Rezension zu Die Idee der Homosexualität musikalisieren

socialnet.de vom 12. April 2018

Rezension von Hauke Branding

Thema

Im Sammelband »Die Idee der Homosexualität musikalisieren« wird erstmals seit vielen, vielen Jahren wieder Bezug auf den in Deutschland beinahe vollkommen unbekannten französischen Theoretiker Guy Hocquenghem genommen und versucht, nebst vorsichtigen Aktualisierungs- und Anknüpfungsversuchen eine Werkschau zu leisten. In den letzten Jahren wurde Hocquenghem auch in Frankreich, Spanien, England und den USA von vielen wiederentdeckt, so erschien beispielsweise letztes Jahr in Frankreich sowohl eine ausführliche Biographie Hocquenghems (Idier 2017), als auch eine Neuauflage der wesentlichen Teile seines journalistischen Werkes (Hocquenghem 2017). Aufgrund seiner Unbekanntheit soll dieser hier kurz vorgestellt werden.

Guy Hocquenghem (*1946) war ein französischer Philosoph und Schriftsteller, Kommunist und Schwulenaktivist. In bürgerlichem Elternhaus aufgewachsen besuchte er die renommierte Lycée Henri IV in Paris, wo der Philosoph und Fourier-Experte René Schérer sein Lehrer und wenig später auch Liebhaber wurde. Nach einigen Jahren in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei beteiligte er sich, mittlerweile an der École normale supérieure eingeschrieben, an den Mai-Protesten in Paris 1968. Innerhalb der Studierendenbewegung wurde er durch seine Mitarbeit an der marxistischen Zeitschrift Action und der Mitbegründung des Front homosexuel d/'action révolutionnaire (FHAR) bekannt und setzte sich als Teil dieser Gruppe linksradikaler Lesben und Schwulen gegen die damals in Frankreich herrschende Pathologisierung und Kriminalisierung der Homosexualität ein. 1972 erschien sein theoretisches Hauptwerk, »Le désir homosexuel«, das (im anglo- und frankophonen Raum) mittlerweile als Grundlagentext der Queer-Theory gilt. Er starb 1988 im Alter von nur 41 Jahren an den Folgen einer Aids-Erkrankung.

Herausgeber*in

Herausgegeben wird der Sammelband von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, Inhaber*in der Forschungsprofessur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg, als 11. Teil der Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft« im Gießener Psychosozial-Verlag. Im Fokus dieser interdisziplinären Reihe stehen vor allem Fragen nach einem selbstbestimmten Umgang mit Geschlecht und Sexualität sowie ihrer Einbettung in die gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnisse.

Entstehungshintergrund

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von 1968 und der damit verbundenen »Sexuellen Revolution« sowie des 30. Todestages von Guy Hocquenghem möchten die Autor*innen des Bandes sich mit dessen Überlegungen befassen. Sie erhoffen sich neue Perspektiven im Hinblick auf »Fragen (…), die heute wieder aktuell sind und derzeit in größerer Breite bearbeitet werden.« (S. 8) Dazu gehörten zum Beispiel diejenigen nach (homosexueller/sexueller) Identität und Objektwahl, nach (der Möglichkeit) queerer Politik und Intervention genauso wie diejenigen nach sexistischen und/oder rassistischen Zuschreibungen.

Aufbau

Das angenehm kompakte Bändchen (128 Seiten) versammelt fünf Beiträge und beginnt mit »Guy Hocquenghem revisited: Seine Aktualität für queere Reflexionen« von Heinz-Jürgen Voß, der als kurze Einordnung und Einleitung in den Sammelband fungiert.

In Rüdiger Lautmanns Text »Guy Hocquenghem – wiedergelesen« werden Hocquenghems Werk und Theorie ausführlich vorgestellt, gefolgt von Norbert Recks Versuch, die Anschlussfähigkeit von Hocquenghems Überlegungen für eine queere Theologie auszuloten (»Befreiung von der Homosexualität: Ein Kapitel Queer-Theologie in Auseinandersetzung mit Guy Hocquenghem«).

Beschlossen wird der inhaltliche Teil des Bandes mit der von Salih Alexander Wolter besorgten Übersetzung von »Wir können nicht alle im Bett sterben« (von Guy Hocquenghem – erstmalig am 29. März 1976 in der Libération erschienen) und der Einordnung und Ausdeutung dieses kurzen Textes für die gegenwärtige Queer-Theory mit dem Titel »Oder man reißt ausschließlich seriöse junge Männer aus der eigenen gesellschaftlichen Sphäre auf«, wiederum von Heinz-Jürgen Voß.

