Rezension zu Das Unbewusste in der Praxis

Luzifer Amor H.37/2006

Rezension von Andreas Wild

Der vorliegende Sammelband eröffnet ein dreibändiges Großprojekt. Während der zweite Band »Das Unbewußte in aktuellen Diskursen« und der dritte »Das Unbewußte in der Praxis« behandeln wird, bezieht sich der erste etwa zur Hälfte auf die vorpsychoanalytische Geschichte der Idee des Unbewußten in Philosophie, Medizin, Psychologie und Psychotherapie und zur anderen Hälfte auf die wichtigsten Positionen in der Geschichte der Psychoanalyse, von Freud bis zum heutigen Intersubjektivismus. Es handelt sich also um den ideengeschichtlichen Teil des Gesamtprojekts.

Die Beiträge stammen von zahlreichen Autoren aus den einschlägigen Disziplinen, hier vor allem aus Philosophie und Psychoanalyse. Die Herausgeber sind besonders intensiv beteiligt, nicht nur mit je eigenen Beiträgen, sondern u. a. auch mit einem Einleitungsessay und mit »abschließenden Betrachtungen« über »Das Unbewußte und seine Metaphern«. Die Rolle der Metaphern, besonders in der klinischen Theoriebildung, hat Michael Buchholz bereits in mehreren Publikationen untersucht. Sein eigenständiger Beitrag im vorliegenden Band bezieht sich auf »Stephen Mitchell und die Perspektive der Intersubjektivität«. Günter Gödde ist vor allem durch sein Buch »Traditionslinien des ›Unbewußten‹. Schopenhauer – Nietzsche – Freud« bekannt geworden. Im vorliegenden Band ist er für die Artikel über Nietzsche und Freud verantwortlich. In ihrem gemeinsamen Einleitungsessay skizzieren die Herausgeber ihr ideengeschichtliches Teilprogramm mit den Worten: »Philosophische, sozial-und kulturwissenschaftliche sind neben den naturwissenschaftlichen Traditionen in Freuds Theorie eingeflossen. Sich dieser Traditionsbestände zu vergegenwärtigen, ist eine der Absichten dieses Buchprojektes. Wir wollen uns versichern, (...) welche gewaltige Leistung Freud erbrachte, als er philosophische Traditionen in eine psychologische Theorie und hilfreiche psychotherapeutische Praxis ›umbuchte‹ (Assmann), welche enormen Verfeinerungen und Weiterentwicklungen erfolgt sind« (S. 19 f.).

Diese Absichten realisiert der Band in eindrucksvoller Weise, insbesondere durch die Einführungen der Herausgeber zu den fünf Teilen, aber auch durch viele Spezialuntersuchungen, vor allem die Artikel über »Immanuel Kants Projekt der Anthropologie« (Birgit Althans und Jörg Zirfas), den »Romantischen Weg in die Tiefe« (Irma Gleiss), »Wege zum Unbewußten in der Philosophie Schopenhauers« (Matthias Koßler), »Nietzsches Annäherungen an das ›Unbewußte‹« (Gödde), »Vom Magnetismus und Hypnotismus zur Psychoanalyse« Johann Georg Reicheneder), »Das Unbewußte bei Sändor Ferenczi« (Karla Hoven-Buchholz), »Otto Rank und das Unbewußte« (Ludwig Janus und Hans-Jürgen Wirth) sowie »Das Unbewußte in der Selbstpsychologie« (Hans-Peter Hartmann). Vor allem der letztere Text benennt theoretische Alternativen zu Freuds Begriffen des dynamischen und strukturellen Unbewußten, nämlich die des »präreflexiven« und des »nicht-validierten« Unbewußten.

