Rezension zu Widersprüche des Medizinischen
www.socialnet.de vom 7. März 2018
Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Thema
Katharina Jacke befasst sich im vorliegenden Band mit den sich
ändernden medizinischen Argumentationsmustern in Bezug auf
Transsexualität. Dabei widmet sie sich den Betrachtungen seit den
1950er Jahren und fokussiert auf aktuelle Entwicklungen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Der Band »Widersprüche des Medizinischen« ist zugleich die
Dissertationsschrift von Katharina Jacke, die mittlerweile als
wissenschaftliche Referentin bei der Arbeitsgemeinschaft für
Kinder- und Jugendhilfe arbeitet.
Die Publikation wurde von der Ernst-Reuter-Gesellschaft und der
Hannchen-Mehrzweck-Stiftung ermöglicht.
Aufbau
Der Aufbau des Bandes folgt dem einer theoriebasierten
Dissertation. Relativ kleinschrittig werden zunächst die
theoretischen Grundlagen erläutert und schließlich einzelne
Schwerpunkte fokussiert. Nach der Einleitung (0.) weist die
Veröffentlichung folgende Hauptgliederungspunkte auf:
(1) ›Transsexualität‹ als problematische Kategorie des Wissens:
Genealogie und Horizont
(2) Diversifikation der Kataloge als Strategie der
Stabilisierung
(3) Zeitgenössische Behandlungspraktiken als eigentliche normative
Kraft der Theoriebildung
(4) Schlussfolgerungen: Die Aporie im Spiegel vielfältiger
Binarismen
(5) Schluss
Den Band beschließen ein Epilog, ein Abkürzungsverzeichnis, ein
Glossar und ein Literaturverzeichnis.
Inhalt und Würdigung
Katharina Jacke untersucht in ihrer Arbeit, wie medizinisches
Wissen über »Transsexualität« entsteht. Dabei schließt sie an
vorangegangene Arbeiten an, u.a. »Die soziale Konstruktion der
Transsexualität« von Stefan Hirschauer (1993) und »Das Paradoxe
Geschlecht: Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und
Gefühl« von Gesa Lindemann (1993). Jacke baut auf der zentralen –
und seit Michel Foucault virulent verhandelten – Einsicht auf, dass
Medizin als in gesellschaftliche Herrschaftsmechanismen eingebunden
und als politische Disziplin zu betrachten ist: »Ob
rationalistisches Techno-Modell, Mechanisierung des Menschen oder
Biokybernetik – medizinische Prozesse sind nicht ohne die
sozialpolitischen Rahmenbedingungen zu denken, in die sie
eingebettet sind und auf die sie rückwirken. Die Medizin produziert
das alltagsweltliche, wissenschaftliche und subjektive Verständnis
vom Körper und seinen Funktionsweisen, sie greift bestehendes
Wissen über den Körper auf und transformiert es.« (S. 18)
Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Einbindung der Medizin
wolle sich die Autorin in Bezug auf Transsexualität mit der Frage
befassen, »auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen sich das
Krankheitsphänomen, die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen
selbst, vor allem aber die Kategorien Krankheit und Gesundheit,
Männlichkeit und Weiblichkeit verändern« (S. 21). Nach dem
Problemaufriss stellt Jacke in den weiteren Teilen der Einleitung
einige theoretische Bezugspunkte vor, die einmal den
wissenssoziologischen Zugang über Ludwik Fleck transparent machen
und sich anschließend über allgemeine Betrachtungen zum
»Nature-Nurture-Problem« der »Transsexualitätsforschung« zuwenden.
Schließlich wird die Literaturauswahl für die diskursanalytisch
inspirierte Arbeit erläutert.
Im sich anschließenden ersten Kapitel stellt Jacke die
medizinischen Verhandlungen über Transsexualität seit den 1950er
Jahren vor. Dabei macht sie Veränderungen aus – weg von somatisch
orientierten Disziplinen der Medizin, hin zu einer
Psychiatrisierung. Um Transsexualität im Kontext medizinischen
Geschlechterwissens fassen zu können, betrachtet die Autorin auch
die allgemeinen medizinischen Theorien zu Geschlecht. John Money,
Joan und John Hampson nehmen in den Darstellungen einen zentralen
Platz ein: »John Money erfand als selbsternannter Pionier des
Gender-Begriffs (…) die ›gender role‹ als eine psychosoziale
Geschlechtsidentität, die nicht in kausaler Weise an das
Körpergeschlecht geknüpft ist« (S. 50). Abgesehen von der
personalen Engführung auf Money, die so nicht aufrecht zu erhalten
sein wird – wir erinnern uns an die um 1800 und um 1900 intensiv
geführten Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Frauen, die
eben gegen eine biologische Bestimmung der »Geschlechterrolle«
stritten –, macht die Autorin hier korrekt auf die Bedeutung der
Medizin als »Normierungswissenschaft« aufmerksam. Entsprechend
schließen die Darstellungen nahtlos an die theoretische Grundlegung
der Einleitung an.
