Rezension zu Grenzen und Chancen der modernisierten Geschlechterordnung
aep informationen, Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 45. Jahrgang, Nr. 1/2018
Rezension von Sabine Prokop
Ausgehend von der Frage: »Was ist also gar nicht so neu im
angeblich so Neuen des neoliberalen Ideals der
Selbstunternehmerjn?« (39) erarbeitet Stefanie Göweil detailliert
und tiefschürfend Grenzen und Chancen einer individualisierten
Geschlechterordnung. Unter Anerkennung von gesellschaftlichen
Transformationsprozessen fokussiert sie auf das Bildungssystem als
einem der Orte, wo »der neue Geschlechtervertrag an die Frau
gebracht wird« (39). Das Affidamento (1) der Autorin ist deutlich
spürbar und stärkt die Bereitschaft der Leserinnen, sich auf die
extrem komplexe und anspruchsvolle Darstellung von philosophischer,
psychoanalytischer und feministischer sowie post-feministischer
Theoriebildung einzulassen. Das 300-seitige Buch ist nichts zum
schnell Lesen, aber ideal für vertiefende Auseinandersetzung mit
dem Patriarchat als komplexem System von Benennung und Verschiebung
sowie mit der symbolischen Ordnung der Geschlechter (weswegen
Frauen und Männer im Buch ohne * benannt werden). Dabei dient die
Problematik der Subjektwerdung als roter Faden. Stefanie Göweil
bleibt jedoch nicht bei der dialektischen, inter- und
transdisziplinären Analyse stehen sondern zeigt Auswege auf.
Methodisch geht es Göweil um einen »fruchtbaren, produktiven Dialog
zwischen zentralen Theoretiker_innen des Poststrukturalismus, der
Psychoanalyse und der feministischen Philosophie/ Theorie« (49).
Insbesondere bei Judith Butler und Luce Irigaray will sie »falschen
Polarisierungen und reduktionistischen Gegenüberstellungen der
Theorien entgegen (...) arbeiten.« (49) Wenn sie etwa die
»Konstruiertheit von geschlechtlichen Unterschieden selbst« (45)
als ein Konstrukt und die Reduktion des weiblichen Geschlechts
wieder auf einen Spiegel des Männlichen hinterfragt, argumentiert
sie mit Irigaray, Mit Butler hingegen schlägt sie vor, »die
Verletzbarkeit jedes menschlichen Lebens zum Ausgangspunkt« (69)
von Forderungen nach »Recht auf Mitsprache, auf politische
Ansprachen unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Ethnie
oder Alter« (69) zu machen.
Das »Schweigen der Frauen, der Verzicht auf Kritik« (48) ist eine
der zentralen Konditionen des neuen Geschlechtervertrags, den es zu
brechen gilt. Wenn Frauen ›alles‹ schaffen wollen, sieht Göweil
eine »Komplizenschaft der Frauen mit dem neoliberalen Regime bzw.
dem, was Butler als leidenschaftliches Verhaftetsein mit der Macht«
(140) bezeichnet. Die Frau als Subjekt wird vom selben Diskurs, der
»stillschweigend die Erledigung reproduktiver Arbeiten durch sie
voraussetzt« (161), als befreit angerufen. So verschleiert die
Nicht-Mehr-Darstellung von hausfraulichen Tätigkeiten die Benennung
der faktischen Situation. Viel wichtiger wäre, dass Frauen die
Möglichkeit haben, »gegenhegemoniale Lesearten einbringen zu können
und damit die Konzeption von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit
einer Weiterentwicklung zu unterziehen« (117).
Auch im Bildungsdiskurs und speziell in der Institution Schule
sieht Göweil im Benennen eine zentrale Kategorie, allerdings
dahingehend, dass den »Erfahrungen von Schüler_innen vorschnell
einen Namen zu geben, sie voreilig auf einen Begriff zu bringen«
(125) eine massive Offenbarung von heterosexueller Macht
manifestiert. Das Modell der psychoanalytischen Pädagogik hingegen
fordert dazu auf, »‹als Lehrer_in selbst Forscher_in und
Erkennende_r‹ im Umgang mit dem eigenen Unbewussten und der eigenen
psychischen Abwehr zu werden« (196, kursiv i.O.) und sich »dem
Anderen aussetzen, die Erfahrung der Begrenztheit auf sich nehmen,
die Negativität auf sich nehmen« (204), also sich als Lehrer_in
»von institutionellen Allmachtsfantasien, von dem Bedürfnis, von
Schüler_innen gemocht zu werden, von dem Verlangen nach
unmittelbarem positiven Feedback und vor der Angst vor Differenz
und Konflikt« (204) zu lösen. Das bedeutet zugleich eine
reibungsvolle Auseinandersetzung mit dem System Schule und „ein
gewisses Maß an Bedrohung für alle Beteiligten« (267).
Neben den theoretischen Diskussionen bietet das Buch detailliertes
Zahlenmaterial zum früh differenzierenden österreichischen
Schulsystem. Ebenfalls sehr anschaulich und aufschlussreich ist
Göweils Kritik am kompetenzorientierten Unterricht im Vergleich mit
Foucaults Prinzipien der Disziplinierung aus Ȇberwachen und
Strafen« (1994) (251f) oder ihre Diagnose, dass »jedes schulische
›undoing‹ schnell seine Glaubwürdigkeit« (243 kursiv i.O.)
verliert, solange sich »Sexismus und Rassismus institutionell und
individuell ›rechnen‹« (243). Doch wenn es – nicht nur –
Jugendlichen gelingt, »die Frage nach dem Begehren und damit die
Frage nach dem Für-sich- und Für-andere-Sein neu zu klären, bietet
sich damit auch die Möglichkeit für eine bewusstere Gestaltung der
eigenen Geschlechtlichkeit. Nicht eine geschlechterlose
Gesellschaft wäre das Ziel, sondern eine ›geschlechterbewusstere‹.«
(270)
In Stefanie Göweils vielfältigen, letztendlich auch explizit
praxisaffinen, über weite Strecken allerdings sehr komplexen
Gedanken und Argumentationsketten, die teils (für mich als
Nicht-Philosoph*in) höchst anspruchsvoll zu lesen waren, finden
sich immer wieder wunderbare Fundstücke, Aha-Momente zum Mitnehmen.
Und hoffentlich umsetzen!
(1) Nach Antje Schrupp (Vortrag am 27. August 2005) ist Affidamento
ein italienisches Wort, das sich nur schwer ins Deutsche übersetzen
lässt. Das Verb »affidarsi« bedeutet »sich anvertrauen«.
»Affidamento« bezeichnet so »die politische Praxis der Beziehungen
unter Frauen«.