Rezension zu Wie wir wurden, was wir werden (PDF-E-Book)

www.socialnet.de vom 21. März 2018

Rezension von Helmwart Hierdeis

Autor

Till Bastian arbeitet als Arzt und Psychotherapeut an der psychosomatischen Klinik Wollmarshöhe in Bodnegg (Allgäu). In den Jahren 1983–86 war er Geschäftsführer der deutschen Sektion von »Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs«, die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Von ihm liegen zahlreiche Publikationen u.a. zu Fragen der Ökologie, des Weltfriedens, der Pädagogik, des Holocaust, der Anthropologie, der Psychosomatik und des ärztlichen Selbstverständnisses vor. Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete und aktualisierte Neuauflage der unter dem Titel »Die Seele als System. Wie wir wurden, was sie sind« bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienenen Erstausgabe von 2010. Es versteht sich als theoretische Erläuterung zur vorangegangenen praxisorientierten Abhandlung »Seelenleben. Eine Bedienungsanleitung für unsere Psyche«. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016.

Aufbau und Inhalt

(1) Vorbemerkung: Wie dieses Buch entstanden ist
(2) Einleitung: Von der Struktur zur Funktion: Systemtheorie und systemische Betrachtungsweise
(3) Grundelemente des Seelenlebens: Wie wir wurden, was wir sind – eine ruhelose Species
(4) Subjektivität, Mentalisierung und »Todesprinzip«: Wie wir das werden, was wir nun einmal sind – Individuen
(5) Was uns erregt: Zur Theorie der Affekte
(6) Wie wir das Dasein bewältigen: Zur Theorie der Lebensbalancen
(7) Was uns bewegt: Zur Theorie der Motivation
(8) Wie alles ineinander greift: Seelenleben und soziale Interaktion
(9) Was das ist, was wir »Psychotherapie« nennen – und was kann sie leisten?
(10) Ein aktuelles Schlusswort: Zur Gefahr der »Burn-out-Epidemie«
(11) Anhang: Noch einmal das Leib-Seele-Problem

Zu 1. In der »Vorbemerkung« (9–12) legt Bastian sich auf einen Begriff von Seele als »systemischer Zusammenhang verschiedener Funktionen« fest, als »ein Ensemble innerer Regelungs- und Koordinationsvorgänge, das nur partiell bewusstseinsfähig ist, uns aber häufig gerade dann aktuell bewusst wird, wenn seine einzelnen Komponenten (oder Subsysteme) miteinander in Konflikt geraten« (9; Hervorh. i. Original). Diese Umschreibung möchte er nachfolgend mit der Absicht entfalten, einen Beitrag zur theoretischen Grundlegung der Psychotherapie zu leisten.

Zu 2. In der »Einführung« (13–46) grenzt der Autor sich von Freuds topographischem Modell der Psyche und von seinem »energetischen« Modell der Motivation ab. An deren Stelle setzt er das Konstrukt »System« und den Begriff »Informationsfluss«. Sie würden in ihrem Zusammenwirken der Dynamik psychischer Prozesse eher gerecht als der Strukturbegriff, der eine gewisse Statik und Stabilität suggeriert (21). Bastians Umschreibung von »Seelenleben« konzentriert sich auf zwei Phänomene: »einerseits die Verschaltung von neuronalen Netzwerken zu einem gegebenen Zeitpunkt t(…), andererseits (…) die in uns selbst als dem ›Inhaber‹ dieses vielfach verschalteten Netzwerks in jenem definierten Moment wirksamen Bestrebungen und Stimmungen (…)« (37). Worin der Vorteil eines Verständnisses der »Seele als System« (46; Hervorh. i. Original) für die psychotherapeutische Praxis liegen soll, will er später sichtbar machen.

Zu 3. In «Grundelemente des Seelenlebens« (47–63) greift Bastian auf die Menschheitsgeschichte zurück. Die wichtigsten Faktoren, die der menschlichen Spezies das Überleben ermöglicht und ihre herausgehobene Stellung unter den höheren Organismen ermöglicht haben, sind für ihn die »Fähigkeit zum antizipierenden Denken« (55; Hervorh. i. Original), die Entwicklung von Kooperationsformen bei der Aufzucht des Nachwuchses, das räumliche Vorstellungsvermögen und ein »Ensemble von Grundemotionen« (58). Allerdings sei das »›Wirkungsgefüge‹, durch das unser ›Seelenleben‹ (...) in Gang gesetzt und in Betrieb gehalten wird« (57; Hervorh. i. Original), im Laufe seiner Entwicklung zusehends instabil geworden und bedürfe daher mannigfacher Stützen von außen: durch das Gemeinschaftsleben (insbesondere durch das die Menschen verbindende Erzählen), durch Kunst und Mythologie.

