Rezension zu Körperpsychotherapie und Sexualität

Psychotherapeutenjournal 1/2018

Rezension von Ernst Kern

Das überaus interessante und anregende Buch steht vor dem Hintergrund einiger Spannungsfelder, die in den Beiträgen auf verschiedenste Weise behandelt werden. Sie stellen so etwas wie einen roten Faden durch das Buch dar.

Erstes Spannungsfeld: Funktionalenergetische vs. humanistische Therapieperspektive
Wilhelm Reich schrieb dem funktionalenergetischen Aspekt der Sexualität eine zentrale Rolle für psychische Störungen und deren Therapie zu und übte damit einen starken Einfluss auf die Körperpsychotherapie aus. Im Kontrast dazu betonte die andere Wurzel der Körperpsychotherapie, die Leibpädagogik, stärker Wahrnehmung und innere Achtsamkeit.

Thomas Harms diskutiert im ersten Beitrag des Buches ausführlich das Orgasmuskonzept von Reich und zeigt Brückenkonzepte zur modernen Psychotherapie auf. Insbesondere werden zunehmend Kontakt und Begegnung betont sowie das subjektive Erleben der Sexualität und die eigene Wahlfreiheit. Über eine Erweiterung des Sicherheitserlebens in der Sexualität kann die Person sich wieder an sich selbst anbinden. Das von ihm beschriebene psychotherapeutische Vorgehen verbindet dann virtuos humanistische mit funktionaleren Vorgehensweisen.

Manfred Thielen zeigt im darauffolgenden Beitrag zum einen die auch heute noch wichtigen Aspekte im psychotherapeutischen Ansatz von Reich und seinen Nachfolgern auf. Zum anderen schlägt er die Brücke zur Entwicklungspsychologie der Säuglingsforschung und zur humanistischen Psychotherapie und sieht als zentralen Ansatzpunkt der Therapie sexueller Probleme die Widersprüche im emotionalen Kontakt zum Partner und zu sich selbst.

Eine ähnlich überzeugende Praxis stellen Marianne Eberhardt-Kaechele und Ruth Gnirss-Bormet für die körperpsychotherapeutisch orientierte Tanztherapie vor. Sie orientieren sich an Daniel Sterns Konzept der Vitalitätsaffekte. Als Grundlage für gelingende Abstimmung sind diese auch die Grundlage für die Sexualität, hier spielen insbesondere die frühen Erfahrungen der gemeinsamen Regulation lustvoller Erregung eine Rolle. Ihr Ansatz erfordert eine besonders sensible und respektvolle psychotherapeutische Haltung.

Näher an der Psychosomatik und an der sexuellen Funktion orientiert wird von Karoline Bischof der sexualtherapeutische Ansatz von Jean-Yves Desjardins vorgestellt.

Zweites Spannungsfeld: Umgang mit dem Thema Sexualität bei der Therapie von sexuellem Missbrauch
Durch die zunehmende Thematisierung sexueller Traumatisierungen wurde deutlich, wie problematisch zu offensive und nicht abgesicherte psychotherapeutische Vorgehensweisen für die Betroffenen sein können.

Der Aufsatz von Anna Willach-Holzapfel und Monika Dressler-Bellmund fokussiert auf Körperpsychotherapie bei sexuellem Missbrauch. Anhand von Falldarstellungen wird die Integration verschiedener Traumatherapieansätze vorgestellt. Ihnen gelingt es ebenfalls hervorragend, die verschiedenen »sanfteren«, achtsamkeits- und wahrnehmungsorientierten Vorgehensweisen mit anderen Interventionen zu verbinden.

Drittes Spannungsfeld: Das subjektive Erleben von Sexualität versus gesellschaftliche Normierungen über Geschlechterrollen und Sexualität
Eine ganze Reihe von Aufsätzen in dem Buch beschäftigt sich mit gesellschaftlichen und soziologischen Fragen zum Thema Sexualität. Eine ganz wichtige Rolle spielen hier natürlich auch gender-spezifische Perspektiven, z.B. Rollennormierungen und ihre Auswirkungen auf die Psychotherapie. Anke Abraham diskutiert den im heutigen Zeitgeist zentralen Aspekt der technischen Nutzbarmachung und Funktionalisierung des (geschlechtlichen) Körpers.

Weitere Aufsätze zu interessanten Aspekten (Sexualtherapie über die Lebensspanne, Therapie mit älteren Menschen, Nacktheit in der Körperpsychotherapie, Sexualität und Narzissmus, Sexualpädagogik, Paartherapie) bereichem das Buch und machen es zu einer Fundgrube zu dem Thema Sexualität und Körperpsychotherapie.

Womit habe ich beim Lesen der Aufsatzsammlung manchmal etwas Probleme gehabt? An einzelnen Stellen schien mir die konzeptuelle und methodische Integration des ursprünglichen Reichschen Ansatzes in humanistische Herangehensweisen noch nicht so ausgearbeitet. Weitergehend hätte man die Frage diskutieren können, inwieweit die vorgestellten Konzepte und Vorgehensweisen mit aktuellen Versorgungssystemen kompatibel sind.

Insgesamt liegt mit dem Sammelband ein sehr vielschichtiges und äußerst anregendes Werk zum Thema Körperpsychotherapie und Sexualität vor, in dem Konzepte und Modelle historisch eingeordnet, kritisch reflektiert und miteinander integriert werden. Wie diese Integration aussehen kann, wird an vielen Praxisbeispielen und Falldarstellungen überzeugend verdeutlicht. Vor dem Hintergrund der dargestellten Spannungsfelder zeigt sich die kreative Vielfalt als eine große Stärke der Körperpsychotherapie, die gerade zum Thema Sexualität und Psychotherapie viel Eigenes beizutragen hat.

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