Rezension zu Ost-westliche Grenzgänge
www.socialnet.de vom 2. März 2018
Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Die kulturellen Differenzen zwischen christlich-westlicher und
islamisch geprägter Kultur und Gesellschaft. Basis ist die eigene
Lebensgeschichte und die langjährige klinische Tätigkeit als
Psychoanalytikerin. Das Anliegen ist, eine Sensibilität für
innerpsychische Entwicklungsstrukturen in patriarchalisch geprägten
Gesellschaften zu wecken und auf die Konflikte aufmerksam zu
machen, die sich interkulturell und geschlechtsspezifisch für
Migranten verschiedener Generationen ergeben.
Autorin
Mahrokh Charlier ist in Teheran geboren und lebt seit 1967 in
Deutschland. Sie arbeitet als Psychoanalytikerin und Supervisorin
und ist Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV)
und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA).
Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie, Religionswissenschaft,
Ethnopsychoanalyse und Migration.
Entstehungshintergrund
Psychoanalytische Überlegungen zu Problemen mit kulturellen
Unterschieden bei Kontakten zwischen islamisch und westlich
geprägten Gesellschaften und Personen aufgrund von praktischen
Erfahrungen mit Patienten, und Kollegen.
Aufbau
Nach einer Einführung plädiert die Autorin für eine interkulturelle
Psychoanalyse, die der geschlechtsspezifischen Entwicklung und
religiösen Orientierung in patriarchalisch-islamischen
Gesellschaften Rechnung trägt und z.B. den Verschleierungswunsch
auch als ›Schönheit des Unsichtbaren‹ anerkennen kann. Die
Autoritätskonflikte der Postmigranten-Generation werden beschrieben
und anhand der Geschichte der Beziehung zwischen Joseph und der
Frau des Potiphar die kulturellen Unterschiede in der
Geschlechterbeziehung aufgezeigt.
Inhalt
»Vorwort« (3 Seiten). Charlier beschreibt ihre Integrationsjahre in
Deutschland vor mehr als 40 Jahren, in denen sie die ›Leitkultur‹
als eine ›ausreichend gute Umweltmutter‹ erlebt hat. Die
Anerkennung der Bedeutung der Ursprungskultur schärfte den Blick
für Gemeinsamkeiten und Unterschiede und weckte das Interesse an
der Dynamik der innerpsychischen Entwicklung in patriarchalen
Gesellschaften und den Wunsch, aufklärend und vermittelnd die
Differenzen aufzuzeigen.
»Einführung« (9 Seiten). Diese enthält in der originellen Fassung
eines Briefes der Autorin an Sigmund Freud Überlegungen zu seinem
Leben in der Diaspora und in zwei Kulturen unter Hinweis auf eigene
Erfahrungen als nichtdeutsche Psychoanalytikerin mit Kollegen und
Patienten. Der Konflikt zwischen einem traditionell religiösen
Judentum und einem säkular aufklärerischen habe er in seinen
Schriften sensibel bearbeitet. Auf die Schwierigkeiten einer
gelingenden Ich-Integration ambivalenter Anteile habe Winnicott
hingewiesen, was die Gefühlslage von Kinder aus Migrantenfamilien
zutreffend beschreibe. Das Dilemma, zu wählen zwischen einem
traditionellen Familienbild und der Auflösung der herkömmlichen
Familienstrukturen, wecke Aggressionen und führe zu
Orientierungslosigkeit. Freud habe diesen Konflikt mit einer
doppelten Zugehörigkeit zur deutschen und jüdischen Kultur für sich
gelöst, was aber auch nur möglich gewesen sei, weil er mit der
ererbten Kultur hinreichend vertraut gewesen sei.
»I Intersubjektive Begegnung der Kulturen« (12 Seiten). Charlier
berichtet von Überweisungen der Kollegen, wenn es sich um Migranten
oder deren Kinder handelt. Steckt darin auch eine Vermeidung, sich
mit interkulturellen Problemen zu befassen? Sie plädiert dafür,
kulturelle Differenzen als Bereicherung sowohl in der Theorie als
auch in der Praxis zu verstehen. Das Fremde nicht auszugrenzen und
in der gemeinsamen Arbeit sowohl das Verbindende als auch das
Trennende zu entdecken und einen ›Zwischenraum‹ zur Verfügung zu
stellen nach dem Vorbild eines ›intermediären Raumes‹ (Winnicott)
zwischen Mutter und Kind.
»II Plädoyer für eine interkulturelle Psychoanalyse« (7 Seiten).
Charlier hat ihre Bikulturalität als Bereicherung erlebt, was ihren
bikulturellen Patienten meist erst in der Therapie bewusst wurde.