Zu 4. »Subjektivität, Mentalisierung und ›Todesprinzip‹« (65–91) markieren die Inhalte des nächsten Abschnitts. Bastian entwickelt zunächst seinen Begriff von Bewusstsein »als spezifische Qualität des ›bewussten Seins‹ und des ›sich seiner selbst bewussten Seins‹« (65). Letzteres gehe jeder sprachlichen Interaktion voraus. Mit dem Erleben als »sich selbst erleben« sei »Subjektivität« gegeben. Das zunächst präreflexive Bewusstsein von Subjektivität werde »unter dem individuellen Neuerwerb von Mentalisierungsvermögen, Sprache, Fähigkeit zur Narration (...) in das (...) Unbewusste verlagert, woraus es in bestimmten Fällen wieder aufsteigen kann (...)« (69). Den Begriff »Mentalisierung« umschreibt er mit Fonagy als die ab dem 2. Lebensjahr erworbene »kognitive, aber (...) auch die affektive und soziale Fähigkeit, ›sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen‹« (73, zit. nach Fonagy et al. 2004, 31). Sie wird vor allem über sichere Bindungen erworben. Eine begünstigende Rolle spielt dabei das Erzählen, weil es nicht nur unterschiedliche Dimensionen der Selbst- und Fremdrepräsentation erschließt, sondern auch Ängste abbauen hilft. Als die Wurzel aller Ängste sieht Bastian das im Unbewussten gespeicherte Wissen von der eigenen Sterblichkeit an. Mit Ermann (2008) und in Abgrenzung von Freud spricht er anstelle des »Todestriebs« von einem »Todesprinzip« (85). Es wird fortlaufend bestätigt durch »krisenhafte Qualitäten des Erlebens« (89), sog. »Todesäquivalente« (S. 90) wie Erschöpfung, Schmerz, Mangel, Bedrohung oder Trennung, die alle auf die menschliche Motivation Einfluss nehmen.

Zu 5. Unter »Theorie der Affekte« (93–107) listet der Verfasser zunächst eine Reihe von Gefühlsmerkmalen auf. Unter ihnen spielen die Eigenschaften »sozial ansteckend«, mutuelle Interaktion und Chronifizierbarkeit eine besondere Rolle, 94). Das Repertoire des heutigen Menschen an Affekten (z.B. Interesse, Überraschung, Freude, Trauer, Ekel, Furcht, Wut, Scham) sieht er als Ergebnis evolutionärer Anpassungsprozesse und damit als ambivalent an. Die Scham bezeichnet er als Gefühl mit einer ausgeprägten sozialen Dimension, weil es einen (realen oder virtuellen) Überlegenen und einen Unterlegenen voraussetzt. Zu den Auffälligkeiten der kulturellen Entwicklung gehört für ihn der Rückzug des »Sexualscham« und das Vordringen der »Statusscham« (102). Sein besonderes Augenmerk richtet Bastian auf die Fähigkeit des menschlichen Organismus, Leistungen und dazugehörende Affekte zu trennen, und zwar nicht nur sporadisch, sondern habituell. Darauf habe bereits Freud mit Blick auf die Tötungsmechanismen im 1. Weltkrieg hingewiesen. Paradigmatisch dafür sei die quasi-industrielle Vernichtung von Menschleben im Holocaust (104 ff.).

Zu 6. In seiner »Theorie der Lebensbalancen« (109–121) geht es Bastian – wiederum in Abgrenzung zu Freuds psychodynamischem Verständnis – um die bei Konflikten mit der Außenwelt wie mit innerpsychischen Konflikten erforderliche Fähigkeit zur »Selbstregulation« (112). Ein Komplex von Einzelantrieben, die von äußeren Reizen ebenso angestoßen sein können wie von Impulsen aus dem Organismus bzw. aus dem Zentralen Nervensystem, drängt zu Aktionen, die ihrerseits in motivationale Systeme eingeordnet sind (114). Damit sie nicht dysfunktional werden, treten »bewertende Funktionen« (114) in Kraft, die ursprünglich über Bindungsprozesse in der Identifikation mit nahestehenden Personen und in der Abgrenzung von ihnen erworben worden sind. Sie befähigen das Subjekt, Handlungsmotive von Affekten zu trennen, Handlungsvollzüge gegen Störungen abzuschirmen und die jeweilige Bewusstheit von Funktionen und Wirkungen zu modifizieren (121).

