Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe (PDF-E-Book)
supervision – Mensch Arbeit Organisation, Zeitschrift für Beraterinnen und Berater, 36. Jahrgang, Heft 1, 2018
Rezension von Heinz Lorenz
Raoul Schindler (1923–2014) war einer der wichtigsten Gestalter des
österreichischen psychosozialen Umfeldes und hat mit seinen
Arbeiten maßgebende Beiträge für die Gruppenpsychotherapie, die
Gruppendynamik und das österreichische Gesundheitssystem geliefert.
Sein Wirkungsfeld schlägt sich in über 130 Veröffentlichungen
nieder, die über viele Zeitschriften, Vortragsbände und
Sonderdrucke verteilt sind. Umso erfreulicher, dass nun ein
kompetentes Autorenkollektiv eine repräsentative Auswahl seiner
Arbeiten in einem Sammelband vorgelegt hat.
17 Arbeiten sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet und
spiegeln auch die Entwicklung von Raoul Schindlers Denken
wider.
Die Chronik beginnt mit Schindlers »Bifokaler Gruppentherapie«,
eine in den 1950er Jahren völlig neuartige Behandlungsform von
schizophrenen Patienten. Erstmals wurden zu gruppenanalytischen
Sitzungen der Patienten ergänzende und parallele Sitzungen mit den
Angehörigen durchgeführt, um so nicht nur das Beziehungsgeflecht
der Patienten untereinander, sondern auch ihr privates
Beziehungsgeflecht erfahrbar und wechselseitige Abbildungen
sichtbar zu machen. Schon hier zeigt sich Schindlers frühes
Interesse an Gruppen und Gruppierungen aller Art, an den
Interaktionen in und zwischen Gruppen und dem Bestreben, diese
Interaktionen zu verstehen und zum Nutzen der Gruppenmitglieder
verwenden zu können.
Es folgen grundlegende Arbeiten zur »Rangordnungsdynamik«; die
Kenntnis darüber ist eigentlich verpflichtend für jeden, der mit
Gruppen arbeitet. Geläufige Begriffe wie »Alpha«, »Beta« und
»Omega« tauchen auf und werden in ein komplexes
tiefenpsychologisches System eingebettet. Dieses beinhaltet ein
anderes Verständnis von Rangordnung als die Soziometrie. So sah
sich Schindler auch genötigt, in einer eigenen Arbeit auf »(d)as
Verhältnis von Soziometrie und Rangordnungsdynamik« einzugehen und
die Unterschiede herauszuarbeiten. Allein diese Arbeit sollte jeder
gelesen und verstanden haben, der in Gruppen mit rangdynamischen
Begriffen operiert.
Es wäre nicht Raoul Schindler, hätte er sich bei seiner Analyse und
Arbeit auf kleine, eher homogene und abgeschlossene Gruppen
beschränkt. Schindler wird zum wesentlichen Vertreter der
Psychiatriereform der 1970er. Im Zuge derer kommen die bisher
abgeschotteten psychiatrischen Patienten zurück in die Gesellschaft
und es wird klar, dass diese sich ›grosso modo‹ nicht viel anders
verhalten als jene. Zwei Bewegungen entstehen: die Entwicklung der
Gruppendynamik als Arbeitsinstrument in vielen alltäglichen Gruppen
und die Schaffung großflächiger öffentlicher Netze zur
psychosozialen Versorgung. Zu beiden Themen finden sich Arbeiten
von Raoul Schindler im Buch: einerseits zur Gründung des ÖAGG
(Österreichischer Arbeitskreis für Gruppendynamik und
Gruppenpsychotherapie), der schließlich eine wesentliche Triebkraft
für das Psychotherapiegesetz in Österreich wurde, und andererseits
zu verschiedenen ambulanten Arbeitsformen zur Betreuung psychisch
Erkrankter.
