Rezension zu Seelenleben

www.socialnet.de vom 12. Februar 2018

Rezension von Helwart Hierdeis

Autor

Till Bastian arbeitet als Arzt und Psychotherapeut an der psychosomatischen Klinik Wollmarshöhe in Bodnegg (Allgäu). In den Jahren 1983-86 war er Geschäftsführer der deutschen Sektion von »Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs«, die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Von ihm liegen zahlreiche Publikationen u.a. zu Fragen der Ökologie, des Weltfriedens, der Pädagogik, des Holocaust, der Anthropologie, des ärztlichen Selbstverständnisses und der Psychosomatik vor.

Aufbau und Inhalt

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die 3. überarbeitete und aktualisierte Auflage der 2009 und 2010 bei Kösel (München) erschienenen ersten beiden Auflagen. In seiner Einleitung bezeichnet Bastian es als »subversiv« (16), weil es dazu beitragen will, dass Menschen lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen und ihnen eine Sprache zu geben. Damit, so seine Erwartung, lassen sie sich nicht mehr so leicht manipulieren und unterdrücken.

Das Vorhaben geht er in acht Themenkreisen an:

(1) »Der Alltag und unser seelischer Apparat«
(2) »Das Tempo«
(3) »Die Heimat«
(4) »Das Miteinander«
(5) »Die Kohärenz«
(6) »Der Sinn«
(7) »Die Stille«
(8) »Eine abschließende Betrachtung: Kann der Mensch je glücklich sein?«

Zu 1

In »Der Alltag und unser ›seelischer Apparat‹« (21–40) sieht Bastian den Menschen als einen im Rahmen der kulturellen Evolution auf einen »Mesokosmos« ausgerichteten Organismus an, der unaufhörlich seine Beziehungen zur sozialen, kulturellen und materiellen Außenwelt regulieren muss – was ihm umso schwerer fällt, je weiter sich die Grenzen seiner Umwelt ausdehnen. Zumindest virtuell ist die Welt, in der er lebt, ohne feste Konturen. Eine »Seelenkunde«, die diese Existenzweise ernst nehmen will, muss daher eine »ökologisch orientierte Wissenschaft« (27) sein. Zum »seelischen Apparat« gehören für ihn die Struktur des Gedächtnisses, die Fähigkeit zum Spracherwerb, das antizipierende Denken, die motivierenden Antriebe, das Insgesamt der eingespeisten Lebenserfahrungen und die kognitiven, motivierenden, affektiven, bewertenden und konfliktbewältigenden Funktionen (37 f.).

Zu 2

In »Das Tempo« (41–64) stellt der Autor einen Zusammenhang her zwischen der technisch entwickelten und forcierten Mobilität, unserer davon geprägten Alltagserfahrung, der von Beschleunigungsgefühlen getriebenen Erlebnisorientierung und dem »Mehr an ausgeübten Tätigkeiten« (46), die den modernen Menschen zu einem »Simultanten« (Geißler) machten (47), der dauernd von sich abgelenkt sei. Für den Einzelnen sieht er die Notwendigkeit, eine »Kultur der Pause« zu entwickeln, damit er wieder zum Herrn seiner Zeit wird, Distanz zum »Getriebe« gewinnt, persönliche Entwicklungen ermöglicht und entdecken kann, dass hinter der Alltagsrealität noch andere Welten existieren (49 ff.). Das geht nicht ohne die tägliche Praxis von kurzen Auszeiten, in denen der Getriebene lernt, sich wahrzunehmen und sich auf Dinge zu konzentrieren, die mit seinem Alltag nichts zu tun haben (54).

Zu 3

Im Abschnitt »Die Heimat« (65–82) knüpft Bastian an die vorangegangenen Analysen und Vorschläge an. Er sieht die Gefahr, dass aus der Mobilität »Haltlosigkeit« wird. Der Mensch gerät, wie er diagnostiziert, seelisch aus dem Gleichgewicht. Er bedroht seine Identität, weil er durch die ständige Zwischenschaltung von Technik den unmittelbaren Kontakt zur Natur verliert und weil die Informationsfülle seine Aufnahmefähigkeit überfordert. Allseitiges Dabeiseinwollen und das damit zwangsläufig verbundene Zurückbleiben hinter den Ansprüchen an sich selbst kann zum »Burnout« oder zu Depressionen führen. Um nicht krank zu werden, kann er zwei Wege gehen: Er muss versuchen, sich im eigenen Körper und in der Natur wieder zu beheimaten. Das hat für Bastian nichts mit Sentimentalität zu tun, sondern stellt den Menschen vor die Aufgabe, gegen den »Raubbau« in beiden Bereichen anzugehen und sich auf die zyklischen Zusammenhänge zu besinnen (75).