Hinter dem inhaltlichen Teil finden sich noch eine ausführliche Bibliographie Hocquenghems, eine Zeittafel zu dessen biographischer Einordnung sowie die Vorstellung der Autor*innen.

Inhalt

Der einleitende Text »Guy Hocquenghem revisited« von Heinz-Jürgen Voß stellt Guy Hocquenghem als »Ideengeber für das, was heute unter dem Begriff ›queer‹ verhandelt wird« (S. 7) vor und steckt den Rahmen des Sammelbandes ab. Dies geschieht entlang einer kurzen biographischen und zeitgeschichtlichen Einordnung, einer Übersicht der Rezeptions- und Einflussgeschichte Hocquenghems in Deutschland (vor allem mit Fokus auf den sogenannten »Tuntenstreit«), möglicher Anknüpfungspunkte für queere Kritiken und der Auseinandersetzung mit Rassismus innerhalb der französischen Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Voß deutet dabei an, dass die Beschäftigung mit der Person Hocquenghem, seinen Schriften aber auch der französischen Schwulen- und Queer-Bewegung in den 1970er Jahren insgesamt sehr lohnenswert und ertragreich für heutige Debatten und Reflexionen sein könne. Freilich: »Reflexion bedeutet nicht Kopie: Aktuelle Fragen verlangen nach heutigen Antworten, sie können aber darauf bedacht sein, durch eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus Erfahrungen zu lernen.« (S. 25) Hocquenghem und die französischen Debatten zu seiner Zeit seien besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft sowie queere Kapitalismuskritiken neu zu entdecken. Dessen Konzept »radikaler Nichtidentifizierung als ›Homosexuelle(r)‹« – die radikale Ablehnung von auf sexuellen Vorlieben, Praktiken und Objektwahl basierenden Identitäten –, das er in seinen Schriften (allen voran seinem theoretischen Hauptwerk »Le désir homosexuel«) entwickelt, biete ein »radikales gesellschaftsveränderndes Potenzial an« (S. 16), an das auch heute noch anzuschließen sei. So verstehe Hocquenghem Begehren als vielschichtigen und ununterbrochenen Strom, als autonome und polymorphe Kraft (vgl. Hocquenghem 1974, S. 9 ff. und 48 f.); dieses sei, so Hocquenghem unter Berufung auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds, ›polymorph-pervers‹, also gerade nicht ausschließlich auf ein bestimmtes Objekt fixiert. Daher bezeichne der Begriff Homosexualität auch nur die diskursive Fixierung bestimmter sexueller Praktiken in einer Identität und nicht etwa ein bestimmtes (sexuelles) Begehren. Von diesem Standpunkt aus kritisiert Hocquenghem sexuelle Kategorisierungen und starre Identitäten.

Diesen Ausgangspunkt teilend wollen die Beiträge mit »einer queeren (Neu-)Lektüre der Schriften Hocquenghems« (S. 25) beginnen und nähmen daher vor allem die »Frage der Schwulenemanzipation« und sexueller Identität in den Blick, auch wenn dabei »weitere wichtige Themen wie die Aushandlungen zwischen Schwulenbewegung und Frauen/Lesbenbewegung nur am Rand« (S. 8) aufschienen. Dem Band gehe es insgesamt weniger um eine umfassende Rekonstruktion Hocquenghems, sondern eher um das Herausarbeiten »aktuelle(r) Anschlusspunkte«, wie beispielsweise die dort auftauchenden »intersektionalen Verknüpfungen«. (S. 25)

Der Beitrag »Guy Hocquenghem – wiedergelesen« von Rüdiger Lautmann ist ein wilder Ritt durch die Lebens-, Werks- und Rezeptionsgeschichte von Guy Hocquenghem und nimmt mit knapp 50 Seiten beinahe die Hälfte des Bandes ein. Die sehr ausführliche Darstellung findet interessanterweise nicht der klassischen und im wissenschaftlichen Bereich sonst üblichen Form von Darstellung – Einordnung – Würdigung statt, ist also nicht »distanziert-systematisierend«, sondern wird entlang einer sehr persönlichen Lektüre und Relektüre entwickelt. Lautmann will die »erlebte Irritation und Betroffenheit« beim (Wieder-)Lesen nicht verschweigen und hofft, mit »diesem subjektiv gefärbten Stil«, Hocquenghem sogar näher zu kommen als in der klassischen Weise – beeindrucke an diesem, im Gegensatz zu vielen anderen, doch »die Einheit von Biografie und Werk« (S. 28).

