Rezension zu Herausforderung Integration (PDF-E-Book)
www.socialnet.de vom 13. Februar 2018
Rezension von Wolfgang Berg
Thema
Immer wenn es um Immigration geht, ist das Zauberwort »Integration«
gleich zur Hand, so auch nach der Ankunft von Hunderttausenden
Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen. Die
sozialwissenschaftliche und gesellschaftspolitisch hoch brisante
Frage ist die, was »Integration« konkret bedeutet und wer damit zu
tun hat. Katholische und Evangelische Christen haben sich dafür in
Theorie und Praxis besonders engagiert.
Herausgeber
Dr. Siegfried Karl ist Studentenpfarrer und Dozent an der
Justus-Liebig-Universität Gießen, Hans-Georg Burger dort
Pressereferent und Publizist.
Autorinnen und Autoren
Insgesamt 25 Autorinnen und Autoren haben zu diesem Band
beigetragen. Sie vertreten die Institutionen im Umfeld, also die
Landesregierung, die Stadt Gießen, die Kirchen, die Hochschulen,
ebenso wie einzelne Dienste und Organisationen; dazu kommen
Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer u.a. aus dem Bereich der
Theologie und Politikwissenschaften.
Entstehungshintergrund
Die Katholische Hochschulgemeinde Gießen hatte zu ihrem
neunzigjährigen Bestehen zu einem Kolloquium »Herausforderung
Integration« eingeladen. Die meisten Grußworte, Berichte und
Vorträge des 12.11.2016 wurden überarbeitet und um etliche Artikel
ergänzt (Redaktionsschluss Juli 2017)
Aufbau
In diesem Band sind nach den Grußworten der Oberbürgermeisterin und
des Diözesanadministrators sowie der mit 25 Seiten ausführlichen
Einleitung insgesamt 18 Texte unterschiedlicher Sorten versammelt:
kurze politischen Statements von Bernhard Vogel (ehemaliger
Ministerpräsident) und Jo Dreiseitel (damaliger Staatssekretär in
Hessen), Interviews mit Experten, Stichpunkte oder
Erfahrungsberichte aus der (eigenen) Praxis, ausgefeilte
Abhandlungen, abschließend der Anhang zur Geschichte der KHG
Gießen, zuletzt (auf 10 Seiten) eine ausführliche Vorstellung aller
Autorinnen und Autoren.
Im Mittelpunkt stehen die »Konzepte zur Integration« und die
»Erfahrungen aus der Praxis«, vor allem aus der Hochschulgemeinde
und den Hochschulen selbst. Mit über 50 Seiten ist der Artikel über
»Ansätze für eine Ethik der Integration« der umfangreichste.
Ausgewählte Inhalte
Aus den 18 Beiträgen sind folgende hervorzuheben:
1. Nach Ansicht des Politologen Claus von Leggewie ist Integration
das, was sich ergibt, wenn gesellschaftliche Subsysteme, ja auch
Parallelgesellschaften zusammenwirken. Dabei auf eine deutsche
Leitkultur zurückgreifen zu wollen, sei nutzlos, da eine solche
weder ethnisch noch kulturell definiert werden könnte, geschweige
denn auf einen Nenner zubringen wäre. Für die Herausgeber ist
Integration ein Projekt, ein Prozess, der Jahre und Jahrzehnte
dauern wird, weil die Globalisierung gerade erst so richtig
begonnen hat.
2.Yasar Sarikaya (Prof. für Islamische Theologie) und die
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Ulrika Kilian sehen einen großen
Fortschritt darin, dass das Fach Islamische Religion flächendeckend
an weiterführenden Schulen in Hessen eingeführt ist. Damit ist eine
Form der Anerkennung verbunden. Für die Öffentlichkeit gibt es
Klarheit, welche Inhalte hierbei wichtig sind und aus dem Koran
abgeleitet werden können, welche nicht.
3. Cornelia Tigges (Migrationsdienst der Caritas) und Pater Frido
Pflüger (Jesuiten-Flüchtlingsdienst) halten es für
unverantwortlich, den Familiennachzug für subsidiär geschützte
Flüchtlinge auszusetzen, da dies der Integration schade. Pflüger
ist überzeugt davon, dass die Fluchtursachen nicht ausreichend
bekämpft, ja vielmehr verstärkt werden, wenn die starken Ökonomien
die Märkte in West- und Ostafrika kaputt machen.