In der Überweisungspraxis der Kollegen sieht sie eine unbewusste
Abwehr des Fremden, wodurch die Entwicklung einer ›interkulturellen
Psychoanalyse‹ erschwert wird. Das Fremde als eine spezifische
Differenz bedeutet Ein- und Ausgrenzung und stellt somit eine
Herausforderung für unsere Aufnahmebereitschaft dar. Im Antlitz des
Anderen erkennen wir auch uns selbst (Spiegeleffekt), nehmen wir
Differenzen und Gemeinsamkeiten wahr und betreten einen
Zwischenraum, in dem Neues und Gemeinsames möglich ist.
»III Geschlechtsspezifische Entwicklung in
patriarchalisch-islamischen Gesellschaften und deren Auswirkungen
auf den Migrationsprozess« (21 Seiten). Ein entscheidender
sozialisatorischer Unterschied in der patriarchalen Kultur ist die
Geschlechtertrennung, die Aufspaltung der Lebensräume in eine
private und primär überaus mächtige Frauenwelt und in einen
öffentlichen Lebensraum für Männer. Diese bildet ein ›kulturelles
Gedächtnis‹ (Assmann 2004), ein Erbe, in das wir hineinsozialisiert
werden. Die überlieferte Kultur findet sich in jeder individuellen
Psyche in Form von kulturell übermittelten Übertragungen. Im
Patriarchat in der Mann für die Regelung der gesellschaftlichen
Ordnung zuständig, die Frau für das physische und psychische
Befinden des Mannes und der Kinder. In islamischen Ländern werden
die Kinder, mitunter bis zum 9. Lebensjahr, ausschließlich von
Frauen versorgt. Die Frau beweist durch die Schwangerschaft die
Potenz des Mannes, wobei in die Mutter-Sohn-Beziehung unbewusst
Hassgefühle aufgrund ihrer gesellschaftlichen Entwertung,
einfließen können. Für den Jungen ist die Mutter gleichzeitig
entwertet und intrusiv verführerisch mit der Folge, dass Selbst-
und Objektrepräsentanzen nicht integriert werden und die
Integration libidinöser und aggressiver Strebungen erschwert wird.
Der Schleier, ehemals ein Symbol einer Trennung zwischen der
sittlichen und unsittlichen Frau, ist heute ein Symbol der
Privatisierung; möglicherweise spielen auch archaische Ängste vor
der dominanten Mutter eine Rolle, die zu dieser Reglementierung
führen. Die späte Trennung des Jungen von der Frauenwelt stiftet
eine Überidentifizierung durch Projektion und Religion. Die Welt
der Muslime als eine große Familie stiftet zwar eine
Vergesellschaftung, nicht aber eine Internalisierung des
Inzesttabus, was auch symbolisiert wird in der relativ spät
vorgenommenen Beschneidung. Eine Tochter wird von der Mutter als
narzisstisches Selbstobjekt wahrgenommen, während sie mit dem Vater
eine narzisstische Symbiose eingeht als Repräsentanz seiner Ehre:
Eine gegenseitige Verbindung von Kontrolle und Abhängigkeit. Es
gibt keine eigenständige weibliche Identität, keine Autonomie.
Konflikte entstehen im Exil wegen der fehlenden narzisstischen
Anerkennung der Männer, der Orientierungs- und Haltlosigkeit.
Hemmung oder Promiskuität sind oft die Folge.
»IV Macht und Ohnmacht. Religiöse Tradition und die Sozialisation
des muslimischen Mannes« (14 Seiten). Der Rationalismus ist in der
westlichen Welt zu einer Art säkularen Religion geworden. Während
in der muslimischen Tradition eine religiöse Kodierung stattfindet,
die sich von der jüdischen und christlichen Tradition
unterscheidet. Das Verständnis für diese Unterschiede zwischen der
islamischen und westlich-säkularen Kultur ist die Voraussetzung für
einen Dialog. Freiheit des Denkens und Veränderung der Gesellschaft
treffen auf Tradition und Bewahrung der Vergangenheit. Im Zentrum
der islamischen Theologie steht die Unterwerfung unter einen Gott
und die Gemeinschaft (umma) mit dem Propheten. Unglaube ist
Undankbarkeit gegenüber Gott. Ambivalenzkonflikte, wie sie in der
jüdischen und christlichen Tradition enthalten sind, sind
unvorstellbar. Die primäre Bezugsperson, die Mutter, wird
entwertet. Der Vater wird über die Mutter als angstauslösend
erlebt; mit ihm als Aggressor identifiziert sich der Junge (A.