Zu Beginn geht Lautmann auf die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen Frankreichs ein. Dafür dienen ihm, immer in Hinblick auf Werk und Person Hocquenghem, die Stichworte »Revolution, Republikanismus, Individualismus, Häresie und Libertinismus« (S. 28), anhand derer er skizzenhaft den französischen Gründungsmythos, das politische und kulturelle Verständnis sowie die Rolle der Intellektuellen in Frankreich erläutert. Es seien gerade diese Bedingungen, die es Hocquenghem ermöglichten, »in den zwei Jahrzehnten seines öffentlichen Lebens mehrere Wenden in intellektueller, ideologischer und politischer Hinsicht« zu vollziehen. All dies spreche für »seine antidogmatische Haltung und nicht zuletzt für den Individualismus französischer Prägung.« (S. 30) Anschließend wird Hocquenghem als »Mensch in der Revolte« (S. 30 ff.) vorgestellt, als Mitglied unterschiedlicher linksradikaler Gruppierungen (vor allem der FHAR), als theoretisch und philosophisch an Fourier, Marx, Lenin und Marcuse geschulter Aktivist und Revolutionär, der den Reform- und Integrationsversprechungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nie traute und nicht müde wurde, in zum Teil sehr provokanter Weise den Klassenverhältnissen und dem Patriarchat den Kampf anzusagen. Dem (homosexuellen) Begehren sowie der homosexuellen Bewegung spreche dieser eine besondere revolutionäre Bedeutung zu: Durch die Politisierung der Sexualität und die Sexualisierung des Alltags solle die ›normale‹ Gesellschaft und ihre repressive Sexualmoral angegriffen werden. In den 80er Jahren habe sich Hocquenghem, mittlerweile zum »Spezialisten für alles Homosexuelle« (S. 36) abgestempelt, langsam aus der Politik verabschiedet, nicht aber ohne einen letzten großen Auftritt: Enttäuscht und desillusioniert über ausbleibende gesellschaftliche Veränderungen und die zunehmende Integration der schwul-lesbischen-Bewegung in die ›normale‹ Gesellschaft verfasste er 1986 seinen »Offenen Brief an die, welche vom Mao-Kragen zum Rotary-Club übergewechselt sind«, der sich an ehemalige Genoss*innen richtete, die ihre Ideale vergessen und mittlerweile im Politik- und Kulturbetrieb Karriere gemacht hatten.

Neben der ausführlichen Vorstellung der Person ist es Lautmanns Ziel, »Hocquenghems Buch ›Das homosexuelle Verlangen‹ als einen wahren Klassiker der queeren Wissenschaft sichtbar zu machen.« (S. 34) In dem 1972 erschienenen Werk würden viele der heute gängigen queeren Positionen vorweggenommen – so beispielsweise die Ablehnung starrer Identitäten und der binären Geschlechterordnung sowie die Kritik an der Heteronormativität. Erstaunlich sei die beinahe vollkommene Unbekanntheit des Werkes, arbeite Hocquenghem doch dort (wohlgemerkt einige Jahre vor Foucaults »Histoire de la sexualité«) die Wechselwirkung zwischen Hervorbringung der Kategorie der Homosexualität und der Homophobie heraus: Hocquenghem zufolge ist die Homophobie, die er noch anti-homosexuelle Paranoia nennt, eine paranoide Verfolgungssucht, deren Ursprung die Angst des heterosexuellen Mannes vor dem eigenen homosexuellen Begehren sei. Die Klassifizierung ›abweichender‹ Sexualität mit dem Begriff Homosexualität sowie ihre Pathologisierung dienten der Abwehr dieser Angst.

Aus diesem Grund zeichnet Lautmann auch ausführlich die Entstehungsgeschichte von »Das homosexuelle Verlangen«, die intellektuellen und theoretischen Grundlagen Hocquenghems (die Lautmann, von der Soziologie her kommend, nicht so recht teilt) sowie die Resultate und Ziele seiner Überlegungen nach: An die Psychoanalyse anschließend (vor allem an Freud und Deleuze/Guattari) wolle Hocquenghem das revolutionäre Potenzial des sexuellen Verlangens, die ihm innewohnende Produktivität herausstellen, mithin das (homosexuelle) Begehren entsublimieren. Die Ordnung des Phallus, des großen Signifikanten, und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse als ganze sollen angegriffen und mittels der Öffentlichmachung bzw. »Gruppalisierung des Anus« (Hocquenghem 1974, S. 98) zu Fall gebracht werden. Kurz und knapp aktualisiert Lautmann Hocquenghems Überlegungen so: »Heteronormativität beruht auf der Macht des Phallus und der Privatisierung des Anus; wird dieser nun durch die schwule Praxis befreit, dann untergräbt dies das Patriarchat«. (S. 45) Hocquenghems strikte Weigerung sexuelles Begehren in Identitäten fixiert zu sehen, begründe seinen Ruf des Queer-Theoretikers avant la lettre, eines »Gründungsklassiker(s) der queeren Identitätskritik«. (S. 51) So nehme es auch nicht Wunder, dass dieser eine hauptsächlich in Anerkennungskämpfen feststeckende Identitätspolitik (sowie beispielsweise das Pride-Konzept) stets abgelehnt habe und sich der Fixpunkt seiner Überlegungen, die Befreiung der Sexualität aller durch eine »Sexualisierung von Politik und Gesellschaft« (S. 58, vgl. dazu auch Eribon 2004, S. 296 ff.), zeitlebens nicht verändert habe.

