Rezension zu Neue Lebensenergie (PDF-E-Book)

Forum Bioenergetische Analyse, Ausgabe 2017

Rezension von Karl-Erich Pönitz

Das erste bioenergetische Übungsbuch erschien 1977 (bzw. 1978 in Deutschland): Alexander und Leslie Löwen, »Bioenergetik für Jeden – Das vollständige Übungshandbuch«. Nun, 40 Jahre später, legt Irmhild Liebau, die ehemalige Herausgeberin des »Forums für Bioenergetische Analyse«, ein neues Buch mit bekannten und neuen körperorientierten Übungen vor – ein Buch, das in vielfacher Hinsicht Mut macht und Schwung verleiht. Es dokumentiert, dass die von A. Löwen und seinen Mitstreitern entwickelten Prinzipien und Übungen nach wie vor ihre Gültigkeit haben, auch nach so langer Zeit noch(!), und darüber hinaus in hohem Maße entwicklungsfähig sind. Das Bewährte kommt in diesem Buch voll zur Geltung unter Berücksichtigung und Aufnahme von neueren wissenschaftlichen Fundierungen des körperpsychotherapeutischen Ansatzes, unter anderem von A. Klopstech, M. Koemeda-Lutz, V. Heinrich-Clauer und J. Clauer.

Liebaus neues Buch ist kein Übungsbuch im herkömmlichen Sinne, sondern ein ›Übungsprogramm‹. Dieses Programm ist insofern neuartig, einzigartig und originell, als es einen sorgfältig konzipierten, in sich abgestimmten Gesamtentwurf von Übungen anbietet. Die einzelnen Übungen erscheinen nicht isoliert, sondern sie sind Teile eines ganzheitlichen Prozesses und bauen aufeinander auf. Am Ende aller Wege steht das nie aus den Augen verlorene Ziel neuer Lebensenergie.

Das von Liebau vorgestellte Programm bietet mehr als nur präzise, verständliche und auch für den Laien umsetzbare Anleitungen, sondern gleichzeitig einen tiefen Einblick in den bioenergetischen Vollzug überhaupt. Darüber hinaus begegnet der Leser Elementen aus anderen psychotherapeutischen Richtungen, zum Beispiel aus der Gestalttherapie. Bekanntes und Vertrautes wird durch eine Fülle von selbst entwickelten, neuen Übungen ergänzt. Die Verfasserin vermittelt Erfahrungen mit »Achtsamkeit« und »Herz-Intelligenz«. Ins Übungsprogramm integriert werden (in abgeänderter Reihenfolge) die im letzten Jahrzehnt auch in der deutschen Bioenergetik bekannt gewordenen, von D. Berceli entwickelten sieben Körperübungen zur Trauma-Heilung.

In 28 Tagen wird die Übungskandidatin/der Übungskandidat von den Anfängen der Körper Wahrnehmung bis zu ihrer Anwendung unter den Herausforderungen des täglichen Lebens geführt. Als Unterstützung können Audiodateien zu sämtlichen Körper- und Imaginationsübungen beim Verlag heruntergeladen werden. Die Anweisungen sind an keiner Stelle rigide, pedantisch oder schulmeisterlich, sondern einladend, flüssig und mitnehmend. Es finden sich praktikable Vorschläge, wie die 28 Übungstage anders aufgeteilt, aufgelockert und gedehnt werden können. Räume zur Eigen-Arbeit sind eingebaut sowie Pausen und Freizeit. Respekt vor der Autonomie der Übenden erscheint selbstverständlich. Ausdrücklich wird betont, dass die Praxis der hier vorgestellten Übungen keine Psychotherapie ersetzt, sie wohl aber begleiten kann.

Beeindruckend an Irmhild Liebaus Werk ist seine Geschlossenheit und Integrationskraft. Das Selbsthilfe-Programm für neue Lebensenergie wird in zwei Hauptteilen angeboten, die trotz ihres Umfangs übersichtlich bleiben. Die einzelnen Übungstage und Unterabschnitte bilden mit unterschiedlichen Akzenten einen Mikrokosmos im Makrokosmos. Trotz der Vielzahl von Impulsen bleibt das Anliegen beständig das gleiche: den eigenen Körper als ›Ressource‹ für Bioenergie zu entdecken, Schritt für Schritt kennenzulernen und zu nutzen. Die bioenergetischen Prinzipien von ›Erdung‹, ›Atmung‹, ›Bewegung‹ und ›Ausdruck‹ sind dabei allgegenwärtig. Dabei fällt auf, dass konsequent bei allen körperorientierten Anleitungen und Anweisungen auf die ›Atmung‹ hingewiesen wird. Großer Wert wird auf die ›Verarbeitung‹ und deshalb auf das ›Nachspüren‹ der Übungen gelegt, wobei auch hier gezielte Fragen angeboten werden – hinsichtlich der Wahrnehmung und der körperlichen und seelischen Empfindungen sowie der gedanklichen Assoziationen. Liebau verfolgt bei ihren Vorschlägen mit Nachdruck die ›Integration‹ von positiven Körpererfahrungen. Integration erfolgt bei ihr nicht nur per Reflexion, sondern auch per ›Imagination‹. Ziel ist auch hier immer das Vertrautwerden mit den maßgeblichen eigenen, individuellen Ressourcen. Insgesamt 19 kürzere oder längere ›Theorieblöcke‹ sind zur Untermauerung der Praxisanweisungen eingeflochten. Sieben eingearbeitete ›Fallbeispiele‹ veranschaulichen die Wirksamkeit der Übungen. Zur Führung eines »Körper-Tagebuchs« wird angeregt – und zu Vertragsabschlüssen mit sich selbst, um positive Erfahrungen durch regelmäßige, tägliche Praxisübungen zu verstärken. Das gesamte Übungsbuch ist für einzeln Übende konzipiert, aber gelegentlich finden sich auch Vorschläge für die Paararbeit.

