Rezension zu Zeitlose Erfahrung
WINA. Das jüdische Stadtmagazin, Nr. 4, Jg. 7/April 2018
Rezension von Marta S. Halpert
Kontakt und Stütze
Dem Leben und Werk der Gestalttherapeutin und Pionierin Laura Perls
widmet sich Nancy Amendt-Lyon als Herausgeberin ihres
Nachlasses.
Wenn eine Frau einer anderen hilft, aus dem beruflichen Schatten
ihres Mannes zu treten, ist das nicht nur menschlich ein schöner
Charakterzug. Zum unschätzbaren Verdienst wird e,. wenn man als
ehemalige Studentin und spätere Kollegin die eigene geschätzte
Lehrerin in das ihr zustehende, aber konsequent verweigerte
Rampenlicht rückt. Die in den USA geborene und in Wien lebende
Psychotherapeutin Nancy Amendt-Lyon hat genau das getan: Sie ist
die Herausgeberin der bisher unveröffentlichten Texte der
Mitbegründerin der Gestalttherapie, Laura Perls. Obwohl Perls
gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Psychoanalytiker Fritz Perls, und
dem Sozialphilosophen Paul Goodman die Gestalttherapie begründete,
wurde sie in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen nicht
namentlich erwähnt.
»Für mich bedeuteten diese Notizbücher nicht nur ein großartiges
Geschenk, sondern auch eine aufrichtige Verpflichtung und eine
ungeheure Verantwortung«, erzählt Amendt-Lyon. Dieses wertvolle
Erbe an Notizbüchern und literarischen Texten, geschrieben zwischen
1946 und 1985, erhielt sie im Sommer 2013 in New York von der
Tochter der verstorbenen Wissenschaftlerin. Die Folge war eine drei
Jahre lang währende Sichtung der Unterlagen und akribische
redaktionelle Arbeit. Amendt-Lyon hatte Perls 1976 in New York
persönlich kennengelernt und blieb ihr bis zu ihrem Tod im Jahr
1990 beruflich und privat verbunden. »Timeless Experience« lautet
der Titel der englischen Originalausgabe(2016), »Zeitlose
Erfahrung« die Ende 2017 erschienene deutsche Übersetzung. Auf
Spanisch ist das Buch bereits erschienen, die französische Version
folgt in Kürze.
Prägnant, sparsam, exakt
Doch wie kam es dazu, dass ein jüdisches Mädchen aus Pforzheim zu
einer bedeutenden Impulsgeberin für die Entwicklung der
Psychotherapie im 20. Jahrhundert wurde? 1905 in der »Gold-Stadt«
geboren, wuchs sie in einer jüdischen Juwelierfamilie auf. 1923
begann Perls, geborene Lore Posner, ein Jurastudium in Frankfurt am
Main, wechselte aber bald zu den Fächern Psychologie und
Philosophie und besuchte Lehrveranstaltungen in Gestaltpsychologie.
Ihre prominenten Ausbilder, wie Karl Landauer und Frieda
Fromm-Reichmann, brachten sie schnell weiter, und ab 1931 hatte sie
eine eigene psychoanalytische Praxis. Nach der Heirat mit ihrem
Kollegen Fritz Perls zog sie nach Berlin. Infolge der
Machtergreifung der Nazis 1933 schloss sie sich dem
antifaschistischen Widerstand an und musste schon bald nach Holland
flüchten. 1934 ging Perls mit ihrem Mann ins Exil nach Südafrika.
Dort gründeten sie das erste psychoanalytische Institut des Landes.
In dieser Zeit begannen die gemeinsamen Vorarbeiten zur
Gestalttherapie – die ihr Mann in seinem ersten Buch »Das Ich, der
Hunger und die Aggression« (1942) veröffentlichte. Ab 1947 lebte
das Ehepaar in den USA, wo Laura Perls das New York Institute for
Gestalt Therapy leitete, das sie 1952 mit gegründet hatte. Erst mit
71 Jahren gab sie die Privatpraxis auf und widmete sich nur mehr
der Ausbildung.
»Meine erste Begegnung mit Laura hatte ich im April 1976 in
Manhattan. Da sie Europa und die deutsche Sprache sehr vermisste,
kam sie immer wieder zu Gestalttherapieworkshops nach Deutschland
und Osterreich«, erinnert sich Amendt-Lyon, die wesentlich zu
diesen Engagements beitrug. »Es war faszinierend, ihre Arbeit aus
erster Hand zu erleben. Ihr bevorzugter Arbeitsstil war es, in
kleinen, leicht verdaulichen Schritten den Teilnehmern maximale
Unterstützung zu gewähren. Dies war der wahre Kern ihres Konzepts
von ›Kontakt und Stütze‹. Ihre Eingriffe waren prägnant, exakt und
sparsam.« Der gestalttherapeutische Zugang von Perls kulminierte in
dem Motto, Patienten so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu
unterstützen, damit sie lernten, Selbstunterstützung und
Interdependenz zu erlangen.
Laura Perls starb 1990 in Pforzheim und ist auf dem dortigen
jüdischen Friedhof gemeinsam mit ihrem Mann begraben. In ihrer
Einleitung zeichnet Amendt-Lyon ein sehr kenntnisreiches,
liebevolles Porträt ihrer großen Lehrerin und lässt sie in ihren
persönlichen, therapeutisch-wissenschaftlichen und
zeitgeschichtlich-politischen Bezügen lebendig werden.
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