Trauma, Literatur und Empathie« für Wilkomirski geprägt hat.

In psychoanalytischer Hinsicht arbeitet Neukom im textnahen, induktiven Verfahren die Hinweise auf eine Spaltungsabwehr des Autors heraus, die freilich eine entsprechende Spaltungsübertragung auf den Leser erzeugt. Dadurch verengen sich die Distanzierungsmöglichkeiten, und der Leser wird dazu verleitet, die Opferposition zu idealisieren und gegenläufige affektive Reaktionen auf den Text dissoziativ abzuspalten. Insofern wird man den zuerst begeisterten und dann beleidigten öffentlichen Umgang mit dem Text tatsächlich als »eine gesellschaftliche Fehlleistung« betrachten können. Dies gilt freilich analog auch für Bruno Dössekker, alias Wilkomirski, der noch heute an seinem illusionistischen Biografie-Fantasma festhält. Denn sein Roman – und seine gleichzeitige Psychotherapie – sind Dössekker nicht deshalb nicht gut bekommen, weil er sich eines Verstoßes gegen die vergangenheitspolitische Etikette schuldig gemacht hätte, sondern weil er einer weit reichenden dissoziativen Verdeckung seiner eigenen, tatsächlichen Traumageschichte aufgesessen ist.

In seiner Monografie stellt Neukom einen innovativen Modus empirisch-narratologischer und psychologischer Literaturforschung vor. Er legte einen kurzen Erzähltext Robert Walsers vierzehn LeserInnen vor und befragte sie anschließend im narrativen Interview. Die systematische Typisierung der Lesereaktionen dient als heuristischer Ausgangspunkt, um Hypothesen über die interaktionalen Mechanismen der Rezeptionssteuerung des Erzählers zu bilden. Diese werden dann jedoch mit dem in der Züricher Narratologie entwickelten Verfahren der strukturellen Erzählanalyse (JAKOB) genau am Text geprüft, wodurch Neukom das notorische methodologische Transparenz-Defizit der Tiefenhermeneutik überwindet. Der psychoanalytische Befund hebt auf eine Doppelbindungsstruktur nach dem Modus der »narzisstischen Selbstobjektbeziehung« ab, was bedeutet, dass der Erzähler die Leser/innen in einem Hin-und-Her von thematischen Verführungen und Erzählverweigerungen für sich einzunehmen versucht und dabei mit abgespaltenen Fragmentierungsängste befrachtet.

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