Rezension zu Migration und Rassismus
gruppenanalyse, 27. Jahrgang, Heft 2, 2017
Rezension von Angela Schmidt-Bernhardt
Unter den Stichworten »Verortungen«, »Fluchthintergründe«,
»Kolonisierung und Rassismus«, »Formen der Diskriminierung« und
»Prekäres Ankommen / Traumatisierten helfen« sind 25 Aufsätze
versammelt. Gemeinsam ist den Aufsätzen die Beschäftigung mit dem
Thema Flucht; vielfältig sind die Schwerpunkte und die Perspektiven
auf das Thema. Sie reichen von der Erhellung der politischen
Zusammenhänge, über den Blick auf einzelne Gruppen wie Kinder und
Jugendliche, über die historischen und politischen Ursachen von
Flucht und Verfolgung, die psychosozialen Folgen von Flucht, die
vielfältigen Formen des Rassismus, denen Menschen auf der Flucht
begegnen, bis hin zu Ansätzen Geflüchteten beizustehen und ihnen
das Ankommen zu erleichtern.
Unter der Überschrift »Der Krieg trägt seine Früchte – zu uns.
Erstaunt stellen wir fest: Es sind Menschen« wirft Klaus-Jürgen
Bruder einen Blick auf die Situation im Herbst 2015. Er spannt den
Bogen von der Kanzlerin als »Mutter der Nation« und der
»Willkommenskultur« zur fragwürdigen Entscheidung über sichere
Herkunftsländer und zur »zivilisierten Verachtung« gegenüber
»niederen Klassen« (Bruder, S. 25). Krieg und Rassismus sind wieder
zu zentralen Problemen der internationalen Ordnung geworden. Bruder
konfrontiert uns in seinem Beitrag damit, wie wir über
gesellschaftliche Situation denken und diskutieren. Die Diskussion
über die »Bedrohung«, die von den Schutzsuchenden ausgeht überwiegt
gegenüber einer Beschäftigung mit ihren Schicksalen. Eine solche
Beschäftigung führt – so Bruder – zu den Zusammenhängen zwischen
Krieg und Flucht auf der einen Seite und kapitalistischer
Ausbeutung auf der anderen Seite. Die Fluchtursachen beseitigen
hieße, so Bruder, »die Fluchtursachen bei uns zu beseitigen,
aufzuhören, andere auszubeuten, sie mit Gewalt und Krieg nach
unserem Willen zu zwingen. Eine Änderung der ›aufrichtung‹ (Thomas
Bernhard) ist dringend erforderlich, um überall menschenwürdige
Lebensbedingungen zu schaffen, aus denen niemand mehr fliehen
muss.« (Bruder, S.35)
Elisabeth Rohr, die sich mit der Situation von Kindern im Kontext
von Migration und Flucht beschäftigt, erinnert an die zahlreichen
Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung, die gerade wir in
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben, und die in
der Begegnung mit den Flüchtlingen wieder als ungewollte
Erinnerungen auftauchen können (Rohr, S. 84). In ihrem Beitrag
widmet sie sich den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und
den allein zurück gelassenen Kindern von Migranten und vergleicht
die jeweiligen psychischen Belastungen.
Eva König-Werner befasst sich mit den verdrängten und
verschwiegenen Auswirkungen des Kolonialismus auf die Kindeskinder
der kolonialen Untertanen. Sie konstatiert, dass bei der
Rekonstruktion von Vergangenheit bis heute das »koloniale
Gedächtnis« ausschließlich aus der Perspektive der Kolonialisierer
dominiert, und es demgegenüber nur Fragmente kollektiver
Erinnerungen der Kolonialisierten gibt. Erst die neuere
Kolonialismus-Forschung untersucht das Kolonialsystem mit seinen
Auswirkungen auf die kolonialisierte Gesellschaft. Deutlich werden
die Auswirkungen in der Normierung des Habitus. Hier liegt bis
heute eine eindeutige Wertung des »besseren« europäischen Habitus
gegenüber dem abgewerteten Habitus der Kolonialisierten. »Das
kolonial-europäische Inferiorisierungs- und Generalisierungsprinzip
auf der Basis Weißer Deutungshoheit« (König-Werner, S. 239) wirkt
bis heute nach, wenn die Kindeskinder der Kolonialisierten, die auf
ihrer Flucht Europa erreichen, über einen inferioren sozialen
Status definiert werden. »Die Rezeption machtkonformer
kolonialherrschaftlicher Denkmuster« (König-Werner, S. 240) spielt
unbewusst in den Köpfen der europäischen Gesellschaft noch eine
große Rolle.
Renate Haas arbeitet über »›Historische Abspaltungen als Blockaden
in der interkulturellen Kommunikation‹« und zeigt, »inwiefern
Erfahrungen von Gewalt und Vernichtung, die vom gesellschaftlichen
Bewusstsein nicht verantwortet werden konnten, als historische
Abspaltungen fortwirken« (Haas, S. 243). Mit Blick auf unsere
Gesellschaft weist sie darauf hin, dass auch die Spaltung in
Flüchtlingsfreunde und Flüchtlingsfeinde ein Abwehrmechanismus ist,
der verdeckt, dass beide Gruppen in Widersprüchen und in
Ambivalenzen stecken. Sie bezeichnet Xenophobie und Exotismus als
zwei typische Abwehrformen gegen das Fremde, wobei in der ersten
Form das Fremde als große Gefahr gesehen werde, in der zweiten Form
das Fremde idealisiert werde und die eigene Kultur negativ
erscheinen lasse. Hinter beidem werden die Ambivalenzen unsichtbar.
Diese oft nicht aushaltbaren Ambivalenzen bringt der mit
Einwanderung verbundene gesellschaftliche Wandel zwangsläufig mit
sich. Im Erkennen des Abwehrmechanismus liegt ein Schritt zum
Erkennen von Gemeinsamkeiten, der einen Weg ins Gespräch weisen
könnte.
Christoph Seidler, Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker, erörtert
anhand von asylsuchenden Patienten in seiner Praxis den Versuch,
einen transkulturellen Übergangsraum zu eröffnen, in dem es ihm
gelang, ein wenig vom Fremden zu verstehen und zu fühlen. Er
beschreibt, wie die emotionale Begegnung ihn selbst veränderte.
Dieser dritte Ort ermöglicht es beiden Seiten in der Begegnung, die
Unterschiede in der Grundlagenmatrix zu sehen, die Angst vor dem
Fremden wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu überwinden. Seidler
schließt mit den beeindruckenden Worten: »Multikulturalismus ist
eben ein konfliktreicher gesellschaftlicher Tatbestand, und nun
beginnt die emotionale Schwerstarbeit. Die Psychoanalyse kann dabei
helfen, aber die Begegnung müssen wir selbst wagen. Da kommt etwas
auf uns zu!« (Seidler, S. 315).
An dieser Stelle kann nur ein kurzes Licht auf einzelne Beiträge
des vorliegenden Sammelbandes geworfen werden. Diese Auswahl möchte
das Ziel verfolgen, das Interesse der Leserinnen und Leser zu
wecken. Denn der umfangreiche Sammelband lohnt es beachtet zu
werden. Gerade der interdisziplinäre Ansatz, der die
Fluchtbewegungen und unseren Umgang mit ihnen in der aktuellen
gesellschaftlichen Situation aus politischer, aus soziologischer,
aus kulturwissenschaftlicher, psychologischer, psychoanalytischer
und gruppenanalytischer Perspektive betrachtet, macht die Lektüre
zu einer Bereicherung und kann Leserinnen und Leser zum Nachfragen
und Hinterfragen anregen.