Das besondere Interesse Raoul Schindlers galt immer dem »Omega« im
rangdynamischen Konzept einer Gruppe. Er erkannte und beschreibt,
wie wesentlich diese Position für den Bestand und die Bewegung
einer Gruppe ist und welche gruppendynamischen Erkenntnisse man aus
richtiger Beobachtung dieser Position über die ganze Gruppe
gewinnen kann. In der eigenen gruppendynamischer Arbeit verstand es
Raoul Schindler meisterhaft, bei Gefahr in einer Gruppe in diese
Position zu schlüpfen und die Gruppe aus dieser Position heraus zu
lenken.
Raoul Schindler versteht unter »Gruppe« nicht nur die üblichen
Klein- oder Großgruppen, sondern ganze gesellschaftliche
Bewegungen, wie in einigen seiner Arbeiten deutlich dargestellt
wird. So ist es nur folgerichtig, dass das Buch mit Arbeiten zur
Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen schließt.
In der vorliegenden Veröffentlichung wurden die Originaltexte wie
folgt gegliedert:
• Auftrag und Orientierung: Bifokale Familientherapie
(1952-1956)
• Vernetzung und Experiment: Rangdynamik (1957-1963)
• Reform und Gesellschaft: Omega (1966-1978)
• Soziale Vision und Institutionalisierung: Macht (1986-1993)
• Lehren und Weitergeben: Vermächtnis (2002-2008)
Die Einführung in das Werk und in die einzelnen Kapitel wurde von
den Autoren und Autorinnen mit Sachkenntnis vorgenommen. Dabei
wurde auch versucht, jene historischen Zusammenhänge zu beleuchten,
die hilfreich sind für ein tiefergehendes Verständnis von
Schindlers Arbeiten. Es bleibt nicht aus, dass diese Texte die
persönlichen Erfahrungen der Autoren und Autorinnen darstellen und
Anlass zu weiteren Diskussionen geben können.
Ein Institution, die Schindler mit auf den Weg gebracht hat und die
einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein könnte, ist das
»Internationale Trainingsseminar für Gruppendynamik in Alpbach«,
das über 25 Jahre hinweg jährlich im bekannten Tiroler Bergdorf
Alpbach stattfand. Schindler selbst hat dazu nur wenig
veröffentlicht, ein Artikel ist im vorliegenden Buch enthalten. Da
das Seminar das Werk Vieler war (Trainer und Teilnehmer), ist es
verständlich, dass für die Sammlung der dazu vorliegenden
Veröffentlichungen eine andere Form gefunden werden muss.
Was vielleicht für eine zweite Auflage wünschenswert wäre, ist
eine, wenn auch sicher nicht vollständige, Referenz auf Arbeiten
anderer Autoren, die sich auf Schindlers rangdynamisches Modell
beziehen.
Warum nun sollten Supervisoren dieses Buch oder zumindest einige
Artikel daraus lesen? Da ist zuerst der absolut aktuelle Inhalt.
Die Denkweise Schindlers – kulminierend im rangdynamischen Modell –
lehrt den Umgang mit komplexen dynamischen Prozessen in Gruppen und
Organisationen, einem Feld, das heute wie früher originäres Objekt
supervisorischen Handelns darstellt. Außerdem kann man viel über
Schindlers unbedingtes Commitment mit den Schwachen und
Außenseitern einer Gesellschaft lernen und darüber, welche eminente
Bedeutung diese für den Fortgang der Entwicklung haben – ebenfalls
ein zentrales Element vieler Supervisionen. Raoul Schindler war
auch Ehrenmitglieder der ÖVS Österreichische Vereinigung für
Supervision) und hat selbst – lange bevor es regulierte
Supervisionsausbildungen gab –viele Supervisoren ausgebildet – auch
den Rezensenten.
Schließlich macht es einfach Spaß, Raoul Schindlers Sprache und
seinen bildhaften Darstellungen zu folgen. Als Beispiel sei der
Artikel »Wie viel Krankheit braucht die Psychotherapie?« genannt.
Es ist nicht auszuschließen, dass der Leser mehrfach in herzliches
Lachen ausbricht.