Rezension zu Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985) (PDF-E-Book)
gruppenanalyse, 27. Jahrgang, Heft 2, 2017
Rezension von Renate Jorkowski
Merle Funkenberg legt hier die erste wissenschaftliche Arbeit über
die Zeugenbetreuung bei den NS-Prozessen und die Anfänge von
organisierter Zeugenbetreuung überhaupt vor. Es ist der sorgfältige
Bericht über überraschend umfangreiches, so Funkenberg,
bürgerschaftliches Engagement einer großen Zahl von jüngeren und
älteren, für diese Aufgabe völlig unvorbereiteten Menschen, die
teilweise unterschiedlichen kirchlichen Organisationen angehörten,
zum Teil aber auch keiner, überwiegend Frauen. Wie Funkenberg in
ihrem Fazit darlegt, leisteten diese Menschen gemessen an heutigen
Erkenntnissen über und Anforderungen an Zeugenbetreuung
Pionierarbeit. Eine Pionierarbeit, die bisher kaum gewürdigt wurde.
Das Buch ist durch die Details, die in den Interviews von
Funkenberg erzählt werden, eine Konfrontation mit den Grausamkeiten
in den Konzentrationslagern. Gleichzeitig wird ein Aspekt der
gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland in
den 60er und 70er Jahren gezeichnet und im Vergleich mit heute ein
Aspekt gesellschaftlichen Wandels deutlich.
Neben einer sorgfältigen Recherche der juristischen, historischen
und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Prozesse stehen vor
allem die Interviews mit damaligen Betreuern und Zeugen im
Mittelpunkt, wobei die Zahl der Interviews beider Personenkreise
aufgrund von Alter und Krankheit sehr beschränkt ist. Die
Interviews wurden 2009/10 durchgeführt und werden ergänzt durch die
Veröffentlichungen ehemaliger Zeugen und Betreuern. Manches Detail,
das sie berichten, mutet aus heutiger Perspektive nahezu unfassbar
gedankenlos an. So zum Beispiel, dass Zeugen im gleichen Hotel wie
die Angeklagten untergebracht waren, man also den Opfern aus den
Konzentrationslagern zumutete, gemeinsam mit ihren ehemaligen
Peinigern zu frühstücken, und sie ihnen manchmal auch in Pausen auf
den Gängen des Gerichts begegneten, was nicht nur einmal
Todesängste auslöste.
Um die Situation zu verstehen: Die Überlebenden reisten zumeist aus
den Ländern des damaligen Ostblocks, aus Israel und den USA zum
ersten Mal nach ihrer Befreiung überhaupt nach Deutschland und
kamen in dem Bewusstsein, »etwas erlebt zu haben, was in seiner
Grausamkeit eigentlich ›jenseits des Vergleichbaren und Erfahrbaren
steht‹ und in der Konsequenz auch nicht erzähl- oder verstehbar
ist.« (S. 16) Viele hatten seit ihrer Befreiung nicht über ihr
Leiden und ihre Demütigungen gesprochen und sollten dies nun in den
»stark normierten Verfahren« vor deutschen Gerichten tun, damit
ihnen und den Toten Gerechtigkeit durch die Verurteilung der
Angeklagten widerfahren konnte.
Die Prozesse gegen die NS-Verbrecher wurden nach der normalen
Strafprozessordnung geführt. Da es kaum objektive Beweise der
verübten Verbrechen gab und auch kaum einmal neutrale Zeugen, kam
es in ganz besonderer Weise auf die Zeugenschaft der Opfer an. Das
war auch für die Rolle der Verteidiger wichtig. Diese versuchten
durch Zerpflücken von Aussagen ihre Mandanten zu schützen, indem
sie etwa penetrant nach genauen Daten und genauen Abläufen fragten
und damit manchen Zeugen in große Bedrängnis brachten, der etwa nur
wusste: es war Sommer. So waren manche Zeugen sehr enttäuscht von
milden Strafen, die aufgrund mangelnder Beweise zustande kamen, die
in keinem Verhältnis zu ihren Qualen allein während der Aussagen
standen. Nach vielen Jahren der Zeugenbegleitung rieten daher
manche erfahrene Begleiter geladenen Zeugen von einer Aussage vor
Gericht sogar ab.
Es gehört zu den überraschenden Fakten, die Funkenberg aufdeckt,
dass die Zeugen in den NS-Prozessen, die von überragender Bedeutung
für Beweisführung und Urteil waren, in keiner Statistik auftauchen,
das gilt für die Betreuer ebenfalls. Es gibt eine Statistik über
die Anzahl der Angeklagten, der Verfahren und der Verurteilten (S.
17), aber keine Übersicht über die Anzahl der in NS-Prozessen als
Zeugen vernommenen Holocaust-Überlebenden.
Zum zeitgeschichtlichen Kontext schreibt Funkenberg
zusammenfassend: »Die Überlebenden, die entschieden hatten, vor
deutschen Gerichten gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher
auszusagen, standen nicht nur in ihrer Rolle als Opfer und Zeugen
vor Gericht im Abseits. Sie wurden zudem in den 1960er Jahren nicht
als durch Verfolgung und Gefangenschaft mehrheitlich
Schwertraumatisierte wahrgenommen. ... Dass tiefgreifende
Schreckenserlebnisse ... langfristige seelische Veränderungen nach
sich ziehen können, galt Anfang der sechziger Jahre als höchst
revolutionär.« (S.23)
Angesichts der oft kritischen Bewertung von oral history bezüglich
historischer Faktenlagen, definiert Funkenberg ihr Interesse. »Die
Autorin interessiert sich für emotionale und atmosphärische
Momente, Ängste und Belastungssituationen.... die Befragung der
Zeitzeugen – >›ls Experten für ihre eigene Bedeutungshaltung‹ –
(gehören) zu den zentralen Aspekten der Betreuungsarbeit.« (S.
