Rezension zu Die Begegnung der Subjekte
Psychoanalytische Familientherapie, Zeitschrift für Paar-, Familien- und Sozialtherapie, Nr. 32, 17. Jg., 2016, Heft 1
Rezension von Burkhard Brosig
In den letzten 25 Jahren haben sich bedeutsame Änderungen der
psychoanalytischen Theoriebildungen ergeben, die unter dem
Stichwort der »relationalen Perspektive« der Psychoanalyse
zusammengefasst werden können. Diese betreffen Konzeptualisierung
der klinischen Situation, daraus abgeleitet das Verständnis der
Interaktion im analytischen Setting und in der analytischen
Begegnung insgesamt. Dieses veränderte Verständnis therapeutischen
Verstehens und Handelns führt wiederum, ein Charakteristikum
psychoanalytischen Denkens, zu einer Modifikation der
analytisch-therapeutischen Technik.
Peter Potthoff und Sabine Wollnik legen ein Sammelwerk »zur
relationalen Psychoanalyse« vor, das mit dem literarisch
klingenden, Emotionen weckenden Titel »Die Begegnung der Subjekte«
überschrieben ist. Sammelwerke stellen immer ein Risiko dar, weil
hier die Gratwanderung zwischen inhaltlicher Stringenz und
konzeptueller Klarheit einerseits, wie sie idealerweise von einem
einzelnen Autor oder einem Autorenpaar realisiert werden kann, und
der facettenreichen Darstellung eines Themenfeldes andererseits,
bei dem die Arbeit einer Gruppe von Autoren höchst angemessen wäre,
besteht. Die Gefahr dabei ist, eklektizistisch einfach Perspektiven
anzuhäufen und dabei das Verbindend-Verdichtete zu
vernachlässigen.
Potthoff und Wollnik ordnen die eingeworbenen Beiträge in zwei
Abschnitte, der erste Teil wird mit »Theoretische Grundlagen«
überschrieben und gliedert sich wiederum in frühe Beiträge zur
relationalen psychoanalytischen Theorie (»Die Vorläufer«) und
aktuelle Beiträge (»Zeitgenössische Ansätze«).
Bernhard F. Hensel beschreibt die Wurzeln der relationalen
Psychoanalyse, wobei er insbesondere das Werk von W R. D. Fairbairn
für dieses Konzept hervorhebt. In Fairbairns Werk entstehe eine
Verschiebung des theoretischen Schwerpunkts, weg von der
Triebtheorie, hin zu einer » radikalen Darstellung von
Relationalität«. Hensel zitiert hier Fairbairn (1946) mit den
Worten: »(D)ie Entwicklung von befriedigenden guten
Objektbeziehungen ist das eigentliche libidinöse Ziel« (S. 15).
Diese Grundpositionen zwischen Trieb und Objekt werden von Hensel
in der Sprache Fairbairns permutiert, wobei ein betont klinisches
Bild der Psychoanalyse entsteht, weit weg von einer an
intellektueller Selbsterkenntnis orientierten Psychoanalyse der
Deutungen. Nach Hensel geht es in Fairbairns Werk um eine
Aussöhnung mir dem Hass und der Destruktivität, die in »bösen«
Objekterfahrungen gründen, um eine Milderung der Schuldgefühle, um
die Anerkenntnis der Realität, die in der Arbeit mit der
therapeutischen Beziehung von der Übertragungsbeziehung zur
Realbeziehung allmählich facettenreicher wahrgenommen wird.
Regina Klein untersucht die Tradition der deutschsprachigen
Psychoanalyse auf Elemente des Relationalen hin, auf theoretische
Ansätze, die die Isolation des psychischen Apparates, der
»abgeschlossenen Psyche« durch Metaphern des relationalen Feldes
ersetzten.
Dabei betrachtet sie die Theoriebildungen der Frankfurter Schule um
Theodor Adorno, Max Horkheimer und Alexander Mitscherlich sowie
Hermann Argelander und Alfred Lorenzer bezüglich der Elemente des
Relationalen in ihren konzeptuellen Formulierungen. Auf diese Weise
entwickelt sich eine spannende Auseinandersetzung darüber,
inwieweit die Elemente des szenischen Verstehens, die insbesondere
Hermann Argelander differenziert beschrieben hat, relationaler
Natur seien:
»Diese sehr spezielle Form der Interaktion schafft für den
Analysanden (das Kleinkind) eine einzigartige, eigene Welt mit
ihrem spezifischen affektiven Klima. Der Zyklus Aktion - Reaktion -
Aktion ist es, der den Analysanden (das Kleinkind) befähigt,
Schritt für Schritt bedeutungslose Wahrnehmungen (Reize) in
Bedeutung eröffnende Erlebnisse (Signale) umzuwandeln« (Argelander,
1968, S. 325, zit. auf S. 29).
