Rezension zu Unheimlich und verlockend

www.socialnet.de vom 15. Februar 2018

Rezension von Uwe Sielert

Thema

Die Beiträge des Sammelbands bearbeiten zahlreiche Facetten von Kinder- und Jugendsexualität zwischen den Polen »unheimlich und verlockend«. Es geht also um sexuelle Erfahrungen, die von Kindern und Jugendlichen als lustvoll aber auch als bedrohlich erlebt werden und die bei pädagogischen Fachkräften einen bewussten Umgang mit Verunsicherungen, Tabus, Ängsten und Mythen erforderlich machen.

Herausgeberinnen und Herausgeber

Herausgegeben wurde das Buch von Expert*innen des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytischen Pädagogik (FAPP):

• Prof. Dr. Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Gruppenanalytikerin und Supervisorin,
• Joachim Heilmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Mitarbeiter der Stiftung Waisenhaus in Frankfurt a.M.
• Ilse Weißert, Lehrerin in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung.

Aufbau und Inhalt

In ihrer Einleitung stellen die Herausgebenden ihren Sammelband in den gegenwärtigen Kontext der gesellschaftlichen Verunsicherung im Umgang mit sexuell relevanten Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen zwischen der Akzeptanz sexueller Vielfalt einerseits und umsichgreifender Moralpanik andererseits. Es ist kein Buch über Missbrauch, auch nicht eine Zusammenstellung empirischer Studien, sondern enthält theoretische Beiträge, themenzentrierte Analysen und qualitative Studien über das Schillernde und Verwirrende der Thematik.

Thilo M. Naumann beschreibt, wie sich die gesellschaftlich dominante Heteronormativität auf die kindliche Entwicklung auswirkt und welche Konsequenzen das für die Pädagogik haben sollte. Sehr nachvollziehbar wird erläutert, wie sich das potentiell reichhaltige sexuelle, auch geschlechtliche Innenleben von Menschen verengt, wenn bestimmte Bedürfnisse und Kompetenzen im Außen keine Bestätigung oder gar Widerspruch finden. Für die Pädagogik heißt das, Räume für vieldeutige und flexible Konstruktionen sexueller Identität zu öffnen – ein voraussetzungsreiches Unterfangen.

Ilka Quindeau erklärt in Anlehnung an den französischen Psychoanalytiker Jean Laplanche wie Menschen das sexuelle Begehren durch die frühe Mutter-Kind-Beziehung erlernen. Ihre ›steile‹ und damit immer wieder Aufsehen erregende These lautet: »Weil ich begehrt werde, bin ich«. Ursache sind die »rätselhaften Botschaften« des unbewussten Begehrens der Erwachsenen, mit denen die Kinder von Anfang an konfrontiert werden. Das Leugnen dieses Begehrens der Erwachsenen und der infantilen Lust schränkt – so die konsequente Folgerung – auch einen effektiven Kinderschutz ein.

Bernd Niedergesäß bettet aktuelle Sexualitätsmuster in historische und vergleichende Diskurse. Erst die Bewusstwerdung dieser Kontexte ermöglicht das Verständnis aktueller Konflikte und befördert vor allem interkulturelle Kompetenz im Umgang mit eigenen und fremden Sexualitätsmustern. Die manchmal etwas trocken anmutenden Hintergrundinformationen werden durch ein praktisches Beispiel gerahmt und nachvollziehbar interpretiert.

Achim Schröder setzt sich mit den begrenzten Möglichkeiten von Sexualaufklärung auseinander. Der Beitrag unterbricht die vorangegangenen dichten ›Sexualisationsbeschreibungen‹ durch die Reflexion sexualpädagogischer Einflüsse. Er wirkt an dieser Stelle so, als müsste den pädagogisch interessierten Leser*innen die gerade entstandene Motivation zum kritischen-alternativen Handeln kräftig desillusioniert werden. Richtig ist, dass die entscheidenden Entwicklungsschritte sexueller Bildung von den Kindern und Jugendlichen selbst vollzogen werden müssen. Ob das jedoch genügend Begründung dafür ist, dass sich Sexualaufklärung auf vorrangig jene Prozesse beschränken muss, »die dem Verstande zugänglich sind« (S. 105), kann zumindest angezweifelt werden. Leider wird nicht thematisiert, dass es in den vielen pädagogischen Settings von sexueller Bildung sehr unterschiedliche Möglichkeiten der psychosexuellen Kompetenzvermittlung gibt, die bei ausreichend pädagogischem Takt auch intime Gefühle, Empfindungen und Erfahrungen bearbeitbar machen.

