Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe (PDF-E-Book)
Perspektive mediation, 2018, Heft 1
Rezension von Friedrich Demel
Vorbemerkung: Nachdem bereits im Heft 2/2017 der Zeitschrift
»Perspektive Mediation« eine Besprechung zum genannten Buch
erschienen ist und ich offenbar fast zeitgleich gefragt wurde, ob
ich eine Besprechung für die nächste Ausgabe, ich nahm an für das
Heft 03/2017, verfassen könnte, möchte ich der Anfrage auch jetzt
noch gerne nachkommen und hier in drei Punkten die Besprechung mit
persönlichen Ergänzungen und Überlegungen zu dem im Herbst 2016
erschienenen Werk erweitern und fortsetzen.
Meine Besprechung konzentriert sich auf drei Punkte
1. Zu den HerausgeberInnen
Diese halten in einer kurzen Einleitung (»Zur Orientierung«) ihren
Bezug zu Raoul Schindler folgendermaßen fest:
»Wir, die sieben HerausgeberInnen, kommen aus verschiedenen
beruflichen Feldern und repräsentieren als WeggefährtInnen,
Nachkommen, SchülerInnen und MitarbeiterInnen Raoul Schindlers vier
Generationen österreichischer Gruppendynamik« (S. 9).
Auffallend erschien mir dabei sogleich die Zahl »Sieben«, stellt
sie doch für die Gruppendynamik eine Art magische Richtgröße für
die Kleingruppe dar, die auch in den Texten von Raoul Schindler
immer wieder so auftaucht. Es mag auch ein netter Zufall sein, der
mich zu diesem Bonmot führt, der aber vielleicht einen Rückschluss
auf die Arbeitsfähigkeit der HerausgeberInnen-Gruppe
ermöglicht.
Jedenfalls oder gerade deswegen haben diese in ihrer dreijährigen
Arbeit ein großartiges Ergebnis zustande gebracht. Das
siebenseitige Werkverzeichnis von Raoul Schindler im Anhang
vermittelt schon einen Eindruck von der beharrlichen und
zeitintensiven Arbeit, die für das Zusammenstellen der bis dato nur
verstreut vorliegenden einzelnen Arbeiten, die meist in Artikelform
ursprünglich herausgekommen sind, notwendig war. Diese verstreuten
Arbeiten aufzufinden und zusammenzutragen, sowie die Rechte mit den
jeweiligen HerausgeberInnen bzw, Verlagen abzuklären, muss eine
»Heidenarbeit« gewesen sein, woraus sich auch die dreijährige
Arbeit an dem Buch leicht nachvollziehen lässt.
Eine besondere und für das vorliegende Werk unverzichtbare Rolle in
der Gruppe der HerausgeberInnen hat eine Tochter von Raoul
Schindler, Judith Lamatsch, gespielt, weil durch sie, als ein
Bindeglied zur Familie Schindler, wichtige biografische Details und
Materialien beigebracht werden konnten.
Die Arbeit an dem vorliegenden Werk begann noch zu Lebzeiten von
Raoul Schindler, der laut den HerausgeberInnen daran noch Anteil
genommen hat, aber bereits lange vor dem Erscheinen des Buches, am
15. Mai 2014, verstorben ist.
2. Zum Konzept und Aufbau des Buches
Das vorliegende Buch beinhaltet in seinem Hauptteil eine bis dato
nicht verfügbar gewesene Sammlung und Gesamtschau der zu Lebzeiten
Raoul Schindlers erschienenen Artikel und schriftlichen Arbeiten,
die auch ursprünglich verstreut an verschiedenen Orten erschienen
sind.
Im vorliegendem Buch werden diese Arbeiten in den zeitlichen,
biografischen und gesellschaftlichen Kontext der Entstehungszeit
gestellt und in diesem Sinne geordnet und kommentiert vorgestellt.
