Rezension zu Das Unbewusste, Band 1-3
Frankfurter Rundschau vom 27. Februar 2007
Rezension von Manfred Dierks
Im Oktober 1896 starb Sigmund Freuds Vater, ein tief
einschneidendes Ereignis. Im »Inneren ist wohl alles Frühere bei
diesem Anlass aufgewacht«, schreibt Freud dem Jugendfreund Fließ.
Das gab den Anstoß zu einem Vorgang, der nach den späteren
Erkenntnissen der Psychoanalyse eigentlich unmöglich ist: Freuds
»Selbstanalyse«. Bald spülten seine Träume frühkindliches Material
herauf – etwa verschlüsselte Indizien für einen Missbrauch der
Schwestern durch den Vater –, und eine totale Schreibhemmung sorgte
für aktuellen Analysebedarf. Am Ende aber hatte er seinem
Unbewussten ein allgemeingültiges Seelenmuster entrissen: das frühe
ödipale Beziehungsdrama.
Die Stiftungslegende der Psychoanalyse will, dass Freud die
zutreffende Deutung seiner Träume ohne fremde Hilfe gelungen ist.
Er war also befangener Patient und unabhängiger Analytiker
zugleich, was nach der bald entwickelten psychoanalytischen
Deutungslehre nicht praktizierbar ist. Freuds erster systematischer
Zugang zum Unbewussten bleibt also im Halbdunkel eines
Gründungsmythos. Das sagt natürlich wenig gegen das geniale
Konstrukt der »Traumdeutung«, die 1899 daraus hervorgegangen
ist.
Es sagt jedoch etwas über das psychoanalytische Konzept des
Unbewussten: Es ist von Anfang an mit erheblicher Undeutlichkeit
verbunden. Per Definition ist es nicht unmittelbar erkennbar, kann
nicht bewiesen und beschrieben werden, sondern nur aus seinen –
angenommenen – Wirkungen erschlossen. Dabei zweifelt heute wohl
niemand mehr an der Existenz dieses Seelengebietes. Jeder
Autofahrer weiß, dass überwiegend nicht er, sondern »es« sein Auto
steuert; jeder Schriftsteller hat irgendwann gelernt, dass er ein
stimmiges Bild nicht bewusst erzwingen kann, sondern dass es sich
bei ihm »einstellen« wird. Noch die heutigen Neurowissenschaften
beeilen sich, das Unbewusste zu bestätigen – nur haben sie ganz
andere Vorstellungen davon.
Hypothetische Beschaffenheit
Das verweist auf einen Sachverhalt, der erstaunlicherweise immer
wieder vergessen oder einfach weggeschoben wird: Nicht die
Existenz, aber die Beschaffenheit des Unbewussten ist absolut
hypothetisch. Es handelt sich um eine »black box«, über deren
Inhalt sich nur theoretische Vermutungen anstellen lassen. Im
öffentlichen und therapeutischen Normalgebrauch der Psychoanalyse
werden die Inhalte, die Freud dem Unbewussten zugesprochen hat,
gleichsam ontologisiert – als seien die »Triebrepräsentanzen«, das
»Verdrängte«, die phylogenetischen Reste objektiv vorhanden. Andere
mächtige Strömungen in der Psychoanalyse – wie die von Lacan oder
von Kohut ausgehenden – haben ihre Konzepte des Unbewussten dagegen
längst von den meisten Freudschen Inhalten bereinigt.
Vom Standpunkt strikter »Wissenschaftlichkeit« aus ist die
Situation äußerst verwirrend. Welches Bild gäbe etwa die
Kardiologie ab, wenn dort völlig unterschiedliche Hypothesen über
den Blutkreislauf im Schwange wären? Doch scheint ein
epistemologisch strenger Zugriff auf das Unbewusste dem Gegenstand
heute auch nicht mehr angemessen zu sein. Darüber belehrt eine
außerordentlich reichhaltige Bestandsaufnahme, die Michael B.
