Rezension zu Gesamtausgabe in 23 Bänden (SFG)

Swiss Archiv of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy, 2018;169(02):63–64

Rezension von Joachim Küchenhoff

Zu berichten ist über die drei zwischen 2015 und 2017 erschienenen Bände 5, 6 und 7 der Sigmund Freud Gesamtausgabe (SFG), die Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfaß besorgt, und dies es den Leserinnen und Lesern ermöglicht, das grosse Werk von Sigmund Freud neu zu entdecken und in der exakten Chronologie und dem ursprünglichen Textformat der Erstausgabe studieren zu können. Am Ende jeden Bandes findet sich eine kleine Konkordanz, die aufzeigt, welche Schriften in die gesammelten Werke, andere Ausgaben oder in die Studienausgabe aufgenommen und welche ausschliesslich in der SFG neu gedruckt worden sind. Das «Abenteuer Freud» liegt nicht zuletzt in der durch den Aufbau der SFG geschaffenen Möglichkeit, der Freud’schen Werkbiographie, Freuds intellektuellen Entwicklungen, seinem nie endenden Fleiss und der konsequent durchgehaltenen Denkarbeit lückenlos folgen zu können. Kurze bibliographische und biographische Vorbemerkungen ordnen die Texte in Freuds Lebens- und Werkgeschichte ein. Die Rechtschreibung ist beibehalten, sie wurde nicht stillschweigend modernisiert; aber dies macht die Lektüre an keiner Stelle mühsamer, vielmehr wirkt sich diese glückliche editorische Entscheidung belebend aus und erhöht die Faszination beim Lesen.

Was nun finden wir in den drei neuen Bänden? Zu Beginn des 5. Bandes lernen wir einen ganz anderen Freud kennen, nämlich den Protokollanden der «Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Abteilung für Psychiatrie und Neurologie». Abgesehen davon, dass der Inhaltsreichtum und die Ausführlichkeit der Protokolle im Vergleich zur Abstract-Kultur unserer Gegenwart nachdenklich stimmen, tauchen wir unerwartet und plötzlich in die Fachdiskussion des Jahres 1895 ein. Dabei begegnen wir psychiatriegeschichtlich namhaft gebliebenen Personen wie Forel, von Monakow oder Alzheimer, wir befassen uns mit keineswegs abgegriffenen Fragen, zum Beispiel nach einer «kritischen Psychiatrie», hier gemeint einer Psychiatrie auf den Spuren Immanuel Kants, die Max Herz entfaltet hat und die zu Kontroversen über die Nutzen der Philosophie für das Fach Psychiatrie führt. Anders als in den ersten Bänden enthält Band 5 nur noch wenige Rezensionen. Freud hat nun seine Berufung und den Themenkreis gefunden, der ihn zeitlebens beschäftigen wird, auf ihn wird er seine Schaffenskraft konzentrieren.

Die kleine, aber höchst bedeutsame Arbeit «Ueber die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als ‹Angstneurose› abzutrennen», zeigt uns einen Freud, der einerseits seine neuen psychopathologischen und psychodynamischen Erkenntnisse, die Angstneurose betreffend, selbstbewusst mitteilt, der aber genau zu beurteilen weiss, dass die Überlegungen dieses Textes nicht Ziel- und Endpunkt, vielmehr einen Meilenstein im eigenen Denken bedeuten. Das Verhältnis zwischen den seelischen Prozessen und den somatischen Vorgängen, zwischen der sexuellen Erregung und der Angstentwicklung werden reflektiert. Die Angst, die sich auf Ereignisse der Aussenwelt richtet, wird mit der Angst als Reaktion auf die unbewältigte innere Erregung verglichen. Die Bedeutung des gehemmten sexuellen Erlebens, die Blockade also der später oft zitierten «spezifischen Aktion», wird in dem Text ernstgenommen, konzeptuell und klinisch in seiner Bedeutung zu erfassen versucht.