Freud) und vermeidet damit eine konflikthafte ambivalente
Beziehung. Die Chancen zur Individuation in der Pubertät und
Adoleszent sind begrenzt, auch als positive Möglichkeit einer
Trennung und eines Neubeginns. In der Therapie findet man
infolgedessen selten eine kritische Einstellung gegenüber dem
Vater. Intoleranz gegenüber Ambivalenz durchzieht die islamische
Kultur; im Extremfall findet das Ausdruck im Opfertod des
Märtyrers. Wer sich nicht bedingungslos unterwirft, wird
ausgestoßen. Differenzierung und partielle Identifizierung mit dem
Vater wie in westlichen Gesellschaften, scheidet aus. Der
Bedeutungsverlust des Patriarchats stellt eine Bedrohung dar, eine
Freisetzung von destruktiven Gefühlen wie Neid und Hass und schafft
ein paranoides Klima.
»V Eine orientalische Version des Ödipuskomplexes« (23 Seiten).
Mythen, als gesellschaftliches Produkt, können als Instrument der
Veränderung benutzt werden, aber auch als Bewahrer der Tradition.
Freud schöpfte aus dem griechischen Mythosfundus. Im Ödipusmythos
ging er davon aus, dass die Söhne nicht nur ihren Vater hassen,
sondern auch als Vorbild verehren. Die Ermordung des Urvaters
interpretierte er als einen Urzustand der Gesellschaft, in der die
patriarchale Macht des Vaters infrage gestellt wird. In
orientalischen Gesellschaften kommt der kollektiven Identität mehr
Bedeutung zu als der individuellen. In der ödipalen
Entwicklungsphase trennen sich die Geister: Inzestuöse Bindungen
werden in der westlichen Tradition abgewehrt und durch Separation,
Individuation und Autonomie bekämpft, in der orientalischen kommt
es zu einem unveränderten Fortbestand der archaischen mütterlichen
Objektbesetzung, beendet durch ein massives Eingreifen
(Beschneidung) der väterlichen Präsenz, der das familiäre und
gesellschaftliche Gesetz repräsentiert. In der Schahnameh findet
sich die Geschichte vom Vatermord in der Sage von Sohak
Drachenschah: Ahriman verführt Sohak, den Vater durch ihn ermorden
zu lassen, und danach zu weiteren fleischlichen Genüssen und Küssen
auf die Schultern, aus denen dann zwei schwarze Schlangen wachsen,
die Sohak nur töten kann, indem er sie mit dem Hirn junger Männer
füttert. Ahriman ist die personifizierte weibliche Verführungskraft
(Schlangen der Verführung), was Scham weckt anstelle von
Schuldgefühl; andere Söhne müssen ihr (dem Muttersymbol Ahriman)
geopfert werden. In der Rostam-Sage tötet der Vater seinen ihm
unbekannten Sohn Sorab und trauert und klagt bis ans Lebensende
i.S. einer reiferen Objektbeziehung. Das Ausgeliefertsein an eine
inzestuöse ungelöste Mutterbindung wird anhand eines klinischen
Falls dargestellt. Der Kampf zwischen Eros und Thanatos in der
altorientalischen Religion führt nicht zu Erneuerung (Neubeginn),
sondern bewegt sich in einem endlosen Wiederholungskreislauf. Der
symbolische Vatermord ist nicht vorstellbar oder führt zum
Ausschluss aus der Männerwelt. Unterschiedliche frühe
Objektbeziehungserfahrungen gestalten unterschiedlich den ödipalen
Konflikt und die Überichentwicklung. Die Mutter-Sohn-Beziehung
bildet nach Parson die ›Achse der Persönlichkeitsstruktur‹. Wenn
Hass und Aggression gegenüber dem Vater tabuisiert sind, sind eine
Individuierung, Neugestaltung und Kreativität blockiert.