35)
Bevor sie die Inhalte der Interviews darstellt, geht Funkenberg auf
den institutionellen Rahmen der Betreuung ein. Der erste
Betreuungskreis wurde 1964 anlässlich des Auschwitzprozesses in
Frankfurt von Ursula Wirth und ihrer Freundin Emmi Bonhoeffer
gegründet. Wirth wurde durch einen zweispaltigen Artikel in der
»Welt« am 23.4.1964 auf die Situation der Zeugen aufmerksam. In dem
Artikel wird geschildert, wie die Zeugen, etwa 50 allein aus Polen
und Tschechien, alleine ankommen, sich zum Hotel durchfragen
müssen, obwohl sie diese schwere Aufgabe übernommen haben Zeugnis
abzulegen »Auge in Auge mit den Männern, die sie gequält,
geängstigt, gehetzt hatten; einer übermächtig erscheinenden Phalanx
von Verteidigern gegenüber.« (S. 107)
Die Frauen bereiteten sich auf die Betreuungsarbeit vor, indem sie
dem Prozess beiwohnten. Vom Gericht erhielten sie die Adressen der
geladenen Zeugen und informierten sie in einem Brief darüber, dass
sie sie am Bahnhof abholen würden, wenn die Zeugen das wollten, und
die Ankunftszeit mitteilten und ihnen überhaupt in der Zeit in
Deutschland zur Seite stehen wollten. »Zu den zentralen
Bestandteilen der Betreuungsarbeit gehörten die persönlichen
Gespräche zwischen Betreuern und Zeugen jenseits der Prozesse. Sie
bildeten die Basis für die erfolgreiche Umsetzung der von Alfons
Erb formulierten Leitidee der Zeugenbetreuung, welche neben der
Begleitung zum Gericht und dem Beistand bei formalen Fragen primär
auf die persönliche Begegnung abhob.« (S. 337)
Funkenberg schildert den Aufbau der Betreuungskreise in vielen
Städten, in denen NS-Prozesse anstanden bzw. stattfanden. Bei der
Entwicklung eines bundesweiten Netzwerkes spielte die
Friedensbewegung Pax Christi in der Person ihres Vizepräsidenten
Alfons Erb eine entscheidende Rolle. Welche Bedeutung und
Reichweite die Helferkreise hatten, zeigt die Bemerkung, dass Erb
besonders als Mittler zwischen dem Justizministerium und den
Helferkreisen fungierte. Neben dem Deutschen Roten Kreuz als
institutionellem Rahmen spielte auch die Gesellschaft für
christlich-jüdische Zusammenarbeit eine Rolle. Es gibt noch viele
weitere Facetten der Zeugenbetreuung, die Funkenberg
reflektiert.
Die Aussagen in den Interviews enthalten manche sehr berührenden
Details sowohl über die Situationen vor Gericht wie auch über die
KZ-Quälereien. Manche Geschehnisse brachten die Zeugen vor Gericht
nicht über die Lippen, weil es sie erneut gedemütigt hätte. Im
Gespräch mit den Betreuern nach den Prozesstagen konnten sie dann
noch einiges erzählen. Es wird beschrieben, welch bedrückende
Atmosphäre für die Zeugen entstand, wenn Angeklagte, die inzwischen
Karriere in der Bundesrepublik gemacht hatten, hochachtungsvoll
behandelt wurden, während die polnischen Zeugen mit ihren 30 Jahre
alten Erinnerungen von oben herab behandelt wurden, (z. B. der
Angeklagte Hahn 1972 in Hamburg, S. 235)
Aus heutiger Perspektive ist es klar, dass auch die Helfer
eigentlich Unterstützung gebraucht hätten, etwa in Form von
Supervision. Wie wichtig die Hilfe war, wird durch viele Briefe und
Kontakte, die noch 30 Jahre nach dem Prozess weiterbestanden,
belegt. Die Erforschung der langfristigen Wirkungen von Traumata
begann erst in den siebziger Jahren. Es ist kaum zu überschätzen,
was die Betreuer intuitiv und emphatisch durch ihre Arbeit
geleistet haben. Heute ist auch bekannt, dass die Herstellung von
Öffentlichkeit durch die Presse einen großen Anteil an der
Verarbeitung der Traumata hat. Wie Funkenberg darlegt, hatten viele
NS-Prozesse sehr wenig Aufmerksamkeit durch die Presse, was die
Zeugen sehr wohl bemerkten. So war das Fazit von manchen, dass sie
zwar kein neues Deutschland erlebt hatten, aber erfahren hatten,
dass eine kleine Gruppe von Leuten an Versöhnungsarbeit
interessiert war. Manche Beziehungen zwischen Zeugen und Betreuern
wurden mit der Zeit so selbstverständlich und vertraut wie die
unter Familienangehörigen – in mancher Hinsicht sogar vertrauter,
weil Vorfälle thematisiert werden konnten, die in der Familie und
auch vor Gericht tabuisiert waren.
Das Buch ist allein schon wegen der Interviews mit den Zeitzeugen
lesenswert und verdienstvoll, weil es untergegangene Aspekte der
NS-Prozesse und damit unserer Vergangenheit ins Bewusstsein
hebt.