Buchholz und Günter Gödde herausgegeben haben – eine Trilogie des
Unbewussten mit über siebzig Beiträgen kompetenter AutorInnen (»Das
Unbewusste. Ein Projekt in drei Bänden«, Psychosozial Verlag
2005/2006). Sie bringt den Leser (über Henry Ellenbergers
zweibändiges Standardwerk »Die Entdeckung des Unbewussten«, Verlag
Hans Huber 1973 hinaus) auf den neuesten Stand der
Entdeckungsgeschichte, stellt die gegenwärtige Theoriediskussion
nach psychoanalytischen »Schulen« dar und zeigt, wie andere
Wissenschaftsdiskurse – von der Säuglingsforschung bis zur
Politologie – mit dem Unbewussten auf ihre Weise Ernst machen.
Besonders dankenswert: aktuelle Erfahrungsberichte ganz
unterschiedlicher Psychoprofessionen im Praxisfeld von Couch bis
Coaching.
Weiß man nach der Lektüre von mehr als zweitausend Seiten
Berichterstattung über das Unbewusste jetzt endlich, wie es
entsteht, wo es sitzt, wie es wirkt? Ist es der Stoff, aus dem die
Träume sind? Nein, das erfährt man wieder nicht verbindlich – und
ist darüber am Ende auch keineswegs enttäuscht, denn man hat eine
andere Wahrheit akzeptiert, die viel plausibler ist. Auf dem Weg
dorthin hat man eine Reihe von radikalen Einsprüchen gegen Freuds
Spekulationen kennengelernt. Was konnte er beispielsweise über den
Säugling wissen? Er hat ihn nach seinen Erwachsenen-Analysen
»rekonstruiert«: als primitiv undifferenziert, eine grobe, leere
Tafel, in die sich als erstes die Triebe einzeichnen. Die extreme
Zeitlupe der Videotechnik ließ Verhaltensforscher zum
entgegengesetzten Befund kommen: Der Säugling ist schon gleich nach
der Geburt zu Kommunikation und Interaktion fähig. Das verändert
das Konzept des Unbewussten: Es besteht demnach nur zum geringen
Teil aus primitiven »Primärvorgängen« und aus »Verdrängtem«,
sondern enthält von Anfang an adaptive Teilsysteme, die das
Kleinkind an die Umwelt anpassen und noch den Erwachsenen steuern –
etwa als »instinktive« Gefahrenerkennung.
Perspektivenvielfalt
In einem ihrer klaren Überblickskommentare bestimmen Buchholz und
Gödde das Entwicklungsziel der Psychoanalyse als »Interaktions- und
Intersubjektivitätstheorie« weit jenseits der Triebpsychologie. Das
erfordert auch eine völlig neue Bestimmung des menschlichen
Unbewussten. Als neue Wahrheit wird von Buchholz und Gödde eine
Perspektivenvielfalt vorgeschlagen – demzufolge kann man in der
Therapie durchaus verschiedene Konzepte des Unbewussten
ausprobieren, Patient und Analytiker konstruieren dann gemeinsam
eine für den spezifischen Fall taugliche Lösung.
Erstaunlich weit geht die Forderung, man möge in solcher tastenden
Vorgehensweise mit »unscharfen Begriffen« operieren. Die beste
Verständigungsmöglichkeit über Seelisches böten sowieso nicht
stringente Begriffe, sondern die Metapher. Sie reicht als
vielschichtiges Bild tief ins Vorsemantische des unbewussten
Seelenlebens und kommt damit wohl tatsächlich dem am nächsten, was
in dieser »black box« weiterhin fest verschlossen bleibt. So hält
man sich durchaus in der von Sigmund Freud begründeten Tradition.
Man frischt sie aber energisch auf – wie auch die Kunst von Zeit zu
Zeit ihre Leitbilder wechselt.
Das kann auch im Rückblick geschehen. Der abschließende Praxis-Band
dieser Enzyklopädie des Unbewussten versichert sich denn auch einer
seit der Antike bestehenden Hilfsdisziplin, der Lehren vom »guten
Leben« seit Sokrates. Als zeitgemäße Therapiemethode bietet sich
demnach eine Verbindung von Wissenschaft und Lebenskunst an. Dass
diese eine ganz neuartige – für manchen gewiss unerhörte –
Umformung der psychoanalytischen Theorie erfordern würde, ist den
Herausgebern klar. So manche Praxisanalyse in diesem Band verrät
aber auch, dass dieser Prozess unter der Hand längst in Gang
gekommen ist.