Abgeschlossen wird der lange Beitrag mit Kurzvorstellungen weiterer Schriften Hocquenghems – vor allem seiner literarischen Werke (merkwürdigerweise fehlen in dieser Überschau die beiden theoretischen Werke »L/'Après-Mai des faunes« (1974) und »La Dérive homosexuelle« (1977)) –, einem kurzen Absatz zu Hocquenghems Verhältnis zu seinem Ziehvater, Lehrer und Liebhaber René Schérer, einer Passage zur Privatperson Hocquenghem (die Vorstellung der Person(en) Hocquenghem, einmal politisch und einmal privat-persönlich, bildet so eine schöne Klammer um das Kapitel) sowie einer weiteren zu seiner eher spärlichen Rezeption in Deutschland.

Norbert Recks Text, mit dem auf den ersten Blick provokanten Titel »Befreiung von der Homosexualität«, setzt sich aus queer-theologischer Perspektive mit Hocquenghem auseinander und will dessen »Kritik des Homosexualitätskonzepts gezielt darauf hin befragen, was sie zu Befreiung aus dem heute weitverbreiteten Diskurs um Natur/Naturanlage/Veranlagung und zur Überwindung der Homophobie beitragen kann.« (S. 78) Hier klingt auch schon an, dass der Titel keineswegs auf eine Befreiung vom homosexuellen Begehren hinauswill, sondern vielmehr von dem, was auch Hocquenghem unter dem Begriff der Homosexualität versteht – nämlich die begriffliche Einhegung und Fixierung sexueller Praktiken in einer Identität. Die »zwiespältige Erfolgsgeschichte der ›Homosexualität‹« (S. 78), habe einerseits den gegenwärtigen Erfolgen der schwul-lesbischen Emanzipation den Weg bereitet und sei andererseits in der »Verbindung von Wünschen mit Etiketten, die die eigene Wahrnehmung überformen« eine »Festschreibung der Andersartigkeit von Schwulen und Lesben«. (S. 80) Es stelle sich daher auch die Frage, ob nicht »das Konzept einer irgendwie anders gearteten ›Homosexualität‹ den schwulen und lesbischen Emanzipationsbewegungen (...) einen Bärendienst erwiesen« (S. 81) habe.

Besonders deutlich fänden sich solche Festschreibungen der Andersheit in Naturalisierungen wie zum Beispiel dem Konzept der sexuellen Vorliebe als Naturanlage, in dem sexuelles Verlangen und sexuelle Veranlagung vermengt würden: »Das Wahrnehmen der eignen gleichgeschlechtlichen Wünsche gilt (in diesem Konzept, H.B.) als identisch mit dem Empfinden einer besonderen Veranlagung«. (S. 83) Unter Rückgriff auf Hocquenghems Analyse, die Homosexualität existiere und existiere gleichzeitig nicht, sei bloße Ausdrucksform eines Verlangens, das eigentlich keinen Namen habe, will Reck gegen diese falsche Verknüpfung angehen. Die Homosexualität existiere »gewiss nicht als besondere, empirisch abgrenzbare Art der Sexualität«, sie existiere aber doch als Begriff, »der Macht über die Selbst-Erfahrung der Menschen ausübt«. (S. 83) Er stellt heraus, dass es ›den Homosexuellen‹ oder ›den Heterosexuellen‹ nicht gibt, sondern dass das Begehren – auch das gleichgeschlechtliche – bei allen Menschen zu finden, ergo von der »›Universalität‹ des Verlangens« (S. 86) auszugehen sei. Den Abschluss der sehr gelungenen Rekonstruktion von Hocquenghems Differenzierung von homosexuellem Begehren und Homosexualität bildet das Plädoyer für eine gleichermaßen doppelte Befreiung: »Befreiung von der ›Homosexualität der Veranlagung‹ und Befreiung von der ›ödipalisierten Homosexualität‹.« (S. 90) Diese entfalteten zwar als gesellschaftliche Praxis Macht, dürften aber nicht als die einzigen oder gar unabänderlichen Formen wahrgenommen werden, in denen sich alles gleichgeschlechtliche Verlangen zu entfalten habe.