Zu 4

»Das Miteinander« (83–102) ist ein Kapitel über Beziehungen unterschiedlicher Nähe überschrieben. Ein Problem sieht der Autor darin, dass das im Mutter-Kind-Verhältnis erworbene und für das weitere Leben abgespeicherte Bindungsmuster zum Maßstab für andere Beziehungen werden kann, die eigentlich eine größere Distanz erfordern, und daher dysfunktional wird. Andererseits sieht er es mit Blick auf die Mentalisierungsforschung als notwendig an, dass die (idealerweise) in der Mutter-Kind-Beziehung erworbene Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen, erhalten bleibt (86). Getreu seiner ökologischen Intention schaut er auf die Masse der Beziehungsmöglichkeiten in »sekundären Systemen« (95), die, wenn sie exzessiv wahrgenommen werden, zu psychischer Entleerung und zur Flucht vor verbindlicher Nähe führen können (92 ff.). Als Therapeut setzt er »die Selbstreflexion des eigenen Beziehungsstils« (99) dagegen.

Zu 5

Unter der Überschrift »Die Kohärenz« (103–118) kommt Bastian auf die psychischen Ressourcen zu sprechen, die dem Menschen helfen, den drohenden Funktions- und Strukturschäden an Leib und Seele vorzubeugen (104). Die theoretische Basis dafür liefert ihm vor allem Antonovskys Salutogenese-Konzept, das davon ausgeht, dass eine früh erlernte »Lebensstrategie« (105) die nötige Widerstandskraft liefern kann. Im Zentrum des »Kohärenzgefühls« stehen drei Einstellungsdimensionen: »›erstens‹ das Vertrauen darauf, dass die Ereignisse des Lebens – im Prinzip – vorhersehbar und erklärbar sind; ›zweitens‹, dass die Schwierigkeiten des Lebens – im Prinzip – gemeistert werden können; ›drittens‹, das Gefühl, dass diese Welt es auch wert ist, sich in ihr aktiv zu engagieren« (105). Bastian verweist auf die Nähe Antonovskys zu Banduras Vorstellungen vom »Selbstwirksamkeitsgefühl« (108) und auf dessen Verwandtschaft mit der »Resilienz« (112 f.), der Fähigkeit also, Belastungen zu überwinden (116 ff.).

Zu 6

Das Kapitel »Der Sinn« (119–131) beginnt mit den Schöpfungsmythen verschiedener Kulturen, in denen es ja nicht nur um Erklärungen zur Entstehung von Mensch und Welt geht, sondern auch um die Frage nach Gut und Böse. Im Anschluss an die Arbeiten von Strohm und Bischof sieht der Autor in den Mythen Zeugnisse für die »Selbstinterpretation menschlicher Welterfahrung« am Beginn des menschlichen Lebens (121) und zugleich »Heilsgeschichten«. Das ursprüngliche Gefühl der Abhängigkeit, auf das sie eine Antwort zu geben versuchten, hat heute dem Gefühl Platz gemacht, »sich als kosmisch unbehaust erleben zu müssen« (122) und dadurch überfordert zu sein. Das menschliche »Navigationssystem« (123) hat Schwierigkeiten, den richtigen Weg zwischen verinnerlichten Überich-Forderungen, Selbstentwürfen (»Ideal-Selbst«) und »Arbeitsanweisungen« (124) aus der Gesellschaft zu finden, sodass der überforderte Mensch dazu neigt, die Realität abzuwerten und seine Ideale am eigenen Nutzen auszurichten. Dabei werden die Anderen dann zu Konkurrenten und Feinden – Grund genug für Bastian, Albert Schweizers »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben« in die Diskussion zu werfen, »das beste Antidot gegen alle tendenziell mörderischen Ideale, das sich denken lässt« (127).

Zu 7

In »Die Stille« (133–144) stellt Bastian zunächst den amerikanischen Hobbyphilosophen und -schriftsteller Henry David Thoreau vor, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Stadt in die Wälder zurückzog und dort nicht nur »hellhörig« für die Stimmen der Natur wurde, sondern aus seinen Erfahrungen der Stille auch eine veritable Kulturkritik – bis hin zur Theorie des »zivilen Ungehorsams« – entwickelte (133 f.). Bastian sieht im »Grundrauschen unserer Industriegesellschaft« (136) einerseits eine schlichte Gegebenheit, der kaum zu entkommen ist, andererseits werde es, so vermutet er, »bewusst in Betrieb gehalten« (136), um die für manche bedrohliche Besinnung des Menschen auf sich selbst zu verhindern. Nicht das Wort, sondern die Musik als »bewusste Gestaltung von Geräuschen und Klängen« (137) ist für ihn das ideale Gegenstück zur Stille, weil sie unmittelbar an die Affekte rührt: »Stille bietet den Hintergrund, vor dem wir die akustischen Reizkonstellationen als fassbare Figuren unterscheiden lernen – einen Hintergrund, dessen Kontrastwirkung wir dringend benötigen, wenn es zu einer tiefer gehenden emotionalen Resonanz kommen soll. Musik ohne Stille geht im Lärm unter, versinkt in jener Nacht, in der alle Katzen grau sind« (138).