Auch in Alfred Lorenzers Arbeit sei das Szenische ein zentrales
Moment der Theoriebildung, in dem Subjekt und Objekt, Innen und
Außen, Individuum und Gesellschaft in einer Form »praktischer
Intersubjektivität« eingebettet sind und in ein miteinander
geteiltes szenisch-relationales Bezugsfeld eintreten.
Szene wird damit also zum Leitmotiv, zur intersubjektiv gemeinten
zentralen Denkfigur, die verschiedene Theoretiker der Frankfurter
Schule letztlich verbinde und die Interdisziplinarität dieser
philosophisch-soziologisch-klinisch-psychoanalytischen Tradition
charakterisiere.
Peter Potthoff gelingt in seinem Abriss der relationalen
Psychoanalyse eine präzise Beschreibung der relationalen
Essentials, beginnend mit Sullivan und Fairbairn in den 1950er
Jahren. Dabei werden die unterschiedlichen, im englischsprachigen
Raum bedeutsamen psychoanalytischen Gruppierungen in Bezug auf das
Relationale beschrieben. Spannend wird der Beitrag, nach seinem
historischen Abriss, wenn Potthoff die zentralen Theoriekonstrukte
der relationalen Psychoanalyse herausarbeitet, wobei ihn
insbesondere das Wechselspiel zwischen verinnerlichten und äußeren
Beziehungen beschäftigt. Es wird eine dynamische, sich ständig
entwickelnde »relationale Matrix« postuliert, die klinisch das
Medium der Veränderung darstelle. Im Gegensatz zu klassischen
psychoanalytischen Modellen ergebe sich also keine autochthone,
sich unabhängig von der Person des Analytikers entwickelnde
Übertragung, die dann nurmehr »korrekt« gedeutet werden müsse,
sondern es steht die Tatsache im Vordergrund, dass in Übertragung
und Gegenübertragung eine Matrix darstellbar sei, die von beiden
Beteiligten, also dem Patienten wie dem Analytiker, inszeniert
werde und in Abhängigkeit der Dispositionen beider
Interaktionspartner geschaffen werde. Dabei entsteht eine
symmetrische Beziehung: Der Analytiker sei kein Spiegel sondern
Co-Autor der gemeinsamen Analysegeschichte. Das sind spannende,
aufregende Sätze, die zum zweiten zentralen Element der
relationalen Theorie überführen, der »Bedeutung der ›neuen‹
Objekterfahrung«. Sind Patient und Analytiker Autoren einer
gemeinsamen Analysegeschichte, so öffnet sich der theoretische
Rahmen dahingehend, dass in dieser besonderen Beziehung etwas
genuin Neues Platz findet.
Vor dem Hintergrund dieser beiden zentralen Theorieelemente,
symmetrische Interaktion und neue Erfahrung, wird diese Interaktion
ein »normaler« Bestandteil der Analyse; so können die Phänomene des
Traumas und des Enactments neu formuliert und eine veränderte Rolle
des Psychoanalytikers beschrieben werden.
Spannend wiederum ist auch der Beitrag von Isolde Böhme, die die
»Wissenschaft von der Begegnung der Subjekte« auf dem theoretischen
Hintergrund der britischen Objektpsychoanalyse um Melanie Klein und
Wilfred Bion untersucht. Sie geht dabei, dem italienischen
Analytiker Ferro folgend, von der Annahme aus, es gäbe nur drei
ernstzunehmende psychoanalytische Schulen, die von Freud, Klein und
Bion. Dabei gerinnt jedoch ihre Analyse der theoretischen
Bezugssysteme oft in einer bloßen Exegese psychoanalytischer Texte
um die zentrale Figur von Wilfred Bion herum, was mir zwar als
schulenspezifisch vorkommt, jedoch für Leserinnen, die dieser
klinischen Tradition weniger loyal gegenüberstehen, schwierig zu
ertragen ist.
Im zweiten Abschnitt, dem der »Praxisfelder«, sticht insbesondere
die Arbeit von Hans-Jürgen Wirth über Familientherapie als
relationale Psychoanalyse heraus, weil er überzeugend darstellen
kann, dass die psychoanalytische Familientherapie eine natürliche
Ausdrucksform relationaler Theoriebildung und klinischen Praxis
darstellt. Wirth charakterisiert die Gießener Tradition
psychoanalytischen Denkens, die von der Erfahrung im sozialen Feld
geprägt ist und sich immer als politisch verstanden hat. Das
Wechselspiel von innerer Welt und äußerer Realität werde
insbesondere in der psychoanalytischen Familien- und Sozialtherapie
verwirklicht. Es kommt dabei zu einer Abgrenzung von einer
Psychoanalyse der inneren Instanzen, wie sie etwa, so der Autor,
von Melanie Klein repräsentiert werde.
