Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit

www.naturwissenschaftliche-rundschau.de im März 2018

Rezension von Gerhard Medicus

Ursula Henzinger ist eine österreichische Pädagogin und Humanethologin, die seit drei Jahrzehnten ihren Fokus auf die frühe Kindheit gerichtet hat. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil erläutert Henzinger in zwei Kapiteln Denkansätze und Methoden der Humanethologie; unter anderem werden aus evolutionärer Sicht Ergebnisse des Tier-Mensch- und des Kulturen-Vergleichs behandelt. Im zweiten Teil geht die Autorin in Kapitel drei auf neue Entwicklungen der Bindungstheorie ein. In Kapitel vier stehen ihre eigenen Beobachtungen zur Nähe-Distanz-Regulation und zu den Rückversicherungen der Kleinkinder in Bezug auf vertraute Personen im Vordergrund. Im fünften Kapitel schreibt sie über das »Einüben von wohltuendem Verhalten« und die mitunter lebenslangen Folgen, wenn wohltuende Erfahrungen mit verlässlichen Bindungspersonen nicht möglich waren.

Ursula Henzinger geht unter anderem von den entwicklungspsychologischen Beobachtungen von Charles Darwin aus, berücksichtigt Ergebnisse der Bindungstheoretiker John Bowlby, Mary Ainsworth, Doris Bischof-Köhler und Norbert Bischof, bezieht humanethologische Filme und Daten von Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Wulf Schiefenhövel mit ein, die diese bei Stammeskulturen gesammelt haben, und reichert das alles durch viele eigene, in ihren Eltern-Kind-Gruppen jahrzehntelang gesammelte Beobachtungen an. Mit dem Buch wird gezeigt, wie wertvoll die ethologische Methode ist, jahrelang qualitative Beobachtungen zu machen und zu dokumentieren und vor dem Hintergrund gut fundierter Theorien, in diesem Fall der Bindungstheorie und der Methode der vier Grundfragen der ethologischen Forschung, zu interpretieren. Von dieser Vorgehensweise dürfen wir noch manche Einsichten über entwicklungspsychologische Programmschritte und funktionelle ›missing links‹ erwarten.

Die Inhalte des Buches ranken sich um die gut reflektierten und ausgereiften Ergebnisse und Konzepte des Ehepaares Bischof. Frau Henzinger schreibt verständlich und regt zugleich zur weiteren Vertiefung des Wissens an. Ihre positive Haltung wirkt ansteckend auf alle, die mit kleinen Kindern zu tun haben. Sie weckt keine überzogenen Erwartungen und Ansprüche, die verunsicherte oder ehrgeizige Mütter belasten oder neurotisieren könnten. Die Inhalte des Buches sind interessant und praxisrelevant:

Wichtig ist die Erkenntnis, dass man das Neugeborene keinesfalls »versachlichend« zum seelenlosen »Reflexwesen« machen darf, sondern hinsichtlich der aufzubauenden Bindung als kompetentes beseeltes Wesen wahrnehmen soll. Inzwischen hat sich allgemein herumgesprochen, dass körperliche Nähe und Mutterliebe für die Kinderseele genauso überlebensnotwendig (also – sogar für Frühgeborene – alimentativ) ist, wie etwa auch essentielle Bestandteile der Muttermilch. Henzinger weist auch auf die Bedeutung einer stressfreien Umgebung für den Aufbau der Bindung während des Wochenbetts hin, eine Anforderung, die in unserer reichen Wohlstandsgesellschaft bis heute nicht auf allen Wöchnerinnenstationen, wohl aber bei den von Humanethologen untersuchten (vergleichsweise sozioökonomisch bescheiden lebenden) »Naturvölkern« gegeben ist. Zu betonen ist auch, dass ›Mutter-Baby-Co-Sleeping‹ sowohl bei unseren Primatenvorfahren als auch in der frühen Menschheitsgeschichte der Normalzustand war und in vielen Kulturen heute noch ist. Von diesem Konzept ist nur im Falle schwerer Schlafstörungen oder im Falle von Alkohol- und Drogenkonsum sowie nach der Einnahme von Schlafmitteln abzuraten. Zum plötzlichen Kindstod stellt Henzinger mit Schiefenhövel klar, dass diese schwere Komplikation bei ›Bedding in‹ wahrscheinlich überhaupt nicht auftritt. Ich vermute, dass das alleine schlafende Baby im kritischen Alter ohne beiläufige Geräusche und Berührungen der schlafenden Mutter Gefahr laufen kann, in einen so tiefen Schlaf zu »versinken«, dass es nicht mehr ausreichend Kohlensäure abatmet. Dann kommt hypothetisch ein ›Circulus vitiosus‹ in Gang: Zusätzlich zum Tiefstschlaf könnte eine zunehmende Kohlensäure-»Narkose« das noch unreife Atemzentrum lähmen. Vielleicht ist es diese Kombination, die sich beim plötzlichen Kindstod als so verhängnisvoll erweist.