Von dieser Rekonstruktion kommt Reck zu den Implikationen und der Anschlussfähigkeit Hocquenghems in der queeren Theologie. So sei die Vorstellung einer Universalität des Begehrens, das Kraft und nicht Schwäche sei, strukturell einem christlichen Verständnis »des Verlangens nach Nähe, das (…) in sich einen Sinn hat und bis zum Sich-selbst-Verschenken gehen kann«, ähnlich. So ließe sich dann auch das gleichgeschlechtliche Begehren »als authentische Realisierung des biblischen Liebesgebots, das nicht zwischen Agape und Eros unterscheidet« (S. 93), verstehen. Beim Kampf für eine befreite Sexualität könne es folglich hilfreich sein, »von der Schöpfung Gottes her zu denken« (S. 94), die keine Trennung in Homo- und Heterosexualität kenne, sondern (genau wie Hocquenghem) »nur die eine Schöpfung Gottes, den breiten, nicht differenzierten Strom des Verlangens« (S. 95). So erscheint zum Abschluss seines Beitrages die Queer-Theologie quasi als Theologie gegen die Theologie: Man solle sich nicht weiter um ein kirchlich-institutionelles Ja zur Homosexualität bemühen, sondern den Einzelnen die Angst vor dem eigenen Verlangen nehmen und ihnen so helfen, gemeinsam »in das Lob der Schöpfung Gottes einzustimmen«. (S. 97)

Der inhaltliche Teil des Bandes wird abgerundet durch Guy Hocquenghems Text »Wir können nicht alle im Bett sterben« (übersetzt von Salih Alexander Wolter) und eine kurze Einordnung durch Heinz-Jürgen Voß (»Oder man reißt ausschließlich seriöse junge Männer aus der eigenen gesellschaftlichen Sphäre auf«). Hocquenghems Text ist eine recht polemisch daherkommende Intervention in den öffentlichen Diskurs Frankreichs anlässlich der Ermordung des homosexuellen Regisseurs und Publizisten Pier Paolo Pasolini in Ostia im November 1975. Er wendet sich darin gegen die damalig vorherrschende vor allem politische Einschätzung der Ermordung durch italienische aber auch französische Linke. Ihrem Blick entginge eine wesentliche Dimension dieses »homosexuelle(n) Mord(es)«, nämlich die »innige, alte und sehr starke Bindung, die zwischen dem Homosexuellen und seinem Mörder besteht«. (S. 101 f.) Die Verbindung von Homosexualität und Delinquenz sowie ihrer Kriminalisierung sorge dafür, dass die Homosexualität – als »Kategorie der Kriminalität« – eine »spezifische ›Gefährlichkeit‹« umgebe. Erstaunlicherweise wendet sich Hocquenghem nicht gegen eine solche Wahrnehmung, vielmehr zieht er die rechtliche Kategorie der Kriminalität der psychiatrischen der Devianz vor. Jene ignoriere nämlich »die rationalen Begriffe des Gesetzes« (S. 102) und sei daher auch eine der wesentlichen Quellen des Kampfes für Befreiung. Man dürfe »Selbstverteidigung nicht mit ›Respektabilisierung‹ verwechseln«. Devianz bedeute letztendlich die Integration der Homosexualität in eine bürgerliche Sexualität. Er befürchtet, dass durch die Entkopplung der Bindungen der Homosexualität an »eine harte, gewalttätige und marginale Welt« einer der wesentlichen Erfahrungsräume für subversives Denken und Handeln verloren gehen könne. Aus diesem Grund wehrt Hocquenghem sich gegen die Integration der Homosexualität in »das Gesetz«, gegen die »Transformation des homosexuellen Charakters«, der, befreit von Ängsten und Marginalität, zu »einem Freund des aufgeklärten Liberalismus und der Kultur« (S. 103) zu werden und darüber die Möglichkeit der Erfahrung von Andersheit (in und an sich selbst und auch von anderen) zu verlieren droht. Gehe Differenz verloren, werde der »offizielle Schwule« mit »der kühlen guten Gesinnung sexualwissenschaftlicher Magazine« nur noch »in seiner eigenen gesellschaftlichen Klasse ficken«. (S. 104). Hocquenghem fürchtet den Verlust einer über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinausweisenden Dimension des in der Homosexualität fixierten homosexuellen Begehrens und beharrt angesichts der fortschreitenden Integration (politisch) auf der Differenz und Spezifik der (›anderen« und daher möglicherweise verändernden) homosexuellen Erfahrung.

