Rezension zu Mathilde Freud
Aufbau vom 24. Juli 2003
Rezension von Katja Behling-Fischer
»Aber ich, fürcht/' ich, habe mich sehr verändert...«
Der Briefwechsel zwischen Mathilde Freud und ihrem Jugendfreund
Eugen Pachmayr
»Eigentlich ist es ein Jammer mit uns Mädeln und unsrer
Unselbständigkeit«, schreibt Sigmund Freuds älteste Tochter
Mathilde (1887–1978) am 9. Oktober 1903 an ihren gleichaltrigen
Jugendfreund Eugen Pachmayr. Mathilde und der Münchner Arztsohn
lernen sich 1901 am in idyllischer Gebirgswelt gelegenen Thumsee
kennen, wo Freud mit seiner Familie Urlaub macht. In den folgenden
Sommern vertiefen sie ihre Freundschaft und ab Herbst 1903,
Mathilde ist knapp sechzehn, entwickelt sich ein Briefkontakt, der
sieben Jahre anhält – bis beide andere Ehepartner gewählt
haben.
Mathildes jetzt erstmalig veröffentlichte Briefe an Eugen sind
nicht nur für die Freud-Forschung von Interesse. Sie geben Einblick
in die Erlebniswelt eines behüteten jungen Mädchens aus dem
jüdischen Bildungsbürgertum der vorletzten Jahrhundertwende. Sie
zeigen Mathilde mal spielerisch-flirtend, mal provozierend sowie
als kulturell interessierte, eifrige Theaterbesucherin, geben aber
auch Einblick in die vielen Krankheiten, Schicksalsschläge und
Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hat. Die Briefe zeugen
von Annäherungsversuchen und Liebesgefühlen bis hin zu
Heiratsphantasien.
Mathilde hätte sich, wie sie Jahre später Pachmayrs beiden Söhnen
eingesteht, eine Verlobung mit Eugen sehr gewünscht. Anders als
viele Mädchen ihrer Generation, will sie die Eheanbahnung nicht
ihren Eltern überlassen, sondern ihrem Glück selbst auf die Sprünge
helfen. Sogar an einen München-Besuch denkt sie, aber ihr Vater
will davon nichts wissen. Wenn sich, wie der Autor anführt, Sigmund
Freud gegen Eugen als künftigen Schwiegersohn ausgesprochen hat,
habe das maßgeblich daran gelegen, dass Eugen kein Jude war. Es
spielte keine Rolle, dass Eugen – sowohl in puncto Herkunft als
auch im Hinblick auf seine beruflichen Aussichten als Arzt –
ansonsten eine durchaus passende Partie wäre.
Sigmund Freud, wenngleich Atheist, bewegt sich in weitgehend
jüdischen Kreisen, und auch bei den Kindern wird eine
»Binnenheirat« (Gödde 2003, S. 133) angestrebt. Klar ist auch, dass
Freud von allzu früher Eheschließung nichts hält: »In unseren
sozialen und materiellen Verhältnissen heiraten Mädchen mit Recht
nicht in der ersten Jugend: sie werden sonst zu früh mit der Ehe
fertig: Du weißt, daß Deine Mutter fünfundzwanzig bei ihrer
Hochzeit war«, heißt es in einem Brief an die damals 18-jährige
Mathilde.
Wie Freuds Frau Martha über Eugen als Heiratskandidat dachte, wird
weniger deutlich. Lange Krankheitsphasen 1905/06 führen zu immer
größeren Abständen zwischen den Briefen. Mathilde leidet zeitweise
unter einer Art Gedächtnisverlust und beklagt, dass sie sich auch
von Eugen erst allmählich wieder ein Bild aufbauen kann. »Aber ich,
fürcht‘ ich, habe mich sehr verändert, so ein trauriges Jahr geht
auch nicht an einem vorüber, ohne Spuren zu hinterlassen«, schreibt
sie im Juli 1906 an ihren Freund.
Im Januar 1908 offenbart Eugen, dass er eine Freundin hat, und
zieht sein lange Zeit auf Mathilde gerichtetes Interesse von ihr
ab. Durch einen sehr persönlichen Brief an seine Tochter versucht
Sigmund Freud Mathilde über ihre Enttäuschung und ihre Zweifel an
ihrer Attraktivität hinwegzuhelfen. Ungeachtet dessen wird der Ton
ihrer folgenden Briefe an Eugen merklich sachlicher. Im Oktober
1908 verlobt sie sich mit Robert Hollitscher, den sie schon drei
Jahre kennt. Nach ihrer Heirat mit dem Textilkaufmann bleibt sie
kinderlos. Der Sohn ihrer Schwester Sophie, den sie nach deren Tod
aufnimmt, stirbt 1923 mit viereinhalb Jahren.
Die Rückschläge in ihrem Leben machen aus ihr jedoch keine
verbitterte und zurückgezogene Person. Auf Menschen in ihrer
Umgebung wirkt sie bis ins hohe Alter charmant, warmherzig,
selbstbewusst und, im Gegensatz zu ihrer berühmten Schwester Anna,
»somehow more feminine«. Eine Universität hat sie, auch wegen ihrer
instabilen Gesundheit, nie besucht, sie schafft sich aber andere
Perspektiven. Sie übersetzt psychoanalytische Aufsätze von
Prinzessin Marie Bonaparte aus dem Französischen. In den dreißiger
Jahren eröffnet Mathilde Freud in Wien ein Geschäft für
handgearbeitete Kleidung, das sie nach der Emigration 1938 in
London weiterführt – heute ist Bella, Enkelin von Mathildes Bruder
Ernst, als international erfolgreiche Modedesignerin in London
tätig, gewissermaßen in Mathildes Fußstapfen. Dass der Autor, über
den im Zentrum stehenden Briefwechsel der Jugendzeit hinaus, auch
auf diese und andere Aspekte von Mathildes früherem und späteren
Leben eingeht und zeigt, wie sich das »unselbständige Mädel« zu
einer weltgewandten Dame und tüchtigen Geschäftsfrau entwickelt,
macht sein anregendes Buch zu einer sehr bereichernden Lektüre.