Freud beschäftigt sich zu dieser Zeit aber nicht nur mit der Angstneurose, sondern auch mit anderen Symptomenkomplexen, den Zwangsvorstellungen, der Hysterie und der Phobie und schickt sich an, sie in ihrer seelischen Dynamik zu verstehen. Die Texte «Mechanismus der Zwangsvorstellungen und Phobien», «Zur Kritik der Angstneurose», «Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen», «Zur Aetiologie der Hysterie» zeugen in diesem Band davon. Ein spezielles Fundstück soll nicht unerwähnt bleiben. In allen anderen Ausgaben nicht enthalten ist die merkwürdige Notiz «Ueber die Bernhardt’sche Sensibilitätsstörung am Oberschenkel», in der sich Freud auch in neurologischer Hinsicht zum eigenen Objekt einer Fallstudie macht.

Band 6 beginnt mit der von Freud selbst erstellten Inhaltsangabe der bisher vorgelegten eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Auf diese Weise hat der Leser in kürzester Form eine – auch heute lesenswerte – Übersicht über das bisher erarbeitete Werk. Am Ende des Bandes finden sich kurze Schriften zu den Themen der «Sexualität in der Aetiologie der Neurosen», «Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit» und «Ueber Deckerinnerungen». Ansonsten ist der Band aber bestimmt durch die Monographie zur «Infantilen Cerebrallähmung». Das editorische Vorgehen ist konsequent und nur zu begrüssen, hier aber offenbaren sich seine – unvermeidbaren – Schattenseiten: Die Herausgeber wollen sämtliche Werke dem interessierten Leser zur Verfügung stellen. Dabei waren aber die Inhalte der neurologischen Studien zur Cerebrallähmung in den Bänden 3 und 4 der SFG bereits weitgehend enthalten. So ist der Band 6 vor allem für spezielle bibliobiographische Forschungsfragen interessant.

Band 7 wird die Leserinnen und den Leser umso mehr beschäftigen, enthält er doch eines von Freuds Hauptwerken, nämlich die «Traumdeutung», die im November 1899 erschien, aber aufs Jahr 1900 vordatiert wurde. In der Gesamtausgabe wird die erste Auflage abgedruckt, die weiteren Auflagen dem Leser aber in elektronischer Form bereitgestellt. Das 7. Kapitel «Zur Psychologie der Traumvorgänge» wurde zum Ausgangspunkt zahlloser wissenschaftstheoretischer Diskussionen in den letzten 117 Jahren, weil dort Kernelemente der psychoanalytischen Metapsychologie versammelt sind, die sich nicht nur auf den Traum beziehen, sondern Konzepte der Regression, des Primär- und Sekundärvorgangs, das Verhältnis von Unbewusstem, Bewusstem und Realität oder von Wahrnehmung und Motorik beschreiben. Aber nicht nur das 7. Kapitel bleibt lesenswert, alle vorangehenden Kapitel sind eine unerschöpfliche Fundgrube theoretischer Gedanken, intertextueller Bezüge, persönlicher Mitteilungen; sie sind ebenso beispielreich anschaulich wie wissenschaftlich konsequent geschrieben und gut lesbar in der klaren, differenzierten Sprache Freuds.

Buchlektüren bleiben auch im Zeitalter des Internets sinnliche Erlebnisse. Die Bände der SFG sollen lange Zeit im Bücherschrank überdauern, sie sollen sich fürs schnelle Nachlesen und die intensive Lektüre gleichermassen eignen, müssen also strapazierfähig sein und Unterstreichungen ebenso wie häufigen Gebrauch gut vertragen. Die Schrift muss leicht lesbar sein, das Exemplar gut in der Hand liegen. Über all die Eigenschaften eines guten Buches verfügen die Bände des SFG. Der Leser oder die Leserin wird jeden Band gerne zur Hand nehmen, sich in ihn verlieren und vertiefen. Dem Psychosozial-Verlag und dem Herausgeber ist sehr zu danken, dass sie auf diese Weise das «Abenteuer Freud» ermöglichen, dass sie die Texte, die manchem als wissenschaftsgeschichtlich abgelebt erscheinen mögen, neu verlebendigen und die Freud-Lektüre tatsächlich zu einem Abenteuer werden lassen. Der Psychosozial-Verlag bewahrt so das gesamte wissenschaftliche Werk Freuds und erhält es auf lange Zeit zugänglich.

www.sanp.ch

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