Heinz-Jürgen Voß/' Einordnung möchte Hocquenghems Text vor allem »im Hinblick auf aktuelle queere Anschlüsse« diskutieren. Dafür eigne sich dieser erstmals für ein deutschsprachiges Publikum übersetzte Text, da Hocquenghem dort Veränderungen innerhalb der »schwule(n) Kultur« verhandele, die ihrer Struktur nach auch heute noch beobachtet werden könnten. Die Einschränkung von Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb schwuler Subkultur sorgten laut Hocquenghem letztlich dafür, dass die Möglichkeiten, die »Kategorisierung und Normierung von Geschlecht und sexueller Orientierung« (S. 107) zu überwinden, sich verringerten. Dieser Einschätzung schließt Voß sich an und diskutiert daran die Frage, inwieweit (schnelle) sexuelle Begegnungen für einen Austausch »über gesellschaftliche Grenzen zwischen Klassen und rassistischen Einteilungen hinweg« förderlich seien – also wie »das sexuelle Verlangen in die gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen eingebunden ist ›und› Optionen zur Annäherung an verschiedene Perspektiven eröffnen kann.« (Herv. d. Rez.) Jedoch werde die durch sexuelle Begegnung ermöglichte Reflexion auf eigene erlernte Selbstverständlichkeiten wiederum durch gesellschaftliche und räumliche Verteilungsprozesse oder individuelles Handeln, wie Gentrifizierung oder bewusste Segregation, zunehmend eingegrenzt. Dies könne in einer konkreten Zuspitzung von »Ausgrenzungs- und Gewaltverhältnissen« (S. 108) resultieren, von denen auch LGBTI*s profitierten. So sorgten an der Christopher Street »heute die Mainstream-Gays dafür, dass arme Menschen, unter ihnen vor allem Queers of Color, kriminalisiert und vertrieben« würden. Diese ›Mainstream-Gays‹ wollten nicht länger mit »Queers anderer Klasse und ›race‹ konfrontiert« (S. 109) sein und marginalisierten diese daher in solcher Weise. (1) Solche Praxis wiederum stünde dem gemeinsamen politischen Streit sowie angemessener politischer Reflexion im Weg. Um aber eine »gerechte Gesellschaftsordnung« einrichten zu können, müssten auch die Lebenserfahrungen der Marginalisierten und Unterdrückten (überhaupt) gehört werden (können). So gelte es, Räume zu schaffen, in denen ein solches Zusammenkommen möglich sei. Mit Hocquenghem stellt Voß fest: »Der sexuelle Kontakt kann ein solcher Erfahrungsraum sein«. (S. 110) Es gelte »das Sexuelle nicht zu vergessen, wenn es um Selbstreflexion und politische Aktion im Alltag geht« (S. 111) – so könnten beispielsweise auch (die eigenen) Rassismen reflektiert werden. Die Möglichkeit, sich selbst »als Teil der Dominanzkultur« (S. 113) und von Marginalisierten etwas über deren Lebensbedingungen zu erfahren, werde durch die Integration und die Respektabilisierung der Homosexualität immer prekärer.

So will Voß unter Rückgriff auf Hocquenghem »Denkblockaden« (S. 112) der LGBTI*-Community auflockern, Rassismus unter Schwulen (wieder) thematisierbar machen und gegen die Abwehr solcher Thematisierungen angehen. Insgesamt hofft Voß, mit Hocquenghem neue Impulse für intersektionale Analysen zu gewinnen und die »heteronormativ und zweigeschlechtlich strukturierte gesellschaftliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland kritisch zu hinterfragen«. (S. 115)

