Rezension zu Mathilde Freud
Zwischenwelt. Zeitschr. f. Kultur d. Exils u. d. Widerstands 23 Jg. Nr. 2/3 03/2007
Rezension von Christina Puschak
Sigmund Freud und die Frauen seiner Familie
Anlässlich des 150. Geburtstags von Sigmund Freud, dem Begründer
der Psychoanalyse, gab es zahlreiche Neuerscheinungen, die auf ihn
und seine Familie eingehen, viele davon aus der Feder weiblicher
Autoren. Neben Familienbiografien, Analysen seiner Beziehung zu
Frauen, Fotobänden, Brielwechseln, kulturhistorisch-biografischen
Studien wurde von weiblichen Familienmitgliedern Verfasstes
erstmals oder neu aufgelegt – dazu ergänzend lohnt ein Blick auf
Buchveröffentlichungen, die schon einige Jahre zurückliegen. Auf
Beiträge wie zu Freuds Weiblichkeits-Theorie wird an dieser Stelle
nicht eingegangen und an seine im Wissenschaftsbereich bekannten
jüngsten Tochter Anna wird hinweisend gedacht. An der Person
Sigmund Freuds, seinen Ansichten scheiden sich auch innerhalb der
Familie die Geister. Beispielsweise verehrt er seine Mutter Amalia,
aus Ostgalizien stammend und von allen wegen ihrer Schönheit
gerühmt, zeitlebens, ist von ihrer »Vitalität und Ungeduld« wie von
ihrem »Lebenshunger« und ihrer »Scharfsinnigkeit« beeindruckt und
legt bei ihr eine sonst für ihn untypische Scheu an den Tag. Seine
Enkelkinder hingegen zeichnen ein weniger schmeichelhaftes Bild von
ihr: zu häufigen Gefühlsausbrüchen neigend, launisch, schrill,
herrschsüchtig, tyrannisch und die Söhne bevorzugend. Ist das
Urteil der Familienmitglieder über seine Mutter eher
gegensätzlicher Natur, so stimmen die Beschreibungen über seine
Frau Martha, geborene Bernays, weitgehend überein: streng, aber
fair. In meine Martha, aus einer angesehenen Hamburger Rabbiner-
und Gelehrtenfamilie kommend und jüdisch-orthodox aufgewachsen,
findet er »seinen liebsten Besitz«, eine treue, tatkräftige, auch
selbstbewusste und hübsche Frau: »Sie erdet das Leben ihres
intellektuellen Mannes, ... ist stets in der Lage, ihm ein Gefühl
des Gesichert- und Geborgenseins zu vermitteln« – aber die
Durchsetzungsfähigkeit seiner Mutter sollte sie nie erreichen: Ein
gelungenes positives Denkmal setzt ihm seine 1888 in Wien geborene
Nichte Elisabeth (Lilly) Freud, spätere Freud-Marle, die Tochter
seiner Schwester Maria. Die in Berlin aufgewachsene Lilly gibt 1911
ihr Debut als Schauspielerin, heiratet 1917 den Schauspieler Arnold
Marle, 1919 Geburt von Sohn Omri. Zwei Jahre später erfährt sie
nach ihrem ersten großen Bühnenerfolg einen schweren
Schicksalsschlag, als ihr Sohn Benjamin tot zur Welt kommt.
Umjubelte Auftritte feiert sie als Rezitatorin u.a. mit
Rabindranath Tagore, dessen Dichtung sie einem europäischen
Publikum nahezubringen versucht. Nach dem tragischen Freitod ihrer
Schwester Tom 1930 nimmt Lilly ihre Nichte Angela als Adoptivkind
an. 1933 verlässt die Familie deutschen Boden und emigriert nach
Prag, während ihre Mutter nach Wien zu ihren drei Schwestern
zurückkehrt. Sie bleiben nach dem »Anschluss« Österreichs, was für
ihr erschütterndes Schicksal ausschlaggebend sein sollte. 1942
werden die Schwestern nach Theresienstadt deportiert, wo Adolfine
den Tod findet: Lillys Mutter Maria und ihre Tanten Rosa und Paula
werden nach Treblinka gebracht Und dort ermordet. Nur Sigmund
Freuds älteste Schwester Anna überlebt. Sie war bereits 1892 mit
ihrem Mann Eli Bernays und dem Sohn Edward in die USA ausgewandert.
