Rezension zu Unbewusstes (PDF-E-Book)
Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 18 (1/2014)
Rezension von Udo Boessmann
Seit 2012 liegt von Günter Gödde und Michael Buchholz ein knapp
gefasstes, dicht geschriebenes und gut lesbares Buch über
»Unbewusstes« vor. Das ist insofern erfreulich, als es über das
Unbewusste eigentlich so viel mehr zu sagen gibt, wie die beiden
Autoren in früheren umfangreichen und anspruchsvollen
Veröffentlichungen gezeigt haben.
Die beiden Autoren zeichnen in ihrem neuen Buch zunächst den
geistesgeschichtlichen Weg nach, den der Begriff des Unbewussten
über Denker wie Leibniz, Kant, Fechner, Herbart, Helmholtz, Wundt,
Goethe, Carus, Schopenhauer, Nietzsche, Eduard von Hartmann, Lipps
bis hin zu Freuds Konzeption genommen hat. Wer in seiner
Berufspraxis täglich mit dem Begriff des Unbewussten arbeitet,
sollte meines Erachtens wissen, welcher geistigen Tradition Kind
sie/er ist. Das Buch von Buchholz und Gödde ermöglicht hier einen
anregenden und kurzweiligen Einstieg.
Anschließend setzen sich die Autoren mit wichtigen Kritikern und
Erweiterern von Freuds Theorien und Methoden auseinander, z.B. mit
Alfred Adler und Carl Gustav Jung. Für Freud war das Unbewusste die
Region der verdrängten Triebe, Wünsche und Fantasien, die ins
Bewusstsein zurückdrängen. Adler lag es dagegen – so erfährt man im
Buch – an einer »Entmythologisierung des Unbewussten«. Als Ursache
der Neurosen sah er »das Unbewusstwerden von Machtstrebungen, die
vom leitenden Persönlichkeitsideal abstammen, und Fiktionen, die in
diesem Interesse festgehalten werden müssen, damit sie einer
bewussten Anwendung und somit einer Er-probung und Beeinträchtigung
entzogen werden.« Bei einem größeren »Fehlschlag« stelle sich – so
Adler – die Frage einer fehlgeleiteten Kompensation, ob man nicht
zu angespannt und ungeduldig zu hoch hinausstrebe oder gar
Unerreichbares erzwingen wolle.
Jung wiederum störte sich an der personalistischen Enge von Freuds
Theorien. Er ergänzte Freuds ontogenetische Sicht des Unbewussten
durch seine phylogenetische Sichtweise und führte das kollektive
Unbewusste ein, zu verstehen als gewaltige Erbmasse der
Menschheitsentwicklung, die in jeder individuellen Struktur
wieder-geboren wird. Es sei bereits vor der Geburt vorhanden und
manifestiere sich in Archetypen, den universellen Urbildern in der
Seele aller Menschen.
Das Buch umreißt v.a. die Entwicklung der Psychoanalyse nach Freud,
Adler und Jung. Als Repräsentanten dieser Entwicklung werden z.B.
Anna Freud, Melanie Klein, Heinz Hartmann, Michael Balint, David
Winnicott, Heinz Kohut, Wilfred Bion, John Bowlby, Joseph
Lichtenberg, Daniel Stern, Stephen Mitchell, Christopher Bollas,
Otto Kernberg, Harry Stack Sullivan und Stavros Mentzos erwähnt.
Insgesamt zeichnet sich eine immer stärkere Betonung der
Intersubjektivität ab, wie die Autoren aufzeigen.
Gefahren für eine Fehlentwicklung der Psychoanalyse sehen Gödde und
Buchholz in einer zu einseitig »vertikalen« Sichtweise des
Unbewussten, die auch heute noch allzu sehr das »Tiefe«, das
»Abgewehrte«, »Verdrängte« und »Unsichtbare« betone und dabei zu
wenig die »Oberfläche«, das »Sichtbare«, die »Phänomene« selbst
beachte, die sich in der Interaktion zwischen Patient und Therapeut
abspielen. Wörtlich heißt es im Buch: »Die Suche nach dem, was
›dahinter steckt‹, hat eine ›Hermeneutik des Verdachts‹
hervorgebracht, als ginge es im Laufe eines psychoanalytischen
Prozesses darum, den Patientinnen und Patienten immerzu
›nachzuweisen‹, dass sie ›eigentlich‹ etwas anderes meinen, als sie
tatsächlich sagen.« So neigten Analytiker dazu, durch die Erzählung
eines Patienten »hindurchschauen« zu wollen, statt auf die
Erzählung selbst zu schauen. Auch bei der Analyse von Träumen berge
die deutende Suche nach deren »unbewussten Sinn die Gefahr, dass
sie in eine fragwürdige ›Alles-ist-sinnvoll-Position‹ einmündet«.