Anhand des Beitrags von Marga Günter geht es weiter mit den Perspektiven auf die psycho-sexuellen Entwicklungsphasen. Diesmal steht die Adoleszenz als »heißer Phase der Produktion von Geschlechtlichkeit« (Vera King) im Vordergrund, weil jetzt das Begehren des eigenen »aufdringlichen Körpers« im Geschlechtsrollenset kanalisiert wird. Leider liegt der Schwerpunkt des Beitrags nicht auf der Erklärung der bereits existierenden Varianten von Geschlechtsidentität, sondern stark auf den mangelnden Ressourcen und sattsam bekannten strukturellen Beschränkungen, die einen offenen Prozess der Vergeschlechtlichung erschweren.

Diese Lücke wird jedoch gefüllt durch Karin Flaakes Beitrag über »Junge Frauen, Adoleszenz und homoerotisches Begehren«. Auch hier lautet der Untertitel zunächst »Begrenzungen trotz erweiterter Handlungsmöglichkeiten«. Anhand der Autobiografie von Carolin Emcke und eines Videoprojekts mit Mädchen von Kristina Hackmann werden jedoch die subtilen Prozesse der Strukturierung auch abweichender Begehrensweisen sehr plastisch und analytisch präzise beschrieben.

Svenja Heck und Ursula Pforr & Ulrike Schaab geben in ihren beiden Beiträgen wesentliche Informationen und fachspezifische Erläuterungen zur Sexualität von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung sowie den Kinderwunsch bei Menschen mit geistigen Einschränkungen. Auch hier erweist sich die pädagogisch-psychoanalytische Zugangsweise als hilfreiches Instrument der subjektiv gehaltvollen und damit realitätsnahen Interaktionen zwischen allen beteiligten Akteuren.

Sehr hilfreich, weil bisher wenig dokumentiert, ist das ausführliche Fallbeispiel von Birgit Wieland über sexuell relevante Bindungs- und Trennungsängste einer fast volljährigen Heranwachsenden im stationären Bereich der Sozialarbeit. Detailliert und mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse präzise analysiert werden die Sexualbiografie einer ich-strukturell gestörten jungen Frau und der energieraubende Umgang der Professionellen mit den meist dramatischen Beziehungsaktionen der Klientin.

Ilse Weißert unternimmt in ihrem Text »Der Film Tomboy und die Auseinandersetzung mit sexuellen Identitäten« nicht nur eine aufschlussreiche Filmanalyse sondern beschreibt zugleich die Reaktionen und Auseinandersetzungen, die das im Film dargestellte Fallbeispiel einer jugendlichen transsexuellen Karriere wie auch die mediale Inszenierung bei einer Gruppe von Zuschauenden auslösen kann. Der Beitrag macht exemplarisch das pädagogisch-psychoanalytische Vorgehen deutlich, bei dem Beziehungen mit Hilfe der eigenen (reflektierten) Subjektivität verstanden werden können.

Das Buch endet mit dem Essay von Ulrike Heider zur zeithistorischen Auseinandersetzung um die Sexualität von Kindern vom gesellschaftlichen Diskurs um Freuds psychoanalytischen Thesen bis zur aktuellen Auseinandersetzung um die Bildungspläne und sexualpädagogische Materiealien zur sexuellen Bildung in der Gegenwart.

Fazit

Der Sammelband ist sowohl sexualwissenschaftlich als auch sexualpädagogisch besonders hervorzuheben, weil in ihm Beiträge zusammengetragen wurden, die das Unheimliche und Verlockende der Kinder- und Jugendsexualität auf eine stellenweise sehr intensive und plastische Art und Weise verdeutlichen. Das ist für die pädagogische Arbeit wesentlich hilfreicher als die Zusammenstellung quantitativ-empirischer Studien und ihre meist recht oberflächlichen Botschaften. Das Buch kann zusätzlich auch als Anregungsreservoire für gründliche empirisch-qualitative Studien dienen, die den subjektiv gelebten sexuellen Identitäten von Kindern und Jugendlichen auf die Spur kommen wollen.

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