Rezension zu Vom Menschen in der Medizin

Hamburger Ärzteblatt, Ausgabe 2, Februar 2017, 72. Jahrgang

Rezension von Michael Bentfeld

Ein ungewöhnliches Plädoyer, die Medizin als Kulturwissenschaft zu begreifen

Die zeitgenössische Medizin ist eine »kulturell desinteressierte Kulturwissenschaft«. Diese zunächst irritierende These begründet der Autor ausführlich in acht Kapiteln. Prof. Dr. Volker Roeicke ist Direktor des Instituts für die Geschichte der Medizin der Universität Gießen. Das Buch widmet sich zentralen und brennenden Problemen der gegenwärtigen Medizin. Roelcke benennt Aporien, die sich auftun, wenn das Phänomen Schmerz ausschließlich aus naturwissenschaftlichem Blickwinkel betrachtet wird und skizziert, wie eine kulturwissenschaftlich kompetente Medizin sich diesem Thema widmet. Er erhellt den »guten Tod« im Rückgriff auf medizinethnologische Aspekte, und erörtert Fragen der medizinischen Methodologie anhand der Problematik des »Tiermodells« der Demenzforschung und der Komplexität des Risikobegriffs. In einem ausholenden historischen Rückblick auf die Forschungen am Menschen zeigt der Autor auf, wie historische Rekonstruktionen für aktuelle Fragestellungen nutzbar gemacht werden können. Auch der Geschichte der ärztlichen Profession widmet er ein umfangreiches Kapitel. Es beschreibt ein Streben nach gesellschaftlicher Expansion und Dominanz, kulminierend in der Gegenwart. Die Entwicklung jeder dieser Thematiken wird, beginnend mit ihren historischen Wurzeln, bis in die Gegenwart hinein aufgefächert: So entsteht ein fesselnder Spannungsbogen.

Der Prozess des Fortschreitens der Medizin in Theorie und Praxis ist gekennzeichnet von Differenzierungen, Erfolgen und dramatischen Fehlentwicklungen und ihren Opfern bis auf den heutigen Tag. Eine besondere Gefahr sieht der Autor in der Integration ausschließlich biomedizinischer Wissensbestände in die medizinische Praxis der Gegenwart, die möglichen fatalen Folgen vergegenwärtigt die Lektüre des Kapitels über »Forschung am Menschen im Nationalsozialismus«. Dieser Gefahr kann das Einbeziehen kulturwissenschaftlicher Sichtweisen in die Theorie und Praxis der Medizin begegnen. Dies legt der Autor überzeugend dar, und verweist auf die dazu notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen, nämlich die politischen Bedingungen eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates.

Das gut geschriebene Buch vermag ein neues Licht auf die eigene ärztliche Praxis werfen; sein reicher, informativer Gehalt zusammen mit dem Plädoyer für die ungewohnte Perspektive, die Medizin als Kulturwissenschaft zu begreifen, dürfte auch einen größeren Leserkreis ansprechen.

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