Zu 8

Die Frage »Kann der Mensch je glücklich sein?« (147–158) steckt unausgesprochen hinter allen bisherigen Überlegungen. Das Wissen des Menschen, dass er sterblich ist, macht ihm seine Existenz zum Problem. Soll er die Flucht antreten? Das kann er, aber der Welt den Rücken zu kehren würde ihn daran hindern, die Chancen seines Geistes zu nützen (147) und einen besseren Zustand zu antizipieren. Als einzige Species der Evolution ist er in der Lage, sich »Glück« vorzustellen und anzustreben. Nachdem alle glückverheißenden Ideen aus den ideologischen »Sinnstiftungsreservoirs« (175; nach Zimmerli) den Menschen in Abhängigkeit belassen (das versprochene Glück gibt es ausschließlich unter festgelegten Bedingungen), bleibt ihm nur übrig, »eine ganz persönliche Antwort zu finden« (150). Sie schließt die Anstrengungen um seine seelische und körperliche Gesundheit ebenso ein wie die Annahme der eigenen Sterblichkeit, abgekoppelt »von den Wertmaßstäben und Beifallsbekundungen der Außenwelt« (153). »Glück« ist für den Autor die »Übereinstimmung zwischen den eigenen Motiven, den eigenen Fähigkeiten und dem dadurch bewirkten Ergebnis, das zudem vom sozialen Hintergrund meines Tuns ›getragen‹ wird« (156). Das gelingt immer nur unvollkommen und zeitweise: »Damit werden wir uns zufriedengeben müssen – und nur dann werden wir halbwegs zufrieden sein« (158).

Diskussion

Was Till Bastian seinen Leserinnen und Lesern mit dem in diesem Zusammenhang saloppen Wort »Bedienungsanleitung« anbietet, hat nichts mit funktionalen Wenn-Dann-Tipps zu tun, sondern ist sanfte Überzeugungsarbeit für ein lebenswerteres Leben: Schau, was dich krank macht! Achte auf deine seelische und körperliche Gesundheit! Beobachte, was dich von dir selbst ablenkt. Komm zur Besinnung. Zieh´ dich hin und wieder zurück! Überprüfe deine Lebensziele! Nimm Deine Sterblichkeit an! Suche deine Ressourcen! … Die Aufforderungen könnten allesamt von esoterischen Weichzeichnern stammen, aber die sparen sich in der Regel den theoretischen Begründungsaufwand und die weit ausfächernden Bezüge zu Philosophie, Musik und Literatur, die der Autor hier vorträgt. In diesem Buch spricht nicht ein besserwisserischer Ratgeber und Seelenretter, sondern ein empathischer Gesellschaftskritiker, der nicht zusehen will, wie der Mensch in den von ihm selbst in Gang gesetzten ökologischen und ökonomischen Prozessen verloren zu gehen droht. Im Hintergrund scheint immer der Arzt und Psychotherapeut zu stehen, der danach fragt, wer und was die Menschen in den Zustand versetzt hat, in dem sie nun Hilfe suchen.

Was mir als Pädagoge und Psychoanalytiker etwas zu kurz kommt, ist das Dialogische als analytisches Prinzip. Ich kann es in therapeutischen Episoden erkennen, in der Herausarbeitung des »Miteinander«, der »Mentalisierung« oder – schwach angedeutet – in der Rede von sozialen Zusammenhängen. Nachdem wir aber alle im Mikrokosmos von Beziehungen leben, betreffen sämtliche angesprochene Formen der Lebensänderung auch die mir Nahestehenden. Wenn sie sich nicht mitändern oder mich unterstützen oder zumindest tolerieren, entstehen schnell neue belastende Spannungsfelder, und die Alternative »Flucht« versus »Selbstwirksamkeit« erhält eine neue Überschrift.

Fazit

Dem Autor ist es gelungen, die vielfache Gefährdung unseres »Seelenlebens« durch die Art und Weise, wie wir leben oder zu leben gezwungen sind, kenntlich zu machen. Seine Empfehlungen für ein besseres Leben geben nicht vor, neu zu sein. Sie verstehen sich vielmehr als Erinnerung an ein vorhandenes, aber häufig beiseite geschobenes inneres Wissen, dessen Umsetzung wir nur nicht die für unser »Glück« notwendige Priorität einräumen.

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