Einige Beiträge werden ihrer Aufgabe allerdings nicht gerecht. Da ich selbst von der Philosophie herkomme, möchte ich das an zwei philosophischen Artikeln aufzeigen. Der Beitrag über »Descartes, Leibniz und die Kehrseite des Rationalismus« von Johannes Oberthür ist so stark von Heideggers ablehnender Sicht auf die moderne Erkenntnistheorie geprägt, daß er die umwälzende Frage von Descartes nach dem besonderen epistemischen Zugang des Subjekts zu sich selbst von vornherein nicht ernst nimmt. Und der Text von Stefan Etgeton über Hegel und Freud beruht auf der höchst einseitigen These, daß in Hegels System »dessen theologischer Kern sich philosophisch bis zur Unkenntlichkeit verpuppt hat« (S. 173). Da Etgeton, ein Theologe, weiterhin meint, daß »der Psychoanalyse ihr eigener christologischer Glutkern wesentlich unbewußt geblieben ist« (S. 176), berücksichtigt er gar nicht, daß ganz andere Aspekte der Hegelschen Philosophie für eine heutige Reformulierung der Psychoanalyse wichtig sein könnten, insbesondere Hegels Dialektik der Anerkennung, auf die sich gegenwärtig einige der intersubjektivistischen Psychoanalytiker berufen.

Solche Defizite fallen aber schon deshalb nur wenig ins Gewicht, weil der Band viele interessante ideengeschichtliche Beobachtungen und Hypothesen enthält. Ich nenne hier nur die detaillierte Darstellung von Schopenhauers weitgehender Vorwegnahme von Freuds Idee der Verdrängung und die originelle These von Gödde, »daß Freuds Grundregel der freien Assoziation eine besondere Ausgestaltung der antiken parrhesia war« (S. 223), d.h. der Technik der antiken Rhetorik und Therapeutik, alles freimütig auszusprechen. Vor allem aber geht es den Herausgebern nicht nur um ideengeschichtliche, sondern auch um systematische Thesen. Diese betreffen einerseits Freuds Theoriebildung und andererseits die zeitgenössische Psychoanalyse.

In bezug auf Freud konstatieren die Herausgeber, daß er sich zumindest implizit »im Rahmen von Problemstellungen und Denkansätzen bewegt hat, die der eigentlichen Philosophie angehören, auch wenn er dabei behauptet, eine Annäherung an sie sorgfältig vermieden zu haben« (S. 18). Gödde stellt dazu in seinem Artikel über Freud genauere Fragen: »Wenn man der Philosophie letztlich doch einen Stellenwert innerhalb der Metapsychologie einräumt, dann kann man sich der Frage nach den Verbindungen zwischen Freuds Metapsychologie und der philosophischen Tradition des Unbewußten nicht entziehen. Wie weit war Freud Aufklärer und wie weit Romantiker, war er eher Rationalist oder Irrationalist, wie nahe steht er Schopenhauerscher und Nietzsche?« (S. 347). Und er antwortet u.a.: »(In) der naturwissenschaftlich-biologischen Fundierung des Menschenbildes und der Betonung des Dämonischen in der Natur, erweist sich Freud weit eher als Lebensphilosoph Schopenhauerscher Provenienz denn als romantischer Naturphilosoph« (S. 350). Dieses Urteil kann man nur unterschreiben. Der romantische Begriff des »Unbewußten« meint vom frühen Schelling bis zu Eduard von Hartmann wesentlich etwas Vorindividuelles, Spirituelles und Harmonisch-Göttliches, das mit Freuds Begriff unvereinbar ist. Gerade deshalb bleibt m. E. Göddes These vom philosophischen Charakter der Metapsychologie unklar. Wenn man mit Merton Gill davon ausgeht, daß die Metapsychologie jedenfalls »keine Psychologie« ist, so fragt es sich, was sie anders sein kann als Neurophysiologie oder Biologie.