»VI Die Schönheit des Unsichtbaren und der Klang des Ursprungs« (16
Seiten). Die Buchreligionen des Juden- und Christentum sind
Offenbarungsreligionen um einen symbolischen Akt der Entschleierung
(Wahrheit und Geheimnis Gottes). Der islamische Gott bleibt
unsichtbar. Die Kulturen unterscheiden sich nicht nur in der
Bilderpraxis, sondern auch in der Praxis des Blicks. Dennoch gibt
es ein inneres Bild der Muslime von Gott: Mit der Metapher des
Lichts ist Gott der Ursprung von allem, mit dem Flammenimbus wird
sein Gesicht zugleich erleuchtet und unsichtbar gemacht. Gottes
Werke zeigen seine Schöpferkraft, während er selbst – verschleiert
– unsichtbar bleibt. In der Rezitation erlebt der Muslim klanglich
die Schönheit Gottes: eine bilderlose, audiophile Kultur. Gott ist
das Objekt des Begehrens nach Schönheit, Symbiose. Die bilderlose
Tradition schuf in dem begehrenden Blick eine Gottesvorstellung
hinter dem Schleier. Die Wahrheit liegt jenseits von
Koran/Buchstaben und Schleier. Das Jenseits des Schleiers
interessiert nicht. Die verschleierte Frau wird im Außenbereich
(männlichen Bereich?) in die Nähe einer göttlichen Sphäre gesetzt,
als Symbol auch der Trennung von innen und außen. Nach Charlier hat
die bilderlose Gottesvorstellung einen Symbolisierungsprozess mit
eigenen Gesetzmäßigkeiten hervorgebracht, eine Welt der
Repräsentanzen als Objektivationen gesellschaftlicher Praxis
(Lorenzer). Die Fensterarchitektur zeigt auch eine unterschiedliche
symbolische Form der Blickrichtung: Das Gitter ist nicht
durchlässig für den Blick auf den Körper, aber für das Licht. Es
ermöglicht den Blick von innen nach außen, aber nicht von außen
nach innen wie ein Schleier, der sehen ermöglich ohne selbst
gesehen zu werden. Der muslimische Gott hat keinen Körper und kein
Gesicht, obgleich er in der Welt präsent ist. (So wie die Mutter
für den Embryo kein Gesicht hat, obgleich sie präsent ist. Ha.) Die
christliche Vorstellung von der Körperlichkeit Gottes hat ein
Gegenüber, während in der muslimischen Tradition Gott der
Verborgene hinter dem Schleier ist, wie die Stimme der in der Nähe
befindlichen Mutter. Das Bild entzaubert die Welt, konkretisiert
eine Vorstellung, die sonst vage und undurchschaubar bleibt,
bekräftigt die Autonomie und Individualität des Subjekts und setzt
Veränderungsprozesse in Gang. Es gibt der Vorstellung eine
Darstellung und macht sie angreifbar. Im Islam sind Bild und
Vorstellung getrennt. Der Schleier erlaubt die Phantasie eines
mütterlichen Objekts, hinter dem Schleier verborgen, und birgt
insofern auch ein kreatives Potenzial, indem in der Stimme der
Muezzin Vater und Mutter eins werden.
Diskussion
Ein nicht nur für Analytiker wichtiges und lesbar geschriebenes
Buch, das versucht eine Brücke zu schlagen zwischen westlicher und
östlicher Kultur, den unterschiedlichen Traditionen und Auslegungen
von Texten, wie sie in der jüdisch-christlichen Tradition
selbstverständlich und in der muslimischen insofern verboten sind,
da das bedeuten könnte, den Schleier zu lüften. Partiell hat
Charlier das gemacht, indem sie hinter dem Schleier unbewusst die
verborgene allmächtige Mutter deutet, die – und das scheint mir
etwas zu kurz gekommen – in der kindlichen Entwicklung die erste
Botschafterin von unvermeidlichen Amivalenzkonflikten ist. Wenn
diese nicht zugelassen werden, sind Spaltungen unumgänglich. Das
betrifft aber alle fundamentalistisch orientierte Religionen, nicht
nur den Islam, mit dem allerdings gravierenden Unterschied, das
diese in der westlichen Welt seit der Trennung von Staat und
Religion ihre destruktive Kraft politisch nicht mehr entfalten
können.
Die Autorin setzt sich auch mit der Verschleierung auseinander und
auch mit der Schönheit hinter dem Schleier, die aber in der Regel
doch Interesse und Neugierde weckt, die ebenfalls unterdrückt
werden müssen, wenn der Schleier nicht gelüftet werden darf. Ein
Sonderkapitel wäre damit auch, wie es mit den kindlichen (und
erwachsenen) voyeuristischen und exhibitionistischen erotischen
Interessen steht, wenn diese im häuslichen Bereich – unverschleiert
– geweckt, aber im öffentlichen Raum unterdrückt werden.
Ich habe das Buch als sehr anregend erlebt, über kulturelle
Differenzen, auch in der psychoanalytischen Community,
nachzudenken, eine Spur, die die Autorin mit dem ›Brief an Freud‹
anvisiert, aber dann doch nicht weiter ausgeführt hat.
Für alle, die sich einen offenen Blick für das Fremde und damit
auch einen kritischen Blick auf das Eigene bewahrt haben, ist
dieses Buch als Anregung zu selbstständigen eigenen Erkundungen zu
empfehlen.
Fazit
Ein Buch das anregt, sich auch die Begegnungen mit einer fremden
Kultur einzulassen, Gemeinsamkeiten und Differenzen wahrzunehmen
und auch die Grenzen der eigenen kulturellen Überlieferung
nachdenklich und kritisch im Spiegel des anderen wahrzunehmen.
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