Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers

Psychoanalyse & Körper, Nr. 32, 17. Jahrgang (2018), Heft 1

Rezension von Robert C. Ware

Tiefsinnig und spannend zugleich führt uns Tilmann Moser in die zum Teil schweren Störungen der HeldInnen von sieben Romanen und einem Theaterstück ein: Fred Uhlmans »Der wiedergefundene Freund« (1988), Wilhelm Genazinos »Ein Regenschirm für diesen Tag« (2001) und »Das Glück in glücksfernen Zeiten« (2009), Samuel Becketts »Warten auf Godot« (1952), Philip Roths »Empörung« (2009), Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelineks »Die Klavierspielerin« (1983) und Charlotte Roches »Feuchtgebiete« (2008) und »Schoßgebete« (2011). Moser, Jahrgang 1938, hat Philologie und Soziologie studiert und sich nach der Promotion in Gießen zum Psychoanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main ausbilden lassen. Selbst ein Vielschreiber – seine Homepage zählt unter »wichtigsten Publikationen« 40 Buchveröffentlichungen auf – hat er auch die Lesererfahrung gemacht, dass Romanciers häufig viel sensibler und differenzierter die Wehen und Wonnen ihrer Charaktere darstellen, als dies in den kasuistischen Fallbeispielen durch psychotherapeutische Fachpersonen gelingt.

Zum Vergleich: Der Psychiatrieprofessor und Psychoanalytiker Irvin D. Yalom bemüht das Romangenre, um grundlegende seelische Konflikte und die großen Themen der psychoanalytischen Psychotherapie darzustellen. Seine Romane sind Bestseller: »Krankengeschichten in Romangestalt«. Moser geht den umgekehrten Weg und betrachtet aus bald 40-jähriger Erfahrung als leib fundierter psychoanalytischer Psychotherapeut die »Romane als Krankengeschichten«. Seine klinischen Beobachtungen bieten Literaturliebhabern und praktizierenden Psychotherapeuten eine feinfühlige Einschärfung der Sinne für die oft schwer- bis unverständlichen und emotional überwältigenden Nöte von psychisch Leidenden. Moser: »In den letzten Jahren habe ich durch die Lektüre ausgewählter Romane mehr über die Nöte meiner Patienten gelernt als durch wissenschaftliche Abhandlungen über ›frühe Störungen‹« (S. 9). Bei Moser erlebt man einen fachkundigen, mitfühlenden, gar betroffen teilnehmenden Beobachter an romanhaften Lebens- und Krankengeschichten, die er wortmächtig kommentiert.

Moser referiert die Psychoanalytikerin Christa Hoffmann (»Die Bedeutung einer Romanfigur als unsichtbarer Begleiter einer psychoanalytischen Behandlung«, Psyche, 63, 2009, 429–454), die den Zugang zum Innenleben eines extrem schwierigen Patienten erst durch die Lektüre von Genazinos »Ein Regenschirm für einen Tag« fand (S. 25). Bis dahin litt sie verzweifelnd unter der ganzen Fremdheit und Einsamkeit ihres Patienten, der sie mit schwadronierender Nicht-Kommunikation überflutetet hatte. Bei Genazino erlebte sie, wie der Autor genau einen solchen Menschen beschreibt ›und versteht‹. Hoffmann stellte fest, »dass die Romanfigur mehr Wirklichkeit für mich hätte als mein Patient« (S. 27), und erlebte dadurch – mit Daniel N. Stern gesprochen – einen »Moment der Begegnung«, der ihr einen gewährenden empathischen Umgang mit ihrem Patienten ermöglichte.

»Christa Hoffmann hat ihrem Patienten (...) einen Raum des inneren Rückzugs gewährt, zusammen mit ihrer fühlbaren schweigenden Präsenz, der ihm eine allmähliche Rückkehr zu sich selbst erlaubte, und in dem er authentische Worte fand anstelle eines alles vernebelnden unechten Redens« (S. 43).

Somit wird ein Romanprotagonist zu einem entscheidenden »Dritten der Zwei«, ein stiller Beobachter und Zuflüsterer des Therapeuten in der Einsamkeit und Verlassenheit manches therapeutischen Engpasses »zwischen emotionaler Vereinnahmung und reflektierender Distanzierung« (S. 13). Bei der Mehrzahl der von Moser besprochenen Werke weisen seine »psychoanalytisch-diagnostische Mutmaßungen« (S. 40) auf eine Borderline-Störung oder auf borderline-ähnliche Zustände hin. Dies gilt insbesondere für die Romane von Jelinek und Roche, mit 26 bzw. 38 Seiten die ausführlichsten Kapitel dieses schmalen Bandes. In beiden Romanen stellt er zwar autobiografische Züge der Autorinnen fest, aber prinzipiell distanziert er sich davon, AutorInnen mit den Hauptfiguren ihrer Romane zu identifizieren. Hinter dem vordergründigen extremen sexuellen Masochismus von Jelineks mutterbesessener Erika, die Titelfigur des Romans, deckt Moser als zentrales Thema die dauernd umspielte Todessehnsucht auf, die in der Nicht-Beziehung zwischen Mutter und Tochter wurzelt und spiegelbildlich zwischen Erika und ihrem Nicht-Liebhaber Klemmer dargestellt wird. Jelinek: »Diese Liebe ist im Kern Vernichtung« (S. 84), und Moser: »Erikas Schicksal ist ein fast totaler Selbstverlust« (S. 87). Überzeugend belegt er: »›Die Klavierspielerin‹ ist ein Racheroman, und die Vorgänge werden poetisch meisterhaft ins Groteske übertrieben, aber sie verlieren dabei nicht ihre exemplarische Stimmigkeit« (S. 88). Innere Leere, Machtgier, Ekel und Verachtung (»zur Stabilisierung des bedrohten Selbstwertgefühls«, S. 91), sadomasochistische Sexualität; all diese Grausamkeit berechtigt Moser zur Überschrift des Kapitels: »Lebensunwertes Leben - oder: Das Scheitern der Liebe«.

