Rezension zu Der Besen, mit dem die Hexe fliegt

Rezension von Ludwig Janus

Die Grundaussage des Buches ist: Psychologie und Psychotherapie sind als »Wissenschaft der Komplementarität« zu verstehen. Komplementarität ist dabei verstanden als verbindende und übergreifende Sichtweise des harten (naturwissenschaftlich-empirischen) und des weichen (Interpretation, Deutung und Intuition betonenden) Denkstils. Dabei unterscheiden sie zwei grundsätzliche Modelle von Psychotherapie, das »medizinische« mit abgrenzbaren Störungsbildern, eindeutigen Diagnosen und daraus folgenden ableitbaren und aus empirischer Forschung gewonnenen Interventionen und das »sozialwissenschaftliche« Modell, das die therapeutische Beziehung und das sich in ihr vollziehende Geschehen als zentral ansieht.

Die Texte von 18 Autoren werden jeweils durch eine kenntnisreiche Einleitung am Anfang und eigene Einführungen vor den einzelnen Teilen auf das Leitthema der Komplementarität bezogen.

Nach einer Vergegenwärtigung der Präsenz des »Unbewussten« in den verschiedenen Feldern der Psychotherapie, auch denen, die sich nicht explizit hierauf beziehen, wird in einem weiteren Teil aus mehrfacher Perspektive stimmig abgeleitet, dass sich das komplexe psychische Geschehen nur komplementär erfassen lässt, bei Wilhelm Wundt etwa in der Ergänzungsreihe von Messen und Interpretieren (der physiologische Psychologe Jochen Fahrenberg) oder bei Nietzsche in der Vermittlung von Geist und Natur (die Philosophen Helmut Heit und Nikolaos Loukidelis) und auch wissenschaftstheoretisch wie der Methodiker Harald Walach mit ausdrücklicher Bestätigung des Konzepts der Komplementarität erläutert: »Im Grunde wäre es aus meiner Sicht historische Aufgabe der Psychologie, den Erfahrungsbegriff der Wissenschaft um eine Innenansicht zu bereichern« (B.1, S. 322).

Anregungen hierzu lassen sich auch aus einer Reflexion dieser Problematik im 19. Jahrhundert und speziell bei Schopenhauer und Nietzsche gewinnen, aber auch aus den »Formen des Wissens und ihrer Entwicklung beim Therapeuten« (Kapitel von Michael Buchholz). Therapeuten sind, wie er erläutert, nicht bloße Anwender von wissenschaftlichen Theorien, sondern entwickeln und verfügen ebenso über ein Wissen, das jenseits des Sichtbaren zu verorten ist: Es hat zu tun mit Intuition und dem »Lesen« von Intentionen der Patientin / des Patienten oder der Klientin / des Klienten. In diesem Zusammenhang legt Buchholz auch dar, welche Bedeutung produktives Schweigen in Psychotherapien haben kann.

Im letzten Teil des ersten Bandes geht es um die vorliegenden Ausführungen und Gedanken zu der Dichotomie von »Erklären und Verstehen« in der Psychologie und Psychotherapie. Freud hatte in seiner Diskussion des wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse die »Dialektik von Erfahrung und Idee, von Beobachtung und Begriffsbildung« sehr differenziert diskutiert (im Einzelnen in dem Kapitel von dem Psychoanalytiker Wolfgang Mertens dargestellt). Die von Dilthey formulierte Dichotomie von Erklären und Verstehen durchzieht die Wissenschaftsdiskussion des ganzen 19. und auch 20. Jahrhunderts (Kapitel von dem Psychoanalytiker Werner Pohlmann). Der breite »interdisziplinäre Blick« des Freudschen Denkens wird in den diesbezüglichen Kapiteln von dem Soziologen Bernard Görlich und dem Pädagogen Jörg Zirfas deutlich.

In ihrer Zusammenfassung des ersten Bandes können Gödde und Buchholz klärend feststellen, wie vielfach führende Vertreter der akademischen Psychologie mehr oder weniger dezidiert ihr Unbehagen an der einseitigen Ausrichtung des Faches an Modellen der reinen Messbarkeit geäußert haben. Dazu kommt, dass die Methoden der qualitativen Forschung in den letzten Jahren ein hohes Niveau gewonnen haben. Resümierend beschließen sie den Band mit einem Zitat des Sozialwissenschaftlers Norbert Rath: »Eine Psychologie, die sich ausschließlich am scheinbar exakteren Erkenntnismodus der Naturwissenschaften orientieren würde, verschenkte damit Erfahrungs- und Erkenntnischancen, die in phänomenologischen, hermeneutischen, historischen, geistes-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Zugangsweisen liegen.« Und hierfür haben die Autoren des ersten Bandes m. E. mit dem Konzept der Komplementarität eine schlüssige Lösung gefunden.

Diese Klärungsarbeit ermöglicht im zweiten Band eine Darstellung verschiedener Dimensionen der Psychotherapie in einem ständigen Wechselbezug von qualitativer und quantitativer Forschung. Damit wird auch die so einengende und in der Psychotherapie doch so verbreitete personengebundene Tradition überwunden. Mit dem Titel »Konversation und Resonanz« soll ein Rahmen benannt werden der die verbale Ebene und die Ebene der Beziehung und der hier stattfindenden Resonanzphänomene gleichermaßen umfasst. Die Herausgeber unterscheiden dabei »eine ›vertikale‹ (in die Tiefe gehende) und eine ›horizontale‹ (sozial-interaktive) Dimension des Unbewussten« (Bd.2, S. 9). Im Sinne der Herausgeber ist eine »umfassend« verstandene Konversation »hochgradig sensibilisiert für die Beteiligung des Körpers, der Mimik, der Gestik, der Stimme und ebenso für die musikalischen Komponenten wie insbesondere Rhythmus und Pausen« (Bd. 2, S. 33).