Diskussion

Insgesamt scheint es, dass die Beiträge des vorgestellten Sammelbandes leider eher nebeneinander stehen, als dass sie ein rundes Bild abgeben. Die Einleitung und die ausführliche Vorstellung von Hocquenghem (bei der allerdings dessen politische und theoretische Dummheiten, wie beispielsweise ein virulenter Antiamerikanismus ausgespart bleiben) sind gelungen aufeinander abgestimmt, doch die restlichen Beiträge fallen ein wenig heraus. Norbert Reck gelingt zwar die Rekonstruktion einer der wesentlichen Annahmen Hocquenghems, doch bleibt unklar, warum gerade diese zur Unterstützung von ›Gottes Schöpfung‹ herhalten sollen. Ebenso stellt sich die Frage, was LGBTI*s von diesen Überlegungen haben, die an eine solche nicht glauben, unter Rückgriff auf gerade diese verfolgt werden oder sie aus guten Gründen kritisieren. Beim übersetzten Text fehlt die Einbettung in Hocquenghems Gesamtwerk und in die konkrete politische Debatte. Auch die wenigen Anmerkungen vermögen es nicht so recht, darüber Klarheit zu schaffen, warum gerade eben dieser Text übersetzt worden ist. Da heißt es zwar, dass dort ein Umschwung in Hocquenghems »Nachdenken über ›Rassismus‹« (Fn. 1, S. 104 f.) zu finden sei, doch auch das wird nicht weiter ausgeführt – auch im übersetzten Text selbst findet sich keinerlei Entfaltung eines Rassismusbegriffs. Den Eindruck, mit Hocquenghem ließen sich wesentlich Reflexionsprozesse in Bezug auf Rassismus anstoßen, bekommt die Leser*in daher auch nicht ohne weiteres. Hocquenghems kurzer Text wird insgesamt eher als ein theoretischer rezipiert, obschon es sich bei diesem um eine polemisch-politische Intervention handelt.

Heinz-Jürgen Voß schlägt vor, bei Hocquenghem vor allem die Zugänge für intersektionale Analysen zu sehen, was insgesamt auch der im Sammelband vorgestellten Lesart entspricht. Sicherlich finden sich bei Hocquenghem einige Überlegungen, die für intersektionale Ansätze fruchtbar gemacht werden können, doch warum gerade dessen eher materialistisch-psychoanalytisch informierte Position sich dafür besonders eignen soll, leuchtet der Leser*in nicht unmittelbar ein. Hocquenghem betrachtet die Repression gegen die Homosexualität nicht als bloßes Verhältnis von Unterdrücker*innen und Unterdrückten (wie so oft bei intersektionalen Ansätzen), sondern, fast klassisch marxistisch, als (konstitutiven) Bestandteil der kapitalistisch-phallokratischen Produktionsweise. So werden insgesamt die wenigen intersektionalen Bezüge, die sich in dessen Werk finden, ein wenig überstrapaziert. Zwar wird an zwei Stellen im Band dafür plädiert, »Le désir homosexuel« »als einen wahren Klassiker der queeren Wissenschaft« (S. 8 und 34) wieder einzuführen, ohne aber offenbar die wesentlichen theoretischen Annahmen dieses Werkes zu teilen. An der Psychoanalyse wird insgesamt kein gutes Haar gelassen (Lautmann bezeichnet diese bei Hocquenghem gar als »kruden Zugriff« (S. 43) und kann sich die eine oder andere Verve gegen Deleuze/Guattari und das Konzept vom Phallus als großen Signifikanten nicht verkneifen), was überaus schade ist, da Hocquenghem überzeugend zeigt, wie sich psychoanalytische Überlegungen mit ihren eigenen Erkenntnissen konfrontieren lassen. Er gibt einem Mittel an die Hand, Freud gegen Freud zu lesen und sich psychoanalytisch gegen Formen vulgarisierter Psychoanalyse zu wenden. Besonders lohnend wäre die Lektüre von Hocquenghem daher eher für eine Verbindung von Queer-Theory und Psychoanalyse, die die Vorurteile und theoretischen Schwächen, die bei beiden Theorietraditionen bestehen, in den Blick nimmt (siehe für erste Versuche in diese Richtung auch: Hutfless/Zach 2017).

Nimmt man Hocquenghem aber nicht wirklich ernst, wird dieser bloß zu einer Fußnote des Wissenschaftsbetriebs. Die Politisierung des Begehrens über die Gruppalisierung des Anus ist für Hocquenghem kein Selbstzweck oder theoretische Spielerei. In der Forderung einer daran orientierten politischen Praxis kulminiert seine radikale Unversöhnlichkeit mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Sexualordnung, sein unbedingter Wunsch nach radikaler gesellschaftlicher Veränderung und die Hoffnung auf die Befreiung der Sexualität aller. Hocquenghem zeigt, dass solidarische Kritik an identitätspolitischen Anerkennungskämpfen und Gesellschaftskritik Hand in Hand gehen können; auch wenn es ihm nicht immer gelingt, die politische und theoretische Ebene auseinanderzuhalten. Im Anschluss an Hocquenghem könnte eine radikale queere und radikal-queere Gesellschaftskritik wieder eine politisch-praktische Perspektive werden und helfen, eine der wesentlichen Fragen radikaler Veränderung anzugehen. Nämlich: »Wie sollen Emotionalität und Rationalität, Intimität und Instrumentalität zueinander in Beziehung gesetzt, wie Beziehungen des Privaten und Öffentlichen, des Intimen und Anonymen miteinander vermittelt werden? Mit anderen Worten, wie sollen die sozialen Konstruktionen von Geschlecht rekonstruiert werden?« (Adamczak 2017, S. 107) – Genau dieses Potenzial herauszustellen, gelingt der im Sammelband vertretenen Lesart leider viel zu selten.