Bei der immer bedrohlicheren Lage in Prag beschließen Lilly und
Arnold nach London zu flüchten, wo sich bereits der größte Teil der
Freud-Familie befindet: ihr Onkel Sigmund und ihre Tante Martha.
ihre Cousinen Anna und Mathilde, ihr Cousin Martin mit seinem Sohn
Anton Walter und ihr eigener Sohn Omri. Dort schreibt sie zwischen
1944 und 1947 ihre Erinnerungen nieder, wissend um das tragische
Schicksal ihrer Mutter Und unterstützt durch intensive Gespräche
mit ihrer Tante Martha: »Die Vergegenwärtigung einer besonnten
Vergangenheit Und die enge Anlehnung an Martha Freud gaben Lilly
Freud-Marle die Möglichkeit, den grausamen Tod ihrer Mutter zu
verarbeiten.« In einem Briefaus dem Jahre 1947 führt sie zu ihren
Erinnerungen zu Freud aus: »...(es) ist wohl die erste Biografie,
die nichts mit seiner wissenschaftlichen Arbeit zu tun hat und nur
mit seiner Persönlichkeit und mit dem Leben seines Tages.«
Christfried Tögels Recherchen ist es zu verdanken, dass die
Erinnerungen aus dieser Zeit von der lyrisch begabten Nichte nun
unter dem Titel »Mein Onkel Sigmund Freud« nachzulesen sind. In dem
Buch sind vier von ihr verfasste Essays abgedruckt. »Medaillons«
betitelt, die Lilly ihrem Onkel zum achtzigsten Geburtstag
schenkte. Das von ihr Verfasste kreist um den Menschen Sigmund
Freud, den »selbst erklärten Juden aus Mähren, dessen Eltern aus
dem österreichischen Galizien stammten«. Mit warmherzigen Worten
schildert sie ihn: »Die Tür ging auf, und [er] kam herein und
strich mit zärtlicher Gebärde über Unsere Köpfe und Zöpfe ... nie
kam ein lautes Wort ein Leben lang aus seinem Munde.«
Dem wohlwollenden Bild, das Lilly von ihrem Onkel zeichnet Und das
von einigen KritikerInnen als »Flucht in eine heile Welt«
qualifiziert wird, stehen die Aufzeichnungen von Sophie Freud,
seiner Enkelin, der Tochter des ältesten Sohnes Martin gegenüber,
die aus der von ihrer Mutter geschriebenen unveröffentlichten
Autobiografie, aus Briefen und zahlreichen Kommentaren und den
eigenen Erinnerungen sowie frühen Tagebuchaufzeichnungen ein Mosaik
zusammensetzt, dem sie den Titel »Im Schatten der Familie Freud«
gab. Ihre Mutter Ernestine, genannt Esti, schildert in ihren
Erinnerungen ihre unglückliche Liebe zu Martin und ihr
»Sich-Ausgestoßen-Fühlen« aus der Familie Freud.
Esti und Martin hatten 1919 gegen den Willen der jeweiligen Eltern
geheiratet. Bereits nach einigen Jahren zeichnet sich das Scheitern
der Ehe ab. Esti – deren Talent und Erfolg als Rezitatorin bereits
früh aufgefallen war, vermißt die Anerkennung von Seiten ihres
Mannes im Gegenteil, er zieht andere Frauen ihr vor. Von seiner
Familie bleibt sic abgelehnt. wird gar als »hysterisch und krank«
etikettiert. Mit letzter Kraft macht sie 1926 eine Berufsausbildung
zur Logopädin und Sprachtherapeutin und kämpft auf diesem Weg um
Anerkennung. Ihre Ambitionen werden von der Familie Freud als
zusätzliches Zeichen ihres gestörten Verhaltens betrachtet.
Sigmund Freuds Schwiegertochter flieht nach dem »Anschluss« 1938
mit ihrer Tochter Sophie nach Paris, wo sie sich niederlassen. weil
Marie Bonaparte. eine von Freuds Schülerinnen. ihnen eine
permission de sejour besorgen konnte. Dort besteht für Esti
aufgrund ihrer Sprachkenntnisse zwar die Chance auf Arbeit; dennoch
wäre sie viel lieber der Familie nach England gefolgt. die ihr
älteres Kind, den Sohn Anton Walter, bereitwillig mit sich nahm.
Doch weder vor noch in den Jahren nach der Besetzung Frankreichs
erhalten Esti und Sophie von dortiger Seite Unterstützung.
Während der Zeit in Frankreich nehmen Sophie Freuds Kommentare und
Tagebuchaufzeichnungen immer mehr Platz ein, sie beschreibt ihre
Einsamkeit, wie schwierig es für sie ist, in der fremden Umgebung
und Sprache Freundinnen zu finden.