Der ›erste Teil‹ (»Der Körper als Ressource – Arbeiten mit der eigenen Persönlichkeit«) hat einführenden Charakter. Behutsam wird der Übungskandidat/die Übungskandidatin mit den verschiedenen Aspekten des Groundings vertraut gemacht – mit der Erdung im Sitzen, Stehen, Liegen und Gehen. Langsam und kleinschrittig führt der Weg von der Verwurzelung im Körper und Boden über die Aufrichtung bis zur Vertretung des eigenen Selbst. Geschlechtsspezifisch gipfelt die Selbst-Vertretung in dem Identifikations-Satz: »Ich bin eine Frau, ich bin ein Mann.« Schon am vierten Tag wird zur Arbeit mit dem bioenergetischen Würfel angeleitet. Fußarbeit mit Tennisbällen und Flummis sowie der Trommeltanz nach Mustafa Teddy Addy sind feste Bestandteile.

Neulinge und Anfänger werden hier kompetent unterrichtet. Erfahrene, denen die meisten der hier vorgestellten Übungen schon bekannt sind, werden hier angeregt, sie noch mal von Grund auf neu zu probieren. Vor allem, weil in diesem ersten Teil schon zum Ausdruck kommt, was dieses Übungsbuch insgesamt bemerkenswert macht: die entschiedene, bewusst einseitige, durchgehaltene Blickrichtung auf das Positive. O-Ton Irmhild Liebau:

»Meistens sind wir geübt, alles, was wir schlecht finden an uns, wahrzunehmen, an unserem Körper, unserer Lebenssituation, negative Gefühle, Sorgen Probleme etc. Jetzt üben Sie sich in Ihrer ›ausschließlichen, ressourcenorientierten Wahrnehmung‹ (Hervorhebung durch d. Verf.) von sich selbst, üben sich in Ihrem konsequenten Fokus auf das, was gut bei Ihnen ist.«

Negativ Empfundenes, Widerständiges und Belastendes wird keineswegs ignoriert oder bagatellisiert, sondern respektvoll als vorhanden und zugehörig wahrgenommen. Bestritten wird ihm freilich der Alleinvertretungs- und Absolutheitsanspruch. Freundlich wird eingeladen, den Blick auf das Lebendige, Kreative und Konstruktive zu richten – und dann immer wieder dahin zurückzukehren. Die prägnant geschilderten fünf bioenergetischen ›Charakterstrukturen‹ werden dementsprechend nicht nur defizitär von ihren Einschränkungen her, sondern auch in ihren Stärken, Möglichkeiten und Chancen gewürdigt. Durch die beharrliche Konzentration auf die Kraftquellen verliert das Negative seine Übermacht. Zuversicht und gesunde Selbst-Behauptung werden zur gelebten Alternative. Freude und Liebe werden möglich anstelle von Ängstlichkeit, Ressentiment und Depression. Regelmäßiges und sorgfältiges Üben sowie das Befolgen kleiner origineller Tipps sollen zur Erfolgssicherung beitragen.

Der ›zweite Teil‹ (»Neue Lebensenergie entfalten – mit Leib und Seele arbeiten«) dient der Vertiefung, Verbreiterung und Verfestigung jener positiven Alternative. Wie lässt sich das im ersten Teil Erfahrene ›bleibend‹ fruchtbar machen? Wie lässt es sich im täglichen Leben umsetzen? Vertraute Übungen werden wiederholt und ergänzt, neue verstärkende eingeführt, auch solche, die tagsüber locker in den Tageslauf eingefügt werden können. Ziel ist die sichere neuronale Verknüpfung mit entsprechenden, den kraftvollen Selbst-Ausdruck fördernden Botschaften.

Eine zentrale Rolle spielt dabei die ›Baum-Imagination‹. Es wird wiederholt intensiv und beharrlich dazu angeleitet, sich den eigenen Lebensbaum vorzustellen, ihn möglichst detailliert und bunt vor das innere Auge zu rufen – den Lebensbaum als Symbol der eigenen Persönlichkeit, verwurzelt und sich austreckend nach oben und zu den Seiten. Nun wird diese Imagination auch leibhaftig nachvollzogen und eingeübt in Erdung, Atmung, Bewegung und Ausdruck.

Das Buch spiegelt einen reichen Erfahrungsschatz wider: Die psychotherapeutische und supervisorische Praxis der Verfasserin, ihre Leitung der vielen Ausbildungskurse in körperorientierter Seelsorge und nicht zuletzt ihre Selbsterfahrung. Die Begeisterung Irmhild Liebaus für bioenergetische Zugänge ist durchgängig spürbar. Ihr Engagement wirkt beziehungsstiftend, motivierend und inspirierend. Das Buch ist für Laien gut lesbar und anwendbar. Für Profis ist es geeignet zur Überprüfung des eigenen persönlichen Standes in Leben und Beruf. Ich habe durch die Lektüre selbst viel für meine eigene Bioenergetik profitiert. Das baldige Erscheinen des Buches habe ich meiner Klientel angekündigt und den Kauf empfohlen. Kritik habe ich nicht anzumelden, sondern auch hier im »Forum« eine deutliche Empfehlung auszusprechen.

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