4. Die Gießener Präsidenten Joybrato Mukherfeem (Universität) und
Mathias Willems (TH Mittelhessen) können über die ersten Erfolge
berichten, studierfähige Flüchtlinge nicht nur zu beraten und als
Gasthörer/innen in Lehrveranstaltungen einzuladen, sondern auch
regelrecht zu immatrikulieren.
5. Pfarrer Hermann Wilhelmy (Flüchtlingsseelsorge der evangelischen
Kirche) plädiert in dem Interview dafür, in der Flüchtlingspolitik
die Menschenrechte obenan zu stellen, statt immer nur die Gesetze
zu verschärfen.
6. Im Anschluss an den litauischen Philosophen Emmanuel Levinas
entwickelt Siegfried Karl seine Ansätze für eine Ethik der
Integration. Diese geht davon aus, dass die Menschen für den
Anderen Verantwortung haben. Es geht nicht um einzelne Maßnahmen
der Integration, sondern um die zwischenmenschliche Beziehung, die
Begegnung von Angesicht zu Angesicht.
Diskussion
Mit dem vorliegenden Band werden viele Fragen der
Flüchtlingspolitik angesprochen, wenn auch nicht tiefschürfend
analysiert oder in allen Konsequenzen weitergedacht. Das beginnt
u.a. bei der wohlfeilen Formel »Sicherung der EU-Außengrenzen«, die
ja nicht verhindern kann und darf, dass Personen die Grenzen
überschreiten, um Asyl zu beantragen.
Auch in diesem Band gibt es Beiträge, die versuchen, die
Einstellungen der Bevölkerung (einschließlich der 20 % mit
Migrationshintergrund?) in Bezug auf Migration und Flucht
abzufragen. Allen Ernstes werden Stellungnahmen auf folgende Fragen
erwartet:
»Ausländer, die in Deutschland leben, sollen sich an der deutschen
Kultur orientieren.« und »Einmal ganz allgemein gesprochen: Leben
in Deutschland heute zu viele Ausländer?« Da sollten die
Sozialwissenschaften mal reflektieren, welche Denke sie so
herbeifragen.
Auch in diesem Band zeigt sich: Wer sich davor scheut, von
»Leitkultur« zu sprechen, beschwört dann doch die »Werte«, allen
voran die Gleichstellung von Mann und Frau. Als ob die in
Deutschland längst perfekt und die Katholische Kirche eine ihrer
großen Vorkämpferinnen gewesen sei.
Mancher Beitrag, so wird offengelegt, ist bereits anderwärts
erschienen, einer sogar im November 1999 zum Thema »innerdeutsche
Integration«.
Die abschließende Abhandlung, die mehr als ein Siebtel des Bandes
ausfüllt, formuliert eine Ethik, die schwer nachvollziehbar ist und
leider im Ungefähren bleibt. Hier hätte man sich doch mehr zur
menschenrechtlichen Begründung von Flüchtlingspolitik erwartet.
Beim Thema (?) »Familiennachzug« erinnere man sich auch an die
Kinderrechtskonvention, die die Vertragsstaaten verpflichtet,
Kindern nicht ihre Eltern vorzuenthalten und die Familie zu
schützen.
Einzig Frido Pflüger bringt die Herausforderung, der wir uns
eigentlich stellen müssen, auf den Punkt: »Wir tun so, als ob wir
unser gutes Leben verdient hätten und es auch verteidigen dürften…
Dabei blenden wir aus, wie sehr wir in Europa in der Vergangenheit
– durch Kolonialismus und Versklavung – und in der Gegenwart, zum
Beispiel durch unsere Waffenexporte und ungerechte
Handelsbeziehungen, dazu beigetragen haben, dass die Welt so ist,
wie sie jetzt ist.« Und in Erinnerung an Kant formuliert er:
»Ursprünglich aber hat niemand mehr Recht als der Andere, an einem
Ort der Erde zu sein«!
Fazit
Festveranstaltungen, ausführlich dokumentiert, haben den Vorteil,
dass sie unterschiedliche politische und zivilgesellschaftliche
Akteure, bei allem Hang zur Selbstdarstellung, in den Diskursmodus
bringen können. Wieweit Anstöße und Provokationen dann wirken, ist
nicht abzuschätzen.
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