Heribert Blaß beschreibt in seinem Aufsatz zur Psychoanalyse der
Supervision einen interpersonalen Raum, den es in der
supervisorischen Praxis zu eröffnen gelte. Dabei werden unbewusste
Anteile, die in Übertragung und Gegenübertragung zwischen der Dyade
Patient-Analytiker im Sinne eines Parallelprozess entstehen, gegen
ein zweites Phänomen abgewogen, den Bereich von real-konkreten
interpersonellen Konflikten zwischen Supervisand und
Supervisor.
Es folgen Aufsätze zur Anwendung intersubjektiven Denkens in der
Körperpsychotherapie, in der Gruppenanalyse und in der
mentalisierungsbasierten Psychotherapie.
Johann August Schülein beleuchtet das klinische Konzept der
Intersubjektivität aus der Perspektive der Soziologie. Er sieht
eine Dialektik zwischen sozialen und psychodynamischen Prozessen.
Zwar sei die Mikrosoziologie gut beraten, dynamische Prozesse in
der Konzept-Formulierung zu berücksichtigen, umgekehrt verlangt
Schülein jedoch von der Psychoanalyse auch eine klare Einbeziehung
der sozialen Prozesse mit ihren inhärenten Konflikten.
Insgesamt bietet das Buch einen guten Überblick über den
intersubjektiven Zugang zur psychoanalytischen Theoriebildung und
deren Anwendung in verschiedenen klinischen Feldern. Die Hinwendung
zur Intersubjektivität öffnet die psychoanalytische Theoriebildung
auch auf mikrosoziologische Themen hin, etwa in der
Familiensoziologie und der Soziologie kleiner Gruppen. Sie macht
die Psychoanalyse wieder sensibler für soziale Umgebungsfaktoren,
Macht und Ohnmacht in sozialen Beziehungen sowie für
Statusunterschiede in der Begegnung der Subjekte.
Das Kaleidoskopartige des Sammelbandes erzeugt bei der Lektüre,
ausgelöst durch die sehr unterschiedlichen Zugänge zum Konzept der
Intersubjektivität, allerdings auch ein »Wechselbad der Gefühle«:
Die Lektüre ist oft bereichernd, streckenweise aber auch durch die
unterschiedliche Lesbarkeit der Beiträge anstrengend.
Der zweite, gravierendere Kritikpunkt an der theoretischen
Ausformulierung dieser »Begegnung der Subjekte« berührt die
Konstruktion der klinischen Situation in ihrer Beziehung zum
Unbewussten. Gerade Peter Potthoffs faszinierende Formulierung von
Analyse an und Analytiker als Co-Autoren des klinischen Narrativs
konstituiert, positiv betrachtet, eine stärker egalitäre Beziehung
als dies in der klassischen Psychoanalyse formuliert worden wäre.
Umgekehrt verkürzt diese Formulierung der klinischen Begegnung die
»talking cure« um ihre unbewusste Dimension, indem sie die beiden
Beziehungspartner ihrer unbewussten Rollenübernahmen beraubt.
Psychoanalyse ist eben nicht eine Begegnung der Subjekte, sondern
eine Subjekt-Objektbeziehung, die durch unbewusste Determinanten
geprägt ist. Gerade das gefeierte »Neue« und »Reale« in der
psychoanalytischen Begegnung kann ja konzeptuell nur entstehen,
wenn man den unbewussten Hintergrund dieser Begegnung verleugnet.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fragt man sich nun, wie
banal die Konzeptualisierung der klinischen Begegnung als Begegnung
der Subjekte eigentlich ist. Natürlich begegnen sich Analytiker und
Analysand auch in ihren jeweiligen Lebensrealitäten. Die
Psychoanalyse ist einmal angetreten, indem sie diese konkrete
Begegnung um die unbewusste Dimension und deren szenische
Ausgestaltung im therapeutischen Rahmen vertieft hat. Den Autoren
gerinnt dabei die Darstellung einer »sogenannten klassischen
Analyse« zu einer Karikatur deutender Intellektualität.
Wenn ich dennoch für die Lektüre dieses Buches plädiere, so aus der
Perspektive heraus, dass die Frage nach der sozialen unbewussten
Konstruktion der psychoanalytischen Beziehung nochmals neu gestellt
wird, die unbewusste Dimension entzaubert und die Klinik der
psychotherapeutischen Begegnung mit großer Ernsthaftigkeit
dargestellt wird.