Rezension zu Das Unbewusste, Band 1-3
Frankfurter Rundschau vom 27. Juli 2005
Rezension von Christof Windgätter
Das Unbewusste hat Konjunktur. Seit einiger Zeit jedenfalls gibt es
sie wieder: die Kongresse, Workshops und Veröffentlichungen zu
diesem Thema, das angeblich längst begraben oder doch zumindest
durch zeitgemäßere Leitbegriffe wie »Körper«, »Macht« oder
»Information« ersetzt worden sein sollte. Der Tod freilich ist in
unserer Kultur schon immer der beste Garant für ein neues
(zusätzliches, verlängertes, manchmal sogar ewiges) Leben gewesen.
Vom Wiedergänger aus Nazareth bis zu den Zombie-Filmen der
Gegenwart ist dieses Motiv bekanntlich durchgespielt worden. Warum
sollte es theoretischen Konzepten anders ergehen? Auch für sie
gilt, zumal unter den Retro-Bedingungen der Postmoderne, dass sie
totgesagt die günstigsten Überlebenschancen haben. Und das will
erst einmal ausgenutzt werden, denn es bleibt ja nach wie vor die
Aufgabe bestehen, zwischen Erlösung und Erbrechen, zwischen gut
begründeten und schlecht gemachten Simulakren zu unterscheiden.
Ein Buch, das wohl unter diesen Vorzeichen zu stehen kommt, ist der
kürzlich erschienene erste Band eines ebenso groß angelegten wie
imposanten »Projektes über ›Das Unbewusste‹« (Psychosozial-Verlag).
Herausgegeben von Michael B. Buchholz und Günter Gödde umfasst es
mehr als 700 Seiten, auf denen sich, solide gebunden und
lesefreundlich gesetzt, eine Sammlung von Essays zur Macht und
Dynamik des Themas präsentiert. Mit nicht geringem personalen,
editorischen und konzeptionellen Aufwand, wie sofort ins Auge
springt, denn hier wird in fünf Kapiteln von über zwanzig
verschiedenen Autoren aus den unterschiedlichsten Disziplinen (vor
allem Philosophie, Pädagogik, Psychoanalyse und
Kulturwissenschaften) das Spannungsfeld des Unbewussten vom Beginn
der Neuzeit bis zu zeitgenössischen Entwürfen durchmessen.
Versuch einer Kartographie
Sehr zu Recht sprechen deshalb die Herausgeber vom Unbewussten als
einem »Zentralmassiv«, über dessen Existenz wir zwar unterrichtet
sind, dessen »Territorium« wir aber noch lange nicht vollständig
erwandert oder gar kartographiert haben. Das vorliegende Buch will
diesem Defizit entgegenwirken. Es hat die Absicht, mit kritischem
Blick das Alte neu zu verzeichnen und aufzuarbeiten, was es bisher
noch an weißen Flecken auf jener Karte des Unbewussten gibt. Kein
leichtes Unterfangen, das sich deshalb aber nicht nur an
Fachwissenschaftler wendet, sondern durch »Einführungen« am Anfang
eines jeden Kapitels auch für Theorie-Amateure geeignet ist.
Erfreuliche Nebenwirkung: So wird noch die Erfahrung revidiert,
nach der es sich bei Sammelbänden nurmehr um die Addition von
Aufsätzen handeln könne.
Eine Herausgeberleistung, die daran anschließend auch für
Überraschungen gut ist, hätte man ihr Projekt doch sonst nicht
zuerst und zunächst mit rationalistischen Denkern wie Descartes,
Leibniz oder Kant in Verbindung gebracht. Deren Konzepte von
Bewusstsein oder Vernunft jedoch rechnen immer schon mit ihrer
Kehrseite, als unabwendbarem Schatten: sei es, dass sie einen
Mangel an Gewissheit konstatieren, der systematisch beseitigt
werden muss, oder aber von »unmerklichen Wahrnehmungen« ausgehen,
die unser Denken sowohl begleiten als auch beeinflussen. Und selbst
für den Gewährsmann des »absoluten Geistes«, Georg Wilhelm
Friedrich Hegel wird gezeigt, wie sehr seine Dialektik der
Selbstbewusstwerdung auf unreflektierte Motive, in diesem Fall
einen »christologischen Kern«, rekurriert: Die Idee wird zur
Realität, wie ehemals Gott zum Menschen.
Mit Thesen dagegen, die den Ursprung des Unbewussten in der
Romantik verorten (als irrational-dunklen Trieb) oder es im 20.
Jahrhundert strukturalistisch beschreiben (als »symbolische
Funktion« oder »sprachliche Struktur«), bewegt sich das Buch
wiederum in vertrauten Gefilden. Erkenntnisgewinn durch Aufbau und
Auswahl scheint hier das Motto: Denn nicht nur lässt es die Rede
vom Unbewussten nicht erst bei Freud beginnen, es dokumentiert
darüber hinaus zugleich die Tatsache, dass der Begründer der
Psychoanalyse (um von deren Institutionen zu schweigen) auf
unterschiedlichste Weise überholt, modifiziert oder gar
verabschiedet wurde.
Wille zur Bewahrung
Jedenfalls ist dies der Eindruck, der sich beim Durchblättern des
Inhaltsverzeichnisses aufdrängt und den die Lektüre der einzelnen
Aufsätze bestätigt. Auch die Vorschau auf Band zwei und drei des
Projektes weist in diese Richtung: Dort soll das Unbewusste u.a.
als phänomenologisches, kulturelles, neurologisches und
physikalisches Konzept diskutiert werden.
Folgt man allerdings dem Vorwort der Herausgeber (»Was uns
bewegt«), dann ergibt sich ein anderes Bild: Deren Ziel nämlich
besteht nicht darin, einen Beitrag zur Histographie des Unbewussten
zu liefern (etwa als Erforschung der Orte, Praktiken und
Materialitäten, durch die es überhaupt erst und jeweils als Objekt
erscheinen konnte), sondern in dem Versuch, einen »Fluchtpunkt
Freudschen Denkens auf modener Augenhöhe« zu errichten.
Wollte man mit Worten spielen, könnte man von einem
Freudozentrismus sprechen. Anstatt die Psychoanalyse in die
Geschichte des Unbewussten einzuordnen, wird ihr eine privilegierte
Position zuerkannt, die allen übrigen Theorien als Maßstab dient.
»Wir wollen uns versichern, woher Freuds Ströme so reichlich
flossen und welche Weiterentwicklungen bisher erfolgt sind.«
Ist aber die Frage erst einmal in dieser Weise gestellt, dann wird
nicht nur Geschichte auf ein Davor und ein Danach reduziert,
sondern auch die Forschung um ihre Ergebnisoffenheit gebracht.
Anders formuliert: Ein Wille zur »Bewahrung« tritt an die Stelle
dessen, was Michel Serres die »Experimentalstruktur« von
Wissenschaft genannt hat. Die Suche nach Neuem wird ersetzt durch
die Erneuerung, das Abenteuer der Entdeckung durch die Ergänzung
des Bestehenden. Wie auch immer. Bemerkenswert bleibt, dass die
Praxis der Aufsätze mit der Rhetorik ihrer Vorworte kontrastiert;
freundlich zwar, gleichwohl mit Nachdruck. Fast scheint es, als sei
das Buch, bei aller Auszeichnung, die es ansonsten verdient, an
dieser Stelle hin- und hergerissen: zwischen Kreuzigung und
Auferstehung, ob es die Grabschrift einer Tradition sein soll oder
der Ausdruck ihrer Renaissance.