Rezension zu Trennungs- und Verlusterfahrungen von Arbeitsmigrantinnen

www.socialnet.de vom 22. Februar 2018

Rezension von Getrud Hardtmann

Thema

Die psychosozialen Probleme von weiblichen Arbeitsmigranten – unter besonderer Berücksichtigung einer illegalen Arbeitsmigration – und die Möglichkeiten der Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen aus psychoanalytischer Perspektive.

Autorin

Dr. Christine Bär hat ein Diplom in Pädagogik und Deutsch als Fremdsprache und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Allgemeinen Erziehungswissenschaft in Gießen. Von 2007 bis 2017 arbeitete sie am Institut für Schulpädagogik der Universität Marburg mit den Schwerpunkten Migration, Flucht, Adoleszenz- und Identitätsentwicklung, Psychoanalytische Pädagogik im interkulturellen Kontext sowie geschlechtsspezifische Verarbeitungsmöglichkeiten von Migration. 2017 erhielt sie den Horst-Eberhard-Richter-Forschungspreis.

Aufbau und Inhalt

Die soziologischen, ökonomischen und subjektiven Bedingungen von Frauen in der Migration, ihre spezifisch weibliche Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen durch die enge Bindung an die Zurückbleibenden und die Bedeutung der Aufnahmegesellschaft für (Auf)-Brüche und Identitätsbildung.

1. Einleitung (8 Seiten). Bär beginnt mit einem allgemeinen thematischen Überblick (Studien zur Migration) und beschreibt dann den inhaltlichen Fokus und Aufbau.

2. Soziologische, ökonomische und subjektive Hintergründe von Frauen in der Migration (30 Seiten). Anhand einer psychoanalytischen Migrationstheorie wird gezeigt, was Migration äußerlich und innerlich für die Betroffenen bedeutet: Neben Brüchen in der Lebensgeschichte, Trennungs- und Verlusterfahrungen, auch potentielle Chancen. Bär geht auf die Unterschiede zwischen legalen und illegalen Migrantinnen ein, insbesondere im Dienstleistungssektor. Die globalen Veränderungen in den Herkunfts- und Zielländern und deren Auswirkungen auf die Motivation werden dargestellt und die subjektiv unterschiedlichen Verarbeitungsmöglichkeiten von Trennung und Verlust und – speziell weiblich – die Bindung und Verpflichtung gegenüber zurückbleibenden Angehörigen, insbesondere den Kindern, und daraus resultierend Schuldgefühle, Identitätszersplitterung und Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Identität.

3. Psychoanalytische Betrachtungen zu Verarbeitungsmöglichkeiten in der Migration (30 Seiten). Trennung bedeutet Verlusterfahrung (Familie, Sprache, Umwelt, Kultur) und Trauer. Die Möglichkeiten der Verarbeitung sind abhängig von früheren Erfahrungen bei Lösungen von gewohnten Bindungen: Verinnerlichte guten Objektrepräsentanzen ermöglichen Trennungen ohne Traumatisierungen oder Verlust der Bindungsfähigkeit. Migration bedeutet eine Identitätskrise, da das Gewohnte und Vertraute infrage gestellt wird. Diese kann aber auch positiv für neue Objektbesetzungen und Bindungen genutzt werden. Bei Migrantinnen spielen somit sowohl frühere Erfahrungen als auch die Erfahrung einer ›Willkommenskultur‹, die ihnen Schonräume für den Übergang zur Verfügung stellt, eine Rolle. Dass diese nicht nur bei illegalen Migrantinnen fehlen und gefehlt haben, hängt nicht nur mit dem unsicheren Status der Ankommenden (z.B. ›Gast-Arbeiter‹) als auch mit der Ambivalenz der Neuankömmlinge zusammen. Letztere sei bei Frauen – im Gegensatz Männern (?) – verstärkt durch die Schuldgefühle gegenüber den zurückgelassenen Kindern. Insgesamt spielt also die »prämigratorische Persönlichkeit« in Bezug auf eine potentiell traumatische Erfahrung eine Rolle, aber auch der kulturelle Schock in der Anfangsphase, der regressive Ängste und Abwehrvorgänge begünstigt. Der Trauer- und Ablösungsprozess wird durch Schuldgefühle und Selbstvorwürfe erschwert.

4. Weibliche Verarbeitungsformen und die Bedeutung der Aufnahmegesellschaft am Beispiel einer empirischen Fallstudie (12 Seiten). Bezugnehmend auf eine Untersuchung von Zeul (1995) an spanischen Arbeitsmigrantinnen wird dargestellt, wie Isolation und Ablehnung im Aufnahmeland die Aufnahme von Kontakten behinderten, Rückkehrfantasien verstärkten und regressiv frühe Mutter-Tochter-Identifizierungen – eine Wendung von Aggressionen gegen sich selbst, Anpassung anstelle von Widerstand bis zum körperlichen oder seelischen Zusammenbruch – unterstützten. Illegalität, wie sie heute insbesondere im Dienstleistungssektor Realität ist, führt zu einer Verstärkung dieser Symptome.

