Rezension zu Kontrollierter Kontrollverlust (PDF-E-Book)

Jazzinstitut Darmstadt, www.jazzinstut.de vom Februar 2017

Rezension von Wolfram Knauer

Konrad Heiland ist Psychotherapeut, zugleich Autor von Musikfeatures für den Bayerischen Rundfunk. In seinem jüngsten Buch versammelt er Artikel, die sich mit beiden Bereichen seiner Tätigkeit befassen, der Psychotherapie, in der, wie es im Klappentext heißt, »freie Assoziationen fruchtbar gemacht« werden, und dem Jazz, in dem sich »die musikalischen Möglichkeiten gerade durch die Improvisation« entfalten, oder, wie er zusammenfasst: »beide profitieren von kreativer Freiheit innerhalb klarer Strukturen«.

Im Vorwort erklärt Heiland seinen eigenen Weg, zum Jazz genauso wie zur Musiktherapie. Im Eingangskapitel dann zeichnet er die parallele Entwicklung von Jazz und Psychoanalyse im 20sten Jahrhundert nach, thematisiert die stilistische Vielseitigkeit des Jazz und den Mythos der Authentizität, die Affektregulation und das Phänomen des Jazz-Kellers, die Heldenverehrung in der Musik und die »extreme Kurzlebigkeit zahlreicher Jazz-Künstler«. Theo Piegler skizziert in seinem Beitrag die Geschichte der Psychoanalyse von Siegmund Freud bis in die Gegenwart. Antje Niebuhr betrachtet die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen freier Assoziation und Improvisation, fragt, zuerst im Kontext der Psychoanalyse, dann in jenem der musikalischen Improvisation, »frei wovon und frei wofür?«, um zum Schluss ihre eigene Rolle näher zu betrachten, als Psychoanalytikerin, die ebenfalls einem seelischen Prozess unterliege, »der sich im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ereignet«. Um Analytiker zu sein, erklärt sie mit musikalischer Parabel, sollte man sich »seiner inneren Musik öffnen, um dann mit dem Patienten improvisieren zu können«.

Heiland spricht mit dem Geiger Uli Bartel über die Freiheiten, die über kontrollierten Kontrollverlust möglich sind, und die innerhalb konkreter Strukturen stattfinden, egal ob sich solche in musikalischer Form manifestieren oder in Spiritualität. Jörg Schaaf fragt danach, was Improvisation in der Interpretation von Mainstream-Jazz so spannend macht und betrachtet dafür nacheinander das Instrument, die Form, die melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung. Hannes König macht sich Gedanken zur affektiven Wirkung von Jazz, fragt nach der emotionalen Tiefe, die Musik im Musizierenden genauso wie im Hörer auslösen kann und findet, das die »Atmosphäre der Freiheit« den Jazz besonders dazu befähige emotionale Reaktionen hervorzurufen. Und auch er kommt zum Schluss, dass die Tatsache, dass man bei der Jazzimprovisation auf Kontrolle verzichte, um Kontrolle zu erlangen, dieser Musik ihre ganz besondere Magie verleihe.

Joachim Ernst Berendt war anfangs Journalist und Jazzkritiker, später Produzent, Konzert- und Festivalveranstalter, noch später »geradezu (…) ein Säulenheiliger der Musiktherapie«. Konrad Heiland versucht diese verschiedenen Seiten des »Jazzpapstes« aus seiner Biographie heraus zu erklären und sie zugleich in seiner ästhetischen Haltung zum Jazz zu verorten, die immer eine suchende gewesen sei, eine Art »meditativer Versenkung, die Klangreise in die unerforschten Innenräume hinein« – also durchaus selbst erlebte Musiktherapie. Daniel Martin Feige sieht Jazz als »Artikulation und Exemplifikation von Unverfügbarkeit«. Mit der Pianistin Laia Genc spricht Konrad Heiland schließlich über Improvisation sowie über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Unterschiede im künstlerischen Ausdruck von Frauen und Männern.

Heiland diskutiert die Musik des Labels ECM als Alternative zur afro-amerikanischen Jazzerfahrung und vergleicht die Ästhetik von ECM mit der von John Zorns Tzadik-Label. Andreas Jacke untersucht Miles’ Davis Musik zum Film »Fahrstuhl zum Schaffott« sowie sein Album »Kind of Blue« bzw. »bestehende Deutungsmuster und eigene Beschreibungen« zu diesen Projekten, die er allerdings nicht überall gebührend hinterfragt, stattdessen teilweise sogar sehr eigenwillig interpretiert (Widerspruch etwa zu seiner Interpretationen von Miles’ Aussage, es gäbe im Jazz keine falschen Töne, von Davis’ Haltung zum Free Jazz, von angeblichen Konstanten in Davis’ Spiel, oder zu seinem knappen Vergleich von Rassismus in den USA und Frankreich).

Sebastian Leikert versucht das von ihm selbst entwickelte Systems der kinestätischen Semantik, mit der sich musikalische Vorgänge psychoanalytisch beschreiben lassen, auf Miles Davis’ »Bitches Brew« anzuwenden. Andreas Jacke portraitiert den Schlagzeuger Robert Wyatt. Konrad Heiland befasst sich mit Charles Mingus und wagt dabei einige philosophisch-psychoanalytische Anmerkungen zum Thema Rassismus. Willem Strank fragt nach der Funktion von Jazz als Soundtrack zu zwei amerikanischen Film Noirs der 1950er Jahre. Christopher Dell plädiert für eine Technologie der Improvisation auch und gerade in der Architektur. Und zum Schluss erzählt Klaus Lumma von seiner persönlichen Beziehung zu New Orleans und wie der Jazz dort zwischen Begräbnisritualen, Karneval und dem Hurricane Katrina immer auch therapeutische Funktion besessen habe.

Alles in allem enthält der Band damit etliche, teils überzeugendere, teils mühsam zu lesende, teils zu Widerspruch ermutigende Beiträge. Der rote Faden ist die Aufgabe, die Heiland allen Autoren stellte, in ihrem gewählten Kapitel nämlich zumindest am Rande die Idee eines kontrollierten Kontrollverlustes in der Improvisation oder in der Psychoanalyse zu thematisieren. Am Ende mag man als Leser vielleicht nicht mit allen Facetten dessen einverstanden ist, was die Autoren da anreißen. Einen Beitrag zum Diskurs aber bieten sie allemal…

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