Rezension zu Migration im Jugendalter
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 25, 2017
Rezension von Heike Schnorr
Was muss »geschafft« werden?
»Wir schaffen das!« An diesem Satz von Frau Merkel macht sich
derzeit eine erhitzte gesellschaftliche Debatte fest, die sich
zumeist mit den Risiken der großen Migrationsbewegung nach
Deutschland auseinandersetzt. Da pauschalierte Antworten auf dieses
Statement unproduktiv sind, muss genau untersucht werden, ›was‹
geschafft werden muss und ›wie‹ die Herausforderungen konkret
gemeistert werden können. Dies gilt insbesondere für geflüchtete
Kinder und Jugendliche, die ein Drittel der Migrantinnen ausmachen
und auf deren Integration sich die Hoffnungen der
Aufnahmegesellschaft richten. Dass erfolgreiche schulische
Bildungsprozesse hier von zentraler Bedeutung sind, ist
unbestritten. Aber von welchen inneren und äußeren Faktoren hängt
ein erfolgreicher Bildungsweg dieser Jugendlichen ab? Mit diesem
Thema beschäftigt sich das kürzlich von Frau Bär veröffentlichte
Buch mit dem Titel »Migration im Jugendalter«, das Leserinnen –
soweit schon einmal vorweg – sehr empfohlen wird.
Was erwartet den Leser? Das Buch umfasst sowohl sehr fundierte
Grundlagen zu den Bedingungen der Integration jugendlicher
Migrantinnen, als auch einen empirischen Teil, der aus drei
psychoanalytisch interpretierten Fallstudien besteht. Doch der
Reihe nach: zunächst bietet Frau Bär eine kritisch-konstruktive
Auseinandersetzung mit den gängigen soziologischen
Erklärungsmodellen zu den globalen Migrationsbewegungen, dem
Konzept der Transmigration und der Entstehung transnationaler
Familien. Dazu gehört auch eine interessante Darstellung der
psychosozialen Situation von nachgeholten und verschickten
Jugendlichen und veränderten familiären Aufstiegs Strategien in den
Abgabeländern und der Rolle der Jugendlichen darin. Es folgt eine
aktuelle Darstellung der Lebens- und Aufenthaltsbedingungen von
Kindern und Jugendlichen auf der Flucht vor dem Hintergrund
veränderter Fluchtursachen, neuer Fluchtbewegungen und eines sich
verschärfenden Asylrechts in der BRD. Sodann wendet sich Frau Bär
im Anschluss an Grinberg und Grinberg (1990), der
psychoanalytischen Perspektive auf Trennungs- und
Verlusterfahrungen sowie Verarbeitungsprozessen in der Migration
zu. Hier spielt der Einfluss des kulturellen Schocks der
Anfangszeit eine Rolle, aber auch die entwicklungspsychologischen
Implikationen von Trennungs- und Verlusterlebnissen, die je nach
den prämigratorischen Vorerfahrungen auf einen unterschiedlichen
»psychischen Boden« fallen. Die konkreten Erlebnisse der
Jugendlichen mit der aufnehmenden und abgebenden Gesellschaft sowie
mögliche zusätzliche traumatische Erfahrungen sind weitere
Faktoren, die die psychische Verarbeitung der Migration
beeinflussen. In jedem Fall ist ein Trauerprozess unausweichlicher
und impliziter Bestandteil von Migration, um sich von dem »alten
Leben« zu verabschieden und dem »neuen« zuwenden zu können. Von
zentraler Bedeutung für eine Integration ist weiterhin die
Identitätsentwicklung der Betroffenen. Diese fällt bei Jugendlichen
mit der Entwicklungsphase der Adoleszenz zusammen, die unter den
Bedingungen abgebender kollektivistisch und aufnehmender
individualistisch geprägter Gesellschaften eine spezifische Färbung
erhält und eine hybride, polyvalente Identitätsentwicklung
notwendig macht.
Aus diesem Grund verläuft die Identitätsentwicklung der
Jugendlichen unter den Bedingungen von Migration ungleich
komplizierter und störanfälliger. Zuletzt geht Frau Bär noch auf
die schulischen Eingliederungsmaßnahmen für neu zugewanderte
Jugendliche ein.
Auf der Grundlage von drei psychoanalytischen Fallstudien wird im
zweiten Teil der Arbeit ein Schlaglicht auf die besonderen
psychischen und sozialen Bedingungen geworfen, unter denen
Integration und Schulerfolg aus Sicht der Betroffenen selbst
stattfindet. Die drei interviewten Jugendlichen waren im Alter
zwischen 15 und 21 Jahren, befanden sich in der mittleren Phase der
Adoleszenz und besuchten alle eine allgemeinbildende Regelschule.
Der Abstand zur Migration betrug mindestens zwei Jahre. Die drei
Fallanalysen zeichnen exemplarisch die drei Wege nach, die
Jugendliche in die BRD emigrieren lässt: (1) Eine Jugendliche, die
bei ihren Großeltern in der Türkei aufwuchs und im Alter von zehn
Jahren von der Mutter in die BRD nachgeholt wurde, (2) ein
Jugendlicher, der von seinen Eltern allein aus Vietnam in die BRD
verschickt wurde und (3) eine Jugendliche, die mit ihren Eltern aus
dem Irak in die BRD flüchtete. Trotz eines Bias der
Untersuchungsstichprobe auf bildungserfolgreiche Jugendliche mit
sehr hohen Bildungsaspirationen werden die komplexen
Integrationsleistungen erkennbar, die diesen Jugendlichen in ihrer
Adoleszenz abverlangt werden. In den Blick genommen werden sowohl
die multiplen Trennungs- und Verlusterlebnisse dieser Jugendlichen,
als auch die gesellschaftlichen und institutionellen
Rahmenbedingungen, unter denen ihre Integration stattfindet. Die
Summe dieser Bedingungen entscheiden darüber, ob und inwieweit die
zugewanderten Jugendlichen die Bildungschancen der aufnehmenden
Gesellschaft überhaupt nutzen können.
Es ist das Verdienst dieser Arbeit, dass ein tiefer, lebendiger und
differenzierter Einblick in die Integrationsprozesse der Befragten
entsteht. So beeindruckend die schulischen Karrieren der
Jugendlichen im Einzelnen sind, so wird auch die ungeheure
Anstrengung sichtbar, die den Jugendlichen auf diesem Weg
abverlangt wird. Im Umkehrschluss wird ebenso erkennbar, wie groß
das Risiko ist, dass dieser Integrationsprozess nicht gelingt. Zu
der aktuellen bildungspolitischen Frage, ›was‹ und ›wie‹ eine
schulische Integration von Jugendlichen gelingen kann, leistet die
von Christine Bär vorgelegte Arbeit einen wichtigen Beitrag. Es ist
zu hoffen, dass dieses Buch breit rezipiert wird und in der
Umsetzung zu einer Verbesserung der Integrationsbedingungen der
Aufnahmegesellschaft beiträgt.