5. Die Bindung an die Zurückbleibenden im Kontext von transnationaler Familienmigration (26 Seiten). Moderne Kommunikationstechnologien ermöglichen Kontakte auch über große Distanzen, verstärken aber auch die gegenseitigen Erwartungen und Ambivalenzen (weder Trennung noch Neuanfang). Unerfüllte und auch unrealistische Erwartungen, Konflikte im Verhältnis der Generationen, Schuldgefühle bei den transnationalen Müttern können den Altruismus verstärken (Aufopferung) und einer gesunden Selbstliebe im Weg stehen (Fallbeispiele).

6. (Auf-)Brüche und Potenziale der Identitätsbildung (38 Seiten). Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Identitätsbildung werden aufgezeigt: Die Erschütterung der Identität durch die Migration, der darauf folgende Rückzug, die Fähigkeit ›Identitätssplitter‹ zu einer neuen und veränderten Identität in einem psychoanalytischen Prozess des Durcharbeitens von Trennung und Verlust – einzeln und in der Gruppe – zusammenzufügen. Hilfreich scheint das Konzept der »kulturellen Zwischenwelten« zu sein, das einen spielerischen Übergangsraum (Hettlage 1989) bereitstellt, in dem sowohl Platz für das Alte als auch für das Neue ist (›intermediärer Raum‹ nach Winnicott 1987). In diesem Raum kann eine graduelle Desillusionierung stattfinden, Desorientierung, Verlust und Trauer bearbeitet, eine reflektierte Neubestimmung der eigenen Identität (kulturelle Transformation) und kreativ eine bikulturelle Selbstverständlichkeit als neue Identität erworben werden. In der postindustriellen Gesellschaft des Neoliberalismus finden nicht nur Überschreitungen von Landes-, sondern auch von kulturellen Grenzen statt, ein Prozess der nicht nur Migranten sondern auch die Bürger der Aufnahmeländer betrifft.

7. Abschließende Betrachtungen (8 Seiten). Ohne einen Trauerprozess können Verluste nicht verarbeitet werden. Dessen Ausgang ist abhängig von früheren Erfahrungen, von den Möglichkeiten von Übergangszeiten und Übergangsräumen, in denen dieser Prozess stattfinden kann. Enge Verbindungen zur Herkunftsfamilie können sowohl einer Verarbeitung im Weg stehen als auch diese unterstützen und, insbesondere für Frauen, aber auch Freiheits- und Autonomieräume öffnen oder verschließen.

Literaturhinweise (14 Seiten)

Diskussion

Das Buch greift ein aktuelles Thema aus frauenspezifischer Perspektive auf, das auch in Zukunft wichtig sein wird, da die Arbeitsmigration in der Bundesrepublik anhalten wird und Versäumnisse frühere Jahrzehnte nicht wiederholt werden sollten. Es regt an zum Nachdenken, wobei das umfangreiche Literaturverzeichnis Differenzierungen und Vertiefungen ermöglicht. Es zeigt vor allem kritisch auf, wo Handlungsbedarf – in der Tradition von Horst-Eberhard Richter – auch außerhalb des psychoanalytischen Settings besteht.

Die Fallbeispiele zeigen, was nicht anders zu erwarten war, das ›jeder Fall individuell ist‹ und als solcher auch gesehen und anerkannt werden muss, wenn es um die innere Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen geht. Gerade deshalb sind Selbst-Erfahrungsräume – einzeln oder in der Gruppe – wichtig, die – konzipiert nach den Erkenntnissen der Psychoanalyse über Trauerprozesse – eine Verarbeitung und einen Neuanfang möglich machen. Das spezifisch Weibliche schien mir in Bezug auf die Herkunftskulturen verständlich, allerdings mit dem Zusatz, dass auch das spezifisch kulturell geprägte Männliche ebenfalls Konflikte schafft und zu spezifischen Widerständen und Flucht in eine regressive Verarbeitung führen kann; zu wünschen wäre eine Veröffentlichung, die sich auch diesem Thema widmet.

Fazit

Ein wichtiges, aktuelles Buch, das nicht nur informiert, sondern auch engagiert Handlungsspielräume aufzeigt. Es gehört in die Bibliothek einer jeden Fachhochschule für Sozialarbeit und in Ausbildungseinrichtungen für Erzieher, Lehrer und Psychologen und in die Hand von Journalisten, die im öffentlichen Raum Einfluss auf politische und gesellschaftliche Diskussionen nehmen.

www.socialnet.de

zurück zum Titel