Henzinger schreibt darüber hinaus, dass Kleinkinder bei »Naturvölkern« etwa ab dem dritten Lebensjahr in gemischtaltrigen Spielgruppen als »Mitläufer« sozialisiert werden (davor als überwiegend beobachtende »Traglinge«). Ich persönlich glaube, dass die Kinder in diesen Kulturen weit weniger Trotzverhalten zeigen als in der Enge der vertrauten Kleinwohnungen mit den allzu vertrauten Familienmitgliedern, was »naturgemäß« zu Überdruss und Trotz führen kann oder muss.

Das Buch ist eine Fundgrube: Mich hat der Hinweis überrascht (Seite 167), dass man in den Findelhäusern oder Aufbewahrungsanstalten für Säuglinge (in sogenannten Konservatorien) im Italien des 16. Jahrhunderts entdeckt hat, dass Musik eine entspannende Wirkung auf Ammen und Säuglinge hat (vermutlich über eine Oxytozinausschüttung) und damit Stillen besser gelingt. Palestrina und Vivaldi arbeiteten für diese Anstalten. Begabte Waisenkinder wurden dort dann auch zu Kirchenmusikern ausgebildet: Der Name Konservatorium ist den Musikschulen erhalten geblieben.

Aus der Sicht des Anthropoiden- und Kulturen-Vergleichs bemerkenswert ist die Empfehlung veralterter Ratgeber, Still-Pausen einzulegen. Entsprechende Pausen sind nämlich z. B. bei Menschenartigen und »Naturvölkern« unbekannt. Im Falle einer Ernährung von Säuglingen mit Kuhmilch erscheint die Pause in einem anderen Licht. Mit Kuhmilch sinkt die Überlebensrate der Säuglinge dann rapid, wenn zwischen den Mahlzeiten nicht Pausen von etwa drei bis vier Stunden eingelegt werden. Auf Grund dieser Erfahrung hat man in der verwissenschaftlichten Welt bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein voreilig Schlüsse für das normale Stillen gezogen. Wissenschaftshistorisch interessant ist darüber hinaus, dass es seinerzeit einzelne pädiatrische Experten gegeben hat, die von der Realität weiter weg waren als »einfache« Mütter, die ihrer Intuition gefolgt sind: Das trifft sowohl auf das Kolostrum-Tabu zu (weil diese »Vormilch« nicht wie Milch aussieht) als auch auf die Sorge einzelner Lerntheoretiker, die befürchtet haben, dass Mutterliebe schädlich sei, weil Mütter die Kinder verhätscheln würden. Diese Fehlbewertung des mütterlichen Verhaltens ist Krankenhauserhaltern und -verwaltungen entgegengekommen: Warum sollte man bei Spitalsaufenthalten eines Kleinkindes eine Mitaufnahme der Mutter ermöglichen, wenn sie dem Kind mehr schadet als nützt? Durch diese Fehleinschätzung wurden bis zum Ende des letzten Jahrhunderts mitunter schwere iatrogene Bindungstraumen in Kauf genommen (und bis heute weder als solche gewürdigt noch entschädigt). Wenn man bedenkt, dass der 1872 in Innsbruck geborene Kinderarzt Meinhard von Pfaundler schon 1909 auf den psychischen Hospitalismus von Kleinkindern hingewiesen hat (pdf davon auf Anfrage verfügbar), wird deutlich, wie lange es sogar an Universitäten dauern kann, bis besseres Wissen »wahrgenommen« und in die Praxis umgesetzt wird, obwohl genau das Verpflichtung und Auftrag dieser Institution wäre. Die Mitaufnahme eines Elternteiles wurde an der Universitätsklinik in Innsbruck – für nicht Kranken-Zusatzversicherte – erst ab 1995 ermöglicht (auf Grund der UNESCO-Charta für »Kinderrechte im Spital« von 1988).

Beim Lesen des Buches spürt man die Kompetenz der Autorin, die sie sowohl in ihrer eigenen Familie mit ihren vier Kindern und gemeinsam mit ihrem Mann sehr lebensnah und reflektiert erworben hat als auch in der Begleitung von vielen Eltern-Kleinkind-Gruppen und Eltern-Kind-Malgruppen sowie bei ihrer beratenden Tätigkeit im Rahmen der ambulanten Familienbegleitung in Tirol. Letztere Tätigkeit darf vom Effekt her durchaus als psychotherapienah gesehen werden, auch wenn nach dem Gesetz nicht so benennbar.

Ihr jüngstes Sachbuch ist reflektierenden, bewusst erziehenden Eltern genauso uneingeschränkt zu empfehlen wie Menschenforschern und allen, die sich professionell mit Kindern oder/und mit Familienbegleitung befassen.

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