Fazit

Das große Verdienst dieses Bandes ist es, Guy Hocquenghem wieder in die Debatte einzuführen und die Aktualität seiner Überlegungen zu diskutieren. Trotz der erwähnten Schwächen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Hocquenghems Werke in Deutschland schon lange vergriffen sind, ist es eine durchaus lesenswerte Einführung für alle, die dessen Namen noch nie gehört haben oder sich für Aktualisierungsversuche seiner Überlegungen interessieren. In Person und Werk findet sich – bei allen politischen Querschlägern und (krassen) Falschheiten, die auch Hocquenghem immer wieder produziert hat – eine Intellektualität, eine theoretische und teilweise auch polemische Schärfe sowie eine kritische Leidenschaft, von der die gegenwärtigen Debatten im Bereich Queer-Theory sich mehr als nur eine Scheibe abschneiden könnten und sollten. Materialistische Gesellschaftskritik, Psychoanalyse und queere Überlegungen derart zu verbinden, ist eine absolute Seltenheit. Der Band greift diese Faszination auf, diskutiert zahlreiche Fragen, beantwortet ein paar und lässt etliche weitere zunächst offen.

Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass Hocquenghem nicht bloß für die Queer-Theory aktuell und interessant ist, sondern auch in Bezug auf die immer weiter fortschreitende (auch affirmative) Einbindung der Individuen in die kapitalistische Produktions- und Konsumtionsweise und die damit zusammenhängende Zurichtung und Passivierung der Einzelnen: »Erschlagen und ertaubt von den Anweisungen (…), doch gefälligst effizient, leistungsfähig, positiv, auf dem neuesten Stand, technisch, digital und praktisch zu sein; (…) umzingelt vom Realismus, (…) vom Dümmlichen als Denkstil, von den objektiven Notwendigkeiten, von der philosophischen Grundausstattung: der Überzeugung, das Ende der revolutionären Ideale sei gekommen (…) durchgeknetet von der Angst, abgehängt zu werden, den Bedürfnissen, dem Sozialen nicht gerecht zu werden, das Neue zu verpassen, das doch nur rückschrittlich und x-te Wiederholung ist (…) – wer hätte da nicht unter dem um den Konformismus getriebenen Kult gelitten?« (Hocquenghem zitiert aus: Ripplinger 2017, S. 46)

Hoffentlich trägt dieser Band dennoch dazu bei, dass die unbedingt wiederzuentdeckenden Texte von Hocquenghem auch in deutschsprachigen Debatten endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen.

Zitierte Literatur

Adamczak, B. (2017). Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Frankfurt am Main: edition suhrkamp.

Eribon, D. (2004). Insult and Making of the gay self. Durham and London: Duke University Press.

Hocquenghem, G. (2017). Un Journal de rêve. Articles de presse (1970-1987), mit einem Nachwort von A. Idier. Paris: Collection Verticales, Gallimard.

Hocquenghem, G. (1974). Das homosexuelle Verlangen [Le désir homosexuel]. München: Reihe Hanser.

Hutfless, E./Zach, B. (Hg.) (2017). Queering Psychoanalysis: Psychoanalyse und Queer Theory – Transdisziplinäre Verschränkungen. Wien: Zaglossus.

Idier, A. (2017). Les Vies de Guy Hocquenghem. Paris: Fayard.

Ripplinger, S. (2017). Schwuler, Aufrührer, Verweigerer. In: konkret 5/17, S. 44-46.

(1) Ein kurzer Einwurf sei mir hier erlaubt: An dieser Stelle des Beitrages kann man, trotz der Erwähnung der Einbettung der (wohl verächtlich so genannten) ›Mainstream-Gays‹ in die gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausgrenzungsverhältnisse, den Eindruck bekommen, Rassismus wäre allem voran deren Problem, nämlich eines homosexueller (›weißer‹) Männer. Auch wird suggeriert, es gäbe innerhalb der LGBTI*-Community (bzw. vor allem bei schwulen Männern) kaum eine Auseinandersetzung mit Rassismus. Diesen Eindruck teilt der Rezensent nicht.

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