Zu 7. Bei der Darlegung seines Verständnisses von Motivation (123–147) geht Bastian von Alltagserfahrungen mit teils eindeutigen, teils unbewussten, unklaren oder sogar widersprüchlichen Beweggründen aus. Sie finden sich nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen höher entwickelten Organismen. Gemeinsam ist ihnen eine gewisse »Wirksamkeitsorientierung« (128). Über N. Bischof und J. D. Lichtenberg nähert er sich einem eigenen Modell der »Systemkonzeption Mensch« an, das sich, den Grundsätzen der Systemtheorie entsprechend, in seinen Bestandteilen und deren Wechselwirkungen darstellen lässt (138). Als wichtigste »Subsysteme« nimmt er darin 1. interpretierende, 2. motivierende, 3. affektive, 4. bewertende, 5. bewältigende und 6. agierende Funktionen auf (139 f.). Bei der Beschreibung ihrer Wechselwirkungen (140 ff.) hebt er besonders (und wiederum in Abgrenzung von Freud) die »humane Aggressivität« hervor. In ihr erkennt er keinen »Trieb«, sondern »die Unterstützung des Bedürfnisses nach Selbstbehauptung oder Abgrenzung und damit einer (motivierende(n) Funktion« (142).

Zu 8. Mit »Seelenleben und soziale Interaktion« (149–156) kehrt Bastian noch einmal zur eingangs gestellten Frage, was unter »seelischen Strukturen« (149) zu verstehen sei, zurück. Er plädiert noch einmal dafür, im Hinblick auf das »Seelenleben« auf den Begriff »Struktur« zu verzichten und stattdessen von »Funktionen« zu sprechen, »die aufeinander wirken und sich mitunter in spezifischer Weise miteinander verbinden« (152). Eine solche Vorstellung sei im Hinblick auf die offene Verfasstheit des Menschen realistischer und fordere dazu auf, »unsystematisch und offen zu versuchen, bei jenen Funktionen, über die wir Kenntnis besitzen, nachvollziehend Teilhabe zu erwerben« (152). Von hier aus schlägt er terminologische Bereinigungen vor. Sie betreffen in erster Linie das »Selbst« bzw. »die Person« als spezifische Ausprägung »eines ›Wirkungsgefüges‹« (154), innerhalb dessen – teils bewusst, teils unbewusst – »nicht Energien, sondern Informationen (in Form von Signalen) weitergeleitet« werden (154). Ein solches Konzept könne auch von der Psychoanalyse angewandt werden.

Zu 9. Das Kapitel über »Psychotherapie« (157–177) ist gleichsam als Fluchtpunkt der vorangegangenen theoretischen Abklärungen anzusehen. In einem ersten Schritt zieht Bastian den Grundsatz der Psychosomatischen Medizin heran, dass im Zentrum der »Heilkunst« die »Kommunikation« steht (157). Deren Bedeutung erhellt er auf dem Umweg über die »Biosemiotik«, die danach fragt, wann ein »Signal des Körpers mit Bedeutungen versehen und dadurch zum Zeichen wird« (161). Übertragen auf den psychotherapeutischen Prozess heißt das: Zeichen sind nie eindeutig. Sie müssen ständig von beiden Beteiligten abgeklärt werden – was dadurch erschwert wird, dass die Konstruktion von Bedeutungen zum Teil unbewusst erfolgt. In einem zweiten Schritt zieht Bastian Antonowskis Begriff des »Kohärenzgefühls« heran, des Gefühls also, dass die Mitwelt grundsätzlich verstehbar, vertrauenswürdig und positiv beeinflussbar ist (166). Psychisch Leidenden geht es oft in einem Ausmaß ab, das sie unfähig macht, die Interaktion mit der sozialen Umwelt erfolgreich zu bestehen. Vom Psychotherapeuten erfordert die Wiederherstellung dieses Gefühls die Fähigkeit, in Haltung und Sprache authentisch zu sein, die Gefühle des Patienten zu verbalisieren und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Erzählen möglich ist, Bindung entstehen und der Patient »eine neue Semantisierung« des Erlebten und seiner aktuellen Situation erlernen kann (173 f.).

Zu 10. Als formellen Schlussstein setzt Bastian einen kurzen Exkurs zur Frage einer drohenden »Burn-out-Epidemie« (179–188). Im Gegensatz zur klinischen Depression, der das Syndrom gerne zugeordnet wird, sieht er im Burn-out nicht den Totalverlust des »Kohärenzgefühls«, sondern das Gefühl, gestellten Aufgaben nicht mehr gerecht werden zu können (185). Diese »epidemisch« auftretende Ohnmacht führt er auf die Beschleunigung aller sozialen Prozesse, die Überflutung durch Reize und die Überforderung durch gehäufte Synchronisationsleistungen zurück (187). Da eine Umkehrung dieser Entwicklungen nicht denkbar sei, müsse der einzelne nach Möglichkeiten suchen, sein Leben zu vereinfachen (186).