Noch grotesker geht es für Moser in den beiden »Ekel«-Romanen von Charlotte Roche zu. Mit ihrem Erstlingsroman »Feuchtgebiete« landete die dreißigjährige Autorin das meist verkaufte Buch des Jahres 2008 in Deutschland und den ersten deutschsprachigen Titel, der es auf den ersten Platz von Amazons internationaler Bestsellerliste schaffte; es wurde mehr als eine Million Mal verkauft und stand mehr als sieben Monate an der Spitze der Literatur-Charts. Seit August 2013 läuft die Verfilmung im Kino. Laut der Autorin ist das Buch zu 70% autobiografisch (Wikipedia). Provokant behandelte Themen sind Analverkehr, Intimhygiene, Masturbationstechniken, Intimrasur und Prostitution, insgesamt (laut Moser) »sexuelle Verwahrlosung«. Über 38 Seiten belegt er detailliert und fachlich gekonnt sein »(d)iagnostisches Urteil: eine schwere Borderline-Störung der Heldin. Persönliches Urteil: ein menschliches Ekel« (S. 96). Zum Schluss zitiert er allerdings ausführlich und zustimmend den Frankfurter Psychoanalytiker Thomas Ettl (»Feuchtgebiete« oder die Wiederkehr des Leibes. Psychoanalyse Aktuell 2008: www.psychoanalyse-aktuell.de), der den Roman als Zeitzeugnis würdigt, »als Protest gegen den Schönheits- und Hygienewahn« (S. 131 - Zitat Ettl). »Helen leidet an einem komplexen Trauma« (Ettl), »das Trauma der Überwältigung des Kindes, das zu dem »sadomasochistischen Umgang mit dem eigenen Körper« führte« (S. 132). Moser schließt mit einem Ettl-Zitat:

»Als depressive, suizidale Mutter dürfte (Helens Mutter) jedoch emotional eher abwesend gewesen sein. Deshalb wendet sich Helen extensiv dem eigenen Körper zu. Sie nimmt ihn als Ersatz für die fehlende Mutter. Helen flüchtet sozusagen vor einer objektlosen Depression zum Körper und idealisiert die lustbringenden Feuchtgebiete als Fluchtgebiete. (...) Der Roman ist eine lehrbuchreife Fallgeschichte, die ins Regal der Psychotraumatologie gehört« (S. 132f.).

Psychotherapeutisch relevante gesellschaftskritische Aspekte klingen wie eine Zeitdiagnose an, etwa bei Wladimir und Estragon in »Warten auf Godot«: »krampfhaftes Suchen nach »Entspannung, Ablenkung, Zerstreuung« – Reaktionen von aus realen Beziehungen herausgefallenen Wesen, die versuchen, sich wenigsten noch ein bisschen selbst zu spüren« (S. 50). Oder bei Elisabeth, der Heldin von »Schoßgebete«: »Kluge Soziologen haben längst bemerkt, dass neben der Sucht nach Sex, Geld und Macht der Kampf um Aufmerksamkeit unsere moderne Gesellschaft charakterisiert« (S. 124). »Bei Elisabeth ist der Schrei nach der frühen Mutter unverkennbar« (S. 125). Triebfeder der »Schoßgebete« einer ganzen Gesellschaft, könnte man mutmaßen, ist die ins Pathologische verdrehte Sehnsucht nach fehlender elterlicher Aufmerksamkeit, Anerkennung und Liebe, die ersatzweise in den Fluchtgebieten lustbringender »Feuchtgebiete« oder aber in sinnloser gesellschaftlicher Aggressivität und zerstörerischer Wut ausgetragen wird.

Im Zusammenhang mit Elisabeths Psychoanalyse stellt Moser dann die Frage, wie real die in Romanen beschriebenen Psychotherapien und Psychotherapeuten zu bewerten sind. Es ist zugleich die Frage der »therapeutische(n) Vergeblichkeit« (S. 124). Unbewusst suchen viele PatientAinnen einen Therapeuten, dessen Methode ihren Status quo festigt und legitimiert – so auch Elisabeth: »Ich benutze meine Therapeutin und die Therapie als Müllhalde« (ebd.). Hier rächt sich in der Wiederkehr des Verdrängten der Missbrauch und die Frustration des frühkindlichen Lustprinzips. Wie oft – so die Klagen vieler KollegInnen – bestehen Therapiesuchende auf der sofortigen Befriedigung früher Bedürfnisse und Wünsche ohne Leiden und ohne Eigenleistung.

Mosers Büchlein ist eine Schatztruhe an erlebnishafter Kasuistik. Sinnenschärfend erschließt er in der Literatur einen hervorragenden Zugang zur empathisch nacherlebenden Identifikation und zur kritischen Desidentifikation mit menschlichen Nöten und menschlichem Makel, die oft im klinischen Alltag so verwirrend unverständlich, ja gar so unerträglich mäkelnd daherkommen.

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