Um diesen Ansatz wissenschaftlich zu verankern werden umfänglich im ersten Teil seine philosophischen Wurzeln im 19. und 20. Jahrhundert ausgelotet. Im zweiten Teil wird kenntnisreich den »impliziten« Konzepten des jeweiligen anthropologischen Vorverständnisses in der Psychotherapie und ihren einzelnen Richtungen nachgegangen (hier besonders von dem Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth). Ausführlich und auch kritisch werden dann die verschiedenen Aspekte der Hirnforschung in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie diskutiert, aus der sich auch konstruktive Forschungsansätze ergeben. Hierbei hat die »cognitive science« eine besondere Bedeutung, wie der Herausgeber Michael Buchholz kenntnisreich erläutert. Die Wichtigkeit der Wahrung einer integrativen Sicht, die die Wirklichkeit der Leiblichkeit und die sozialen Bezüge mit berücksichtigt, wird von dem Psychiater Thomas Fuchs vermittelt. Wie Buchholz in dem genannten Kapitel erläutert, erfassen die Forschungen der »cognitive science« und der Hirnforschung in gleicher Weise mit dem »embodiment«, der »embeddedness« und der »extension« wesentliche Komponenten des psychotherapeutischen Könnens, die dadurch empirischer Forschung zugänglicher gemacht werden.

Im letzten Teil des zweiten Bandes geht es um die komplexen organisatorischen Bedingungen, die den Rahmen für psychotherapeutische Tätigkeit bilden, und um die Frage, wie diese die praktische Psychotherapie beeinflussen. Einen breiteren Raum nimmt dabei auch eine differenzierte Diskussion der Ausbildungsbedingungen und deren Auswirkungen ein, insbesondere auch in Bezug auf die Planungen einer direkten Ausbildung an den Universitäten. Gerade für die Diskussion solcher Planungen bildet das Werk eine wertvolle Ressource. Das gilt besonders für den letzten Beitrag der beiden Psychoanalytikerinnen Susanne Walz-Pawlita und Susanne Loetz, die am Schluss resümieren: »Als Alternative zu einem nicht unter großen qualitativen Einbußen realisierbaren Direktausbildung halten wir die Entwicklung von systematischen Kooperationen der Universitäten mit den fachlichen Ressourcen der außeruniversitären Ausbildungsinstitute für ratsam – mit gemeinsamen Kursen und Forschungsprojekten, mit Einbindung des fachlichen und berufspraktischen Wissens der Dozenten in den Ausbildungsinstituten in Lehre und Forschung an der Universität und wechselseitiger Anerkennung einzelner Leistungsnachweise« (B.2, S. 632).

Zum Abschluss sei noch versucht, den nicht einfachen Titel des Werkes »Der Besen, mit dem die Hexe fliegt« zu erläutern, der vielleicht nach dem Überblick leichter in seiner Vieldeutigkeit verständlich wird. Vereinfachend gesagt, steht die Hexe für die therapeutische Intuition und der Besen für das empirische Messen und Ordnen. Aber um die Komplexität, die gemeint ist, deutlich werden zu lassen, will ich hier die Herausgeber selbst zitieren: »Wer Psychotherapie handhaben will, und den Besen der Manuale anwendet, dem könnte es wie dem Zauberlehrling ergehen – er wird die Geister nicht mehr los, die er rief. Ein Besen ohne Meister taugt nur zum Reinemachen. Eine Hexe aber ohne einen Ordnung schaffenden Besen produziert nichts als Verwüstung und Verführung. Hexe und Besen müssen sich vereinigen, dass jener symbolische Flug ermöglicht wird, der große Zusammenhänge zu übersehen gestattet, der sich aus sinnlichen Befangenheiten löst und sie zugleich vertieft« (Bd. 1, S. 13).

Zusammenfassend ist zu sagen, dass es den Herausgebern mit ihren Einführungen zu den einzelnen Teilen, die die Kapitel der 18 Autoren sinnvoll zusammenfügen, gelungen ist, ein kohärentes Handbuch der heutigen Psychotherapie in ihrer ganzen Komplexität zu erstellen. Doch besteht die Gefahr, dass der zentrale wissenschaftstheoretische und wissenschaftspraktische Gedanke nicht ausreichend deutlich kenntlich wird, dass Psychologie und Psychotherapie als eine Wissenschaft der Komplementarität erfasst konzipiert werden können und damit einen neuen Typ von Wissenschaft darstellen. Darum würde ich mir wünschen, dass die Herausgeber diesen Grundgedanken auf der Basis der Beiträge dieses Werkes in kürzerer Form auf verschiedenen Foren darstellen und vertreten und diesem neuen Verständnis von Psychologie und Psychotherapie die gebührende Aufmerksamkeit verschaffen. Denn letztlich sind wir uns selbst und der Welt gegenüber immer in der Wechselbezüglichkeit von innerer und äußerer Wahrnehmung gegeben. Und menschliches Selbst- und Weltverständnis hat sich immer um die Bestimmung dieses Wechselbezuges von innen und außen konstituiert, sei es als magische Weltanschauung in den Stammeskulturen, als mythisches und später theologisches und philosophisches Weltverständnis. Psychologie und Psychotherapie stellen in diesem Sinne zeitgenössische Erfassungen und Formulierungen dieses existentiellen Wechselbezugs zwischen innen und außen dar und in diesem Sinne kann man Psychologie und Psychotherapie als Grundlagenwissenschaften verstehen, wie es dies auch schon Wilhelm Wundt in seiner psychohistorischen Psychologie getan hat.

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