Die HerausgeberInnen bezeichnen und beschreiben fünf Lebens- und
Arbeitsphasen von Raoul Schindler, die Originaltexte werden dann
auf Grund der Entstehungszeit und des inhaltlichen, fachlichen
Bezugs diesen Phasen zugeordnet
1. Auftrag und Orientierung: Bifokale Familientherapie
(1952-1956)
2. Vernetzung und Experiment: Rangdynamik (1957-1963)
3. Reform und Gesellschaft: Omega (1966-1978)
4. Soziale Vision und Institutionalisierung: Macht (1986-1993)
5. Lehren und Weitergeben: Vermächtnis (2002-2008)
Jede dieser fünf Phasen wird eingeleitet mit einer
Kurzcharakterisierung der jeweiligen Phase und der nachfolgenden
Arbeiten und Artikel. Darin machen die HerausgeberInnen auch
nachvollziehbar, was sie zur Charakterisierung und Benennung der
jeweiligen Phase veranlasst hat.
Der erste Abschnitt des Buches (»I. Zur Person und ihrem Wirken im
historischen Kontext«) ist dreigeteilt und beinhaltet eine
Biografie von Raoul Schindler, einen Artikel zur »Entwicklung der
Gruppendynamik in Österreich: Schindler im Feld« und einen kurzen
Artikel, der herausarbeitet und erläutert, was man als den Fokus
der Arbeiten und des Wirkens von Raoul Schindler sehr zutreffend
bezeichnen kann: »Im Zentrum die Gruppe«.
Mit dieser Einleitung und den Einführungen zu der chronologischen
und in fünf Phasen gegliederten Sammlung der Arbeiten und Artikel
geben die HerausgeberInnen auch einen indirekten Hinweis und Rahmen
für eine Rezeption der gesammelten Arbeiten selbst.
Schindler hatte es zu Lebzeiten gescheut, seine Erkenntnisse in der
Form von theoretischen Werken zu fassen und herauszugeben, daher
hatte er zu Lebzeiten auch kein zusammenfassendes Werk z. B. über
die »Rangdynamik«, seinem sicher bekanntesten Theoriebaustein zur
Gruppe, verfasst.
Es entspricht durchaus dem Verständnis Schindlers, dass die
HerausgeberInnen nicht versucht haben, seine Erkenntnisse und
Theoriemodelle zur Gruppe, auch nicht um eine Rezeption zu
erleichtern, in zusammenfassenden Darstellungen vorzustellen und
somit zu interpretieren. »Das Buch ist das Ergebnis unserer
dreijährigen Zusammenarbeit, in der wir bewusst davon Abstand
genommen haben, eine Interpretation der Theorie zu präsentieren.«
(S. 9)
Die Arbeiten und Erkenntnisse Schindlers sollten vielmehr selbst in
ihren jeweiligen Entstehungskontexten möglichst an Hand seiner
eigenen Formulierungen und an Hand der Originalarbeiten
nachvollzogen werden können. Dass dies nun mit diesem Buch für
Interessierte an den Erkenntnissen und Theorien von Raoul Schindler
zur Gruppe möglich gemacht wurde, ist das hauptsächliche Verdienst
dieser Veröffentlichung.
In der Einleitung werden von den HerausgeberInnen vier Motive für
das Entstehen dieses Buches aufgeführt. Zwei Motive erscheinen mir
für die Rezeption der Schindlerschen Arbeiten und Theoriebausteine
zur Gruppe besonders wichtig.
Ein Motiv betrifft den für Schindler sicherlich zentralen
Theoriebaustein zur Gruppe, die Rangdynamik. »Wir wollten
ausgewählte Originaltexte zur Rangdynamik wieder zugänglich machen,
um beim Verständnis des Modells nicht auf Sekundärliteratur
angewiesen zu sein, in der dieses auch verfälscht dargestellt wird
Es erschien uns dringlich, Texte zu veröffentlichen, in denen die
Entwicklung der Theorie nachvollzogen werden kann.« (S. 9)
Ein zweites Motiv betraf die »Omega Position« im Rangdynamik Modell
von Schindler. »Schindlers Aufmerksamkeit galt den ›Letzten‹ in
Gruppen und Gesellschaft, den ExponentInnen. Erfahrungen und
Mechanismen von Ausgrenzung und Entwertung sind in aktuellen
gesellschaftlichen Entwicklungen wieder zunehmend zu beobachten.