Zu 11. »Noch einmal das Leib-Seele-Problem« überschreibt Bastian den sog. »Anhang« (189–205), in dem er der Differenz und dem Zusammenwirken physischer und mentaler Phänomene nachgeht. Den wesentlichen Unterschied sieht er in der strikten Determiniertheit physischer Prozesse, während mentale Ereignisse und Zustände grundsätzlich nicht vorhersehbar sind, obwohl sie eine physiologische Basis (Gehirn, Zentrales Nervensystem) voraussetzen. Während Änderungen im Mentalen Änderungen im Physischen nach sich ziehen können, lassen sich aus physischen Zuständen nicht ohne weiteres Schlüsse auf mentale Prozesse ziehen (203). Aufklärung über sie ist nur möglich, wenn sie »systemisch«, d.h. im Rahmen anderer mentaler Vorgänge, Zustände und Eigenschaften beleuchtet werden (195). Der Anhang schließt mit einem Bekenntnis zur Empirie und zum »Glück des philosophischen Grübelns« (205).

Diskussion

Die systemische Argumentationslinie zieht sich durch sämtliche Kapitel, beginnend mit der Umschreibung von »Seele« und endend mit der Erörterung des Leib-Seele-Problems – was die Frage aufwirft, weshalb der Buchtitel nicht darauf hinweist. Der im Untertitel angesprochene evolutionäre Gesichtspunkt dagegen kommt zwar in der Beschreibung der »Grundelemente des Seelenlebens« und in der Theorie des »Affekte« ausdrücklich zur Sprache, taucht ansonsten aber allenfalls sporadisch auf. Dabei hätten Kulturethologie und Mentalitätsgeschichte im Hinblick auf das »Wie wir wurden« einiges Material zu bieten gehabt.

Als Psychoanalytiker bin ich kein »Systemiker«, aber ich kann der deskriptiven Ergiebigkeit systemischer und funktionaler Theoriebildung etwas abgewinnen – solange ich nicht vergesse, dass ich mir mein Bild vom Gegenüber (von seiner Geschichte und seinem aktuellen Leiden) in erster Linie aus seinen Erzählungen und aus der Art und Weise seines Erzählens erschaffen und dabei jeden Kriterienkatalog »vergessen« muss.

Zwingt mich das systemtheoretische Konzept, den Begriff »Trieb« durch »Information« zu ersetzen? Meiner Ansicht nach nicht, denn einerseits ist der »Trieb« mit Information aufgeladen, andererseits ist auch der Informationsfluss auf energetische Korrelate angewiesen, die sich als Triebenergie lesen lassen, und von der Einseitigkeit des Freud/'schen Trieb-Verständnisses (Sexualität; Ökonomie) hat sich die Psychoanalyse schon vor geraumer Zeit verabschiedet.

Was hingegen den Austausch des »Todestriebs« gegen das »Todesprinzip« angeht, stimme ich Bastian gerne zu. Bereichernd finde ich die Auffächerung der Affekte, die Einbeziehung der Mentalisierungs-/Bindungstheorie, die Einbettung des therapeutischen Geschehens in das Salutogenese-/Kohärenzkonzept, die Hervorhebung der Wirkungen des Erzählens im Bindungs- und Heilungsprozess und nicht zuletzt Bastians kommunikationstheoretisches Verständnis der therapeutischen Haltung.

Der Exkurs zum Burn-out fällt – bei allem kulturkritischen Gewicht – etwas aus dem Argumentationskontext. Er steht zwar in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kapitel »Psychotherapie«, ist aber nicht eingebunden.

Ähnlich geht es mir mit dem sog. »Anhang«: Die philosophiegeschichtliche und philosophische Betrachtung des Leib-Seele-Problems wäre eine passende Einleitung gewesen und hätte schon früh deutlich machen können, welche Fragen der systemische Ansatz offen lassen muss.

Fazit

Bei allem Bekenntnis zur Systemtheorie bietet das Buch eine Fülle von Perspektiven, die sich vordergründig auf das Phänomen »Seele« richten, im Hintergrund aber stets die Sorge um den (kranken) Menschen erkennen lassen. Seine theoretische Breite und Tiefe wird immer wieder durch belletristische Texte aufgelockert. Sie stützen Freuds Vermutung, dass die Dichter von der Seele mehr verstehen als Ärzte und Psychotherapeuten. – Eine lohnende Lektüre, nicht nur für die Genannten.

Literatur
Fonagy, P., Gergely, G., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.

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