Nachdem Jacke auch Kritiken an diesem medizinischen Konzept
vorgebracht hat, konstatiert sie für »(d)ie zeitgenössische
Sexualforschung«, dass dort dieses medizinische Konzept weiterhin
vertreten werde: »Der Grundgedanke einer Differenzierung von
›gender role‹, ›gender identity‹ und ›sexual identity/orientation‹,
deren Summe als psychosexueller Geschlechtsausdruck gewertet wird,
gilt der medizinischen ›Inter- und Transsexuellenforschung‹ heute
als selbstverständlich« (S. 55), führt die Autorin unter Bezug auf
Hertha Richter-Appelt an. »Richter-Appelt folgt mustergültig den
Prinzipien, die Money in den 1950er Jahren zu seiner Idee einer
›freien Geschlechtswahl‹ geführt hatten, allerdings erweitert sie
diese um die Kategorien des ›Kulturellen‹ und des ›variablen
Konstrukts‹ (...). Die ›gender role‹ wird Richter-Appelt folgend
lediglich ›herangetragen‹ (...), nicht mehr eingeprägt. Die ›gender
identity‹ hingegen ist nach wie vor zwischen Selbst und Sozialem,
zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ lokalisiert; sie orientiert sich auch
weiterhin an Körperformen und Einschreibungsideen.« (S. 56) Die
Beschreibung dieser starren Kontinuität für »die« zeitgenössische
Sexualforschung würde der Intention der Arbeit von Katharina Jacke
zuwiderlaufen, da sie ja gerade Veränderungen untersuchen möchte.
Entsprechend setzt sie im weiteren Verlauf der Arbeit weitere
Stimmen aus der Sexualforschung hinzu, die einen differenzierteren
Blick eröffnen, etwa Martin Dannecker, Milton Diamond und Timo O.
Nieder (der auch gemeinsam mit Hertha Richter-Appelt Publikationen
verfasst hat).
Zum Abschluss des 1. Kapitels befasst sich Jacke ausführlicher mit
den aktuell verhandelten biologischen Theorien der
Geschlechtsdetermination und -differenzierung, um sich im Kapitel 2
mit der Veränderung der medizinischen Diagnose-Klassifikationen im
Hinblick auf Geschlechtlichkeit und insbesondere auf
Transsexualität auseinanderzusetzen.
Kapitel 3 liefert dann eine Zusammenschau der medizinischen
Eingriffe, um im Kontext Transsexualität »Weiblichkeit« und
»Männlichkeit« zu konstruieren. Auch hier wird der
gesellschaftliche Kontext deutlich, in dem die jeweiligen
operativen, hormonellen, logopädischen, psychologischen etc.
Behandlungen stattfinden. In diesem Kontext kommen auch Fragen zu
Gehirn und biologische Zuschreibungen an Regionen des Gehirns, sich
»typisch weiblich« oder »typisch männlich« auszuprägen, zur
Sprache; mit Betrachtungen zu »Biologismus« (S. 295ff) beschließt
die Autorin das Kapitel und thematisiert dabei einerseits, wie in
Teilen der Trans*-Community teilweise positive Bezüge zu
biologischen Erklärungen von Transsexualität vorgenommen würden und
wie solche biologisch-deterministisch orientierten Betrachtungen
auch in der aktuellen Forschung vertreten seien, wenn auch mit
Argumenten zur möglichen und wünschenswerten Selbstbestimmung
Betroffener angereichert. Unter anderem unter Rückgriff auf Magnus
Hirschfeld stellt Katharina Jacke ganz zu Recht fest, dass »die
erneute Hinwendung zum Primat der Biologie, eben die
Naturalisierung der ›Transsexualität‹, gar nicht mehr neu« ist
(S. 302).
Die den Band beschließenden Betrachtungen wenden sich der Bedeutung
von binären Kategorien im Kontext der Medizin zu und binden den
medizinischen Diskurs noch einmal in die Gesellschaft ein, konkret
in die aktuellen neoliberalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse
(vgl. S. 347ff).
Fazit
Das Buch »Widersprüche des Medizinischen« wendet sich den Weisen
der Generierung von Wissen in der Medizin und einigen ihrer
Disziplinen im Hinblick auf Transsexualität zu. Die Autorin zeigt
dabei einige Veränderungen auf. Allerdings fällt es mitunter
schwer, tatsächlich nachzuvollziehen, ob es sich um Veränderungen
handelt. Das ist etwa der Fall, wenn biologisch-deterministische
Zugänge abschließend als »gar nicht mehr neu« (S. 302) ausgewiesen
und damit um Jahrzehnte zurückverlegt werden, in eine Zeit, in der
die Autorin aber zentral das Sozialisations-Konzept der ›gender
role‹ beschreibt und mit John Money verbindet. Die Verwirrung wird
mitunter dadurch verursacht, wenn Aussagen an einzelnen Punkten
sehr absolut gesetzt werden – etwa für »die Sexualforschung« an
einer Stelle das eine absolut ausgesagt wird, kurz darauf aber
widersprechenden Stimmen aus der Sexualforschung Raum gegeben wird.
Bei der Fokussierung auf zeitliche Veränderung wäre es für die
Darstellung der Forschungsergebnisse günstig gewesen, jeweils
abgegrenzte zeitliche Kontexte in einzelnen Kapiteln vorzustellen –
mit einem Gesamtbild von Gesellschaft, Stand der allgemeinen
Perspektiven der und auf die Medizin sowie die spezifischen
medizinischen Betrachtungen zu Transsexualität.
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