Die Texte regen zu einer kritischen Sichtweise an und eröffnen
gesellschaftsrelevante Interventionsmöglichkeiten.« (S. 9)
Was mir für die Rezeption wesentlich erscheint: Die schriftlichen
Arbeiten und Artikel Schindlers sollten auf dem Hintergrund der
zeitlichen, gesellschaftlichen und fachlichen Kontexte hin
rezipiert, interpretiert und verstanden werden. Im traditionellen
Verständnis der Gruppendynamik und durchaus auch im Verständnis
Raoul Schindlers sind die Theoriemodelle und Bausteine nicht als
allgemeingültige Wahrheiten zu verstehen und handzuhaben, sondern
als Werkzeuge und Instrumente, um die Vorgänge in Gruppen und in
sozialen, gesellschaftlichen Prozessen besser zu verstehen und vor
allem als Handwerkzeuge für Interventionsmaßnahmen in diesen
Prozessen. Die Aneignung und die Bewährung dieser Instrumente und
Theoriemodelle geschieht letztlich durch die praktische Anwendung
und die darauffolgenden Erfahrungen. Dadurch wird auch das
theoretische Verständnis vertieft und weiterentwickelt.
3. Erste Überlegungen, inwiefern Schindlers Werk, im Kern sein
Modell der »Rangdynamik«, auch für die Belange der Mediation von
Bedeutung sein bzw. noch werden könnte?
Natürlich sind die Theoriemodelle von Schindler hauptsächlich aus
der Arbeit, den Anwendungen und den Erfahrungen in Gruppen,
sozialen und gesellschaftlichen Prozessen im Kontext seiner Praxis
in Psychiatrie und von Fragestellungen, die psychische Gesundheit
und Krankheit betreffend, entstanden; eine Anwendungsmöglichkeit im
Felde von Mediation ist bisher vermutlich zu wenig beachtet und
genützt worden.
Für die Mediation könnte eine Anwendung von Schindlers
theoretischen Arbeiten zur Gruppe, v. a. sein Theoriemodell der
»Rangdynamik«, auf drei Ebenen sinnvoll und nützlich sein.
1. Für und bei Mediationen, die es mit Gruppen, Organisationen,
sozialen oder gesellschaftlichen Prozessen zu tun haben, was noch
die naheliegendste Anwendungsmöglichkeit wäre.
2. Eine Anwendung könnte auch für Mediationen mit »nur« zwei
ProtagonistInnen unter Umständen nützlich sein.
Vor allem bei Konflikten ist davon auszugehen, dass die
Konfliktparteien von ihrem jeweiligen sozialen Umfeld auch
wesentlich beeinflusst sein können. Für ein adäquates Verständnis
des Verhaltens der beteiligten Personen und letztlich für das
Finden einer Konfliktlösung wäre es grundlegend, dass das jeweilige
soziale Umfeld der Konfliktparteien auch betrachtet und in die
Analyse, sowie für die Interventionen in der Mediation, einbezogen
und so genützt werden könnte.
Somit sollte man auch in einer Konstellation von zwei
ProtagonistInnen letztlich immer auch von Gruppenprozessen
ausgehen, die Einfluss auf die Konfliktparteien haben. Mit einer
solchen Herangehensweise und Sicht wäre es möglich, die nicht
anwesenden »Dritten«, »Vierten« etc. in den Mediationsprozess mit
den ProtagonistInnen »hereinzunehmen«. Diese »verdeckten
Gruppenprozesse« und ihre möglichen Einflüsse auf die real
anwesenden Konfliktparteien könnten so sichtbar gemacht und dadurch
in der Folge auch bearbeitbar gemacht werden. Natürlich müsste
diese Sicht- und Vorgangsweise immer für den jeweiligen konkreten
Fall reflektiert werden, inwiefern dies die Möglichkeiten der
Mediation vermehrt und erhöht oder eventuell auch erschweren und
unnötig verkomplizieren könnte.
3. Ein Mediationssetting mit zwei Personen als Konfliktparteien und
der Mediatorin, dem Mediator als dritter Person, stellt bereits
selbst die Keimform einer Gruppe dar.
Die dynamischen Prozesse in dieser Dreierkonstellation des
Mediationssettings explizit auch als Gruppenprozess zu verstehen
und zu analysieren, könnte vielfach hilfreich sein. Hier könnte das
Modell der Rangdynamik, das eine Gruppe von der inneren Struktur
her ja beschreibt und kennzeichnet, für das Verstehen der Prozesse
innerhalb der Mediation einiges beitragen und auch entsprechende
Interventionsmöglichkeiten eröffnen, die ohne diese Sichtweise
nicht so zur Verfügung stünden.