Ende 1940 fliehen beide aus dem von Hitler-Deutschland besetzten
Paris. Während ihrer Odyssee über Nizza, Marseille und Casablanca,
wo sie aufeine Schiffspassage in die USA warten, sind sich Mutter
und Tochter, deren Zusammensein von starken Konflikten aus Sophies
Kindheit an überschattet war, so nahe wie nie zuvor. Voller Eifer
lernen sie Englisch, und Sophie entwickelt im Hinblick auf ihre
Vorstellungen von amerikanischer Mentalität und über ihr
Einfühlungsvermögen Außenseitern gegenüber ihre eigenen Visionen:
»...und dann möchte ich sehr gerne einen guten Freund haben,
gescheit, Kommunist, Jude, lieb, lustig, Wiener…«
1942 erreichen Mutter und Tochter die USA. Ihre Beziehung schwankt
zwischen Abgrenzung und Verschmelzung, doch meistens gehen sie
getrennte Wege. Der Ehrgeiz ihrer Mutter findet sich in Sophies
beruflicher Karriere auf dem Weg zur Professorin für Sozialarbeit
und Psychologie wieder – sie will es zu etwas bringen und hat auch
Erfolg. Trotz ihrer großenteils sachlich gehaltenen Kritik an der
gesamten Familie und an Sigmund Freud schimmert die Sehnsucht nach
Anerkennung von seiner Seite zwischen den Zeilen durch...
Ein Hang zur Kreativität und der Drang zu geistiger und
künstlerischer Fortbildung und Entfaltung wohnte wohl den meisten
Frauen der Freud-Familie inne. In den Aufzeichnungen von Mathilde
Freud, der ältesten Tochter. die Günther Gödde 2003 herausgab, wird
jedoch deutlich, wie schwer es war, diese Bedürfnisse dem Vater
gegenüber und als Frau in der damaligen Wiener Zeit durchzusetzen.
Sigmund Freud, der seiner Frau ihre traditionellen religiösen
Bedürfnisse nicht zugesteht. wie z.B. zur Einleitung des Sabbat
Kerzen anzuzünden, erlaubt seinen Töchtern nicht, einen
nicht-jüdischen Mann zu heiraten, wie Mathilde bei ihrer
Jugendliebe Eugen Pachmayr schmerzlich erfahren musste. Beruflich
gelingt es Mathilde. ihren eigenen Weg zu finden und sich selbst zu
verwirklichen. Nach ihrer Emigration mit ihrem Mann Robert
Hollitscher nach London beginnt die schriftstellerisch wie in der
handwerklichen Kunst begabte Frau als Modedesignerin eine Boutique
zu führen. Ihr Mann erledigt für sie die Buchhaltung. Seinerzeit
titelte »The Jewish Chronicle«: »A daughter of Freud is a
dress-designer now in London«. Anna Freud erkämpft sich die
Erlaubnis des Vaters, eine Ausbildung als Lehrerin zu absolvieren,
der eine große Karriere als Kinder- und Jugendlichentherapeutin
folgt.
Die Lebensgeschichten der porträtierten Frauen dokumentieren
eindringlich und nachdrücklich, wie viel Entschlusskraft, Mut,
Unbeugsamkeit und Willensstärke in diesen Frauen steckte, sich
ihren eigenen Weg zu bahnen Und den politischen Wirrnissen der Zeit
zu trotzen.
Christiana Puschak
Anmerkungen
1 Vgl. dazu den empfehlenswerten Beitrag von Hannah Fischer: Die
Flampstead War Nurseries. In: ZW 22 (2005) 3 Dezember, 6-8.
2 Vgl. zu diesem Kontext Krüll, S. l4Off. und Salher, S. 50ff
3 Ein letztes persönliches Zeugnis erhielt Anna Freud nach
Kriegsende in Form eines Briefes von einem überlebenden Mithäftling
der Schwestern in Theresienstadt.
4 Lilly Freud-Marle, S. 17.
5 Der aufgeklärte Wissenschaftler ist gläubiger Jude, lehnt aber
Rituale ab – nur bei seiner eigenen Hochzeit muss er dem jüdischen
Hochzeitsritual genügen, muss über Nacht hebräische Gebetsformeln
lernen – vgl. Lahann/Mahler.
Lilli Freud-Marle: Mein Onkel Sigmund. Erinnerungen an eine große
Familie. Berlin. Aufbau 2006.
Sophie Freud: Im Schatten der Familie Freud. Meine Mutter erlebt
das 20. Jahrhundert . Berlin: Claassen 2006.
Anna Freud-Bernays: Eine Wienerin in New York. Die Erinnerungen der
Schwester Sigmund Freuds. Berlin, Weimar: Aufbau 2004.
Günter Gödde: Mathilde Freud, die älteste Tochter Sigmund Freuds in
Briefen und Selbstzeugnissen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003.
Birgit Lahmann/Ute Mahler: Als Psyche auf die Couch kam – die
rätselhafte Geschichte des Sigmund Freud. Berlin, Weimar:
Aufbau-Verlag 2006.
Linde Salber: Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen. Reinbek:
Rowohlt Taschenbuch 2006
Marianne Krüll: Freud und sein Vater: Die Entstehung der
Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. München: C. H.
Beck 1979.