Das Unbewusste habe zwar »unendlich viel an Bedeutungsgehalt,
Stimmungen, Schwankungen, Instabilitäten, symbolischen Chiffren,
Schattierungen, Verknüpfungen von Ideen, Bildern und Worten«, das
Wort »unbewusst« dürfe aber nicht »zum Zauberwort werden, das gar
nichts mehr erklärt«.
Die Autoren plädieren – als unverzichtbare Ergänzung zu der
traditionellen »vertikalen« Sicht – für eine »horizontale«
Sichtweise, für die das Unbewusste vor allem ein »soziales
Resonanzorgan« bzw. ein »System sozialer Resonanzen« darstellt. In
der Behandlungssituation komme es wesentlich darauf an, dass der
Therapeutin/dem Therapeuten »zunächst eine Ko-Regulierung von
Affekten« gelinge, dass sie/er zusammen mit dem Patienten »einen
dyadischen Bewusstseinszustand« entwickle, »also eine Ausrichtung
der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Moment des
Erlebens«. Sinn der Behandlung sei, sich für die Vielschichtigkeit
des Unbewussten zu öffnen, statt sich allzu stark auf irgendeine
vermeintliche Hauptsache zu fokussieren. Aufschlussreich sei z.B.
nicht nur das Narrativ des Patienten, sondern auch die Art des
Erzählens und Zuhörens (die Oberfläche): »neben der Stimme das
Gestotter und Gestammel, die vielfachen Redestarts mit mehreren
gleichzeitigen Themen, die Verschachtelungen, die Hms und Ähms, die
Pausen und Verhaspelungen beim Reden und beim Zuhören ebenso wie
das Sich-gegenseitig-Unterbrechen, das schnelle Anschließen, der
Kampf ums Rederecht, das trotzige Schweigen«. Das »kleine, viel zu
wenig beachtete Wunder« sei, »dass wir in Gesprächen mit all diesen
Stottereien recht gut zurechtkommen und dass manchmal schon etwas
verstanden wird, bevor es überhaupt gesagt ist – eben weil es
Resonanzen gibt«. Und: »Kommt es zur emotionalen Resonanz zwischen
einem Therapeuten und seinem Patienten, dann regulieren sich auch
psychophysiologische Momente.«
Gödde und Buchholz vergleichen Psychotherapie mit einer
Liebeserfahrung, deren »Einheit stiftender Kern« darin besteht,
»dass der Liebende zum Geliebten wird. Aus dieser Einheit gehen
beide als andere hervor. Die Beschränkung des Selbst auf das
Individuum wird hier aufgehoben. In der Gegenübertragung kann das
als Ver-Änderung erlebt werden: Das eigene Selbstgefühl verändert
sich nach den unbewussten Vorgaben des anderen« (interaktives
Feld). So strebt eine »Zwei-Personen-Psychologie« keine Autonomie
an, sondern »Souveränität in Form der Anerkennung von
wechselseitiger praktischer Abhängigkeit«. Sie überwindet die
»ego-zentrische Perspektive der Triebtheorie, die den anderen
Menschen als Objekt der Triebbefriedigung sieht«. Sie interessiert
sich – wie Freud in seiner therapeutischen Praxis auch schon – für
die »Gestalt der Oberfläche, in der das Unbewusste präsent wird«,
»sich präsentiert«. Psychoanalytische Therapie soll den Patienten
»auf Augenhöhe mit seinen unbewussten Strebungen« bringen, sodass
er sich von seinen unbewussten Konflikten lösen und von ihnen frei
werden kann. »Diese Freiheit zur Entscheidung ist das Beste, was in
einer Therapie erreicht werden kann. Der Weg dorthin ist von
therapeutischer Resonanz begleitet.« Alles in allem ein gelungenes
Buch mit anschaulichen Fallbeispielen und wichtigen Implikationen
für die psychodynamische Praxis.