Der philosophische Zug, den eine heute überzeugende Psychoanalyse haben müßte, scheint nach Ansicht der Herausgeber auch nicht in materialen Einsichten zu liegen, sondern in einer epistemologischen Brechung der Theoriebildung. In diesem Sinn postuliert schon der Einleitungsessay »›Mehrperspektivität‹ als Kriterium der Wahrheitsannäherung« (S. 12). Dieses Postulat bringen die Autoren erhellend mit Einsichten der heutigen Psychoanalyse und Säuglingsforschung zusammen, daß das kindliche Erleben von seinen Bezugspersonen »validiert« werden muß, um zur bestimmten Erfahrung von Realität werden zu können (S. 15). Ihre abschließenden Betrachtungen begründen den »paradigmatischen Pluralismus«, den sie vertreten, so: »Die Metapher kann in der psychotherapeutischen Praxis wie in der Theorie des Unbewußten einen zentralen Platz beanspruchen, denn über Seelisches kann kaum anders denn metaphorisch gesprochen werden. Das Seelische liegt jenseits der Sprache, nur die Metapher und andere ihr verwandte figurative der Irrationalist, wie nahe steht er Schopenhauer und Nietzsche?« (S. 347). Und er antwortet u.a.: »(In) der naturwissenschaftlich-biologischen Fundierung des Menschenbildes und der Betonung des Dämonischen in der Natur, erweist sich Freud weit eher als Lebensphilosoph Schopenhauerscher Provenienz denn als romantischer Naturphilosoph« (S. 350). Dieses Urteil kann man nur unterschreiben. Der romantische Begriff des »Unbewußten« meint vom frühen Schelling bis zu Eduard von Hartmann wesentlich etwas Vorindividuelles, Spirituelles und Harmonisch-Göttliches, das mit Freuds Begriff unvereinbar ist. Gerade deshalb bleibt m. E. Göddes These vom philosophischen Charakter der Metapsychologie unklar. Wenn man mit Merton Gill davon ausgeht, daß die Metapsychologie jedenfalls »keine Psychologie« ist, so fragt es sich, was sie anders sein kann als Neurophysiologie oder Biologie.

Der philosophische Zug, den eine heute überzeugende Psychoanalyse haben müßte, scheint nach Ansicht der Herausgeber auch nicht in materialen Einsichten zu liegen, sondern in einer epistemologischen Brechung der Theoriebildung. In diesem Sinn postuliert schon der Einleitungsessay »›Mehrperspektivität‹ als Kriterium der Wahrheitsannäherung« (S. 12). Dieses Postulat bringen die Autoren erhellend mit Einsichten der heutigen Psychoanalyse und Säuglingsforschung zusammen, daß das kindliche Erleben von seinen Bezugspersonen »validiert« werden muß, um zur bestimmten Erfahrung von Realität werden zu können (S. 15). Ihre abschließenden Betrachtungen begründen den »paradigmatischen Pluralismus«, den sie vertreten, so: »Die Metapher kann in der psychotherapeutischen Praxis wie in der Theorie des Unbewußten einen zentralen Platz beanspruchen, denn über Seelisches kann kaum anders denn metaphorisch gesprochen werden. Das Seelische liegt jenseits der Sprache, nur die Metapher und andere ihr verwandte figurative Sprachformen haben das eigentümlich tranzendente Potential, über den manifesten Aussagegehalt auf ein Anderes zu verweisen« (S. 703). An dieser Stelle habe ich Bedenken. Was soll es heißen, daß »das Seelische jenseits der Sprache liegt«? Gilt das nicht für alles Körperliche mindestens ebenso? Vielleicht ist die Sprache über Seelisches weniger metaphorisch, als es im Lichte der üblichen Dingontologie und des naturwissenschaftlichen Weltbildes scheint. So sind räumliche Beschreibungen von Empfindungen und Gefühlen vielleicht nur dann metaphorisch, wenn dabei das übliche, mathematische Modell eines homogen-teilbaren Raumes vorausgesetzt wird. Weiterhin führt der Vergleich der Metaphorik des Unbewußten bei Schopenhauer, Nietzsche und Freud durch die Herausgeber zu viel weniger Pluralismus, als sie generell unterstellen. Auch wenn man davon ausgeht, daß die Idee des Unbewußten in der Psychoanalyse nicht allein durch Freuds dynamische und strukturelle Modelle erklärt werden kann, so schließt das nicht aus, daß das begriffliche Verhältnis des Freudschen Unbewußten zu neueren Konzepten wie denen des nicht-validierten, des präverbalen und eher mütterlich bestimmten Unbewußten ohne die Hilfe von Metaphern definiert werden kann. In formaler Hinsicht bleibt kritisch anzumerken, daß dem Band ein Literaturverzeichnis fehlt, das die einzelnen Artikel übergreift, und vor allem ein Register. Zuletzt ein Detail: Hans-Peter Hartmann hat in seinem Artikel zur Selbstpsychologie Daniel N. Stern als Autor des Buches »Unformulated Experience« (1997) genannt. Der Autor ist aber Donnell B. Stern, ein Analytiker, der sich, anders als sein berühmter Namensvetter Daniel, zentral auf Gadamers Hermeneutik beruft.

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