Rezension zu Cinépassion - The Sequel (PDF-E-Book)
Medienwelten – Zeitschrift für Medienpädagogik 8/2017
Rezension von Katharina Wüstefeld
Mit »Cinepassion – The Sequel. Eine psychoanalytische Filmrevue«
legt der Psychosozial-Verlag bereits den dritten Band einer Reihe
vor und folgt damit der offenkundigen Beliebtheit, die die
Verbindung von Film mit Psychoanalyse seit geraumer Zeit und
zunehmend bei Filmschauenden, Veranstalterinnen und nicht zuletzt
bei psychoanalytisch beleckten und arbeitenden Menschen erfährt. In
vielen Städten der Welt finden sich nun schon Veranstaltungsreihen,
in denen Filme psychoanalytisch kommentiert werden. Das Zürcher
Filmprojekt namens »Cinepassion« ist kaum älter als zehn Jahre und
verzeichnet im Filmprogramm auf seiner Website über hundert bisher
gezeigte und analysierte Filme, mindestens zehn pro Jahr, exklusive
gelegentliche Spezialveranstaltungen.
Psychoanalyse und Film teilen sich ihre ungefähre Geburtsstunde am
Ende des 19. Jahrhunderts. Psychoanalytische Filmkommentare stellen
eine Parallele her zwischen Film und dem Gegenstand der
Psychoanalyse schlechthin, dem Traum. Beide scheinen den gleichen
Regeln zu folgen: »Sowohl Traum als auch Film leben vor allem von
der Bildsprache. Sie ist den Gefühlen, den Phantasien, dem
Unbewussten näher als das gesprochene Wort. Im Traum wie im Film
sind die üblichen Gesetze von Raum, Zeit und logischer Darstellung
aufgehoben. Alles ist möglich: Schnitt, Umkehrung, Verschiebung,
Verdichtung, Tempowechsel. Das Unbewusste kennt keine Zeit.« Die
Initiatorinnen von »Cinepassion« beschreiben ihr Anliegen so: »In
der Psychoanalyse gilt die Traumdeutung als der Königsweg zum
Unbewussten. Der psychoanalytische Blick auf den Film sucht den
verborgenen Sinn – den Film hinter dem Film – und eröffnet so
zusätzliche Möglichkeiten der Interpretation.« (Cinepassion o.J.,
in: http://www.cinepassion.ch/de/psychoanalyse-und-film/,
26.09.2017)
Herausgegeben wurde der vorliegende Band, wie auch die beiden
vorangegangen Titel »Cinepassion« (2010) und »Cinepassion Reloaded«
(2013), von Yvonne Frenzel Ganz und Markus Fäh. Gegenstand ist eine
Auswahl von zwanzig Filmen, die in der Veranstaltungsreihe zwischen
Herbst 2012 und Herbst 2015 liefen. Auch das Format bleibt gleich:
Auf jeweils acht bis zehn Seiten finden wir zu jedem der
ausgewählten Filme zunächst eine Einleitung, die den Film in seinen
Entstehungszusammenhang beziehungsweise sein Genre einordnet und
oft interessante Details liefert. Dann folgt der psychoanalytische
Kommentar.
Die meisten der elf Autorinnen schrieben bereits für die ersten
beiden Bände, zwei – Ulrich Bahrke und Rony Weissberg – sind neu
dabei. Von einem der Autoren und langjährigen Vorstand von
»Cinepassion« – dem verstorbenen Hans Peter Bernet – verabschieden
sich die Herausgeber*innen im Editorial. Sein letzter Beitrag zu
»Barry Lyndon« (Stanley Kubrick, GB 1975) ist in diesem Band zu
lesen.
Ein Blick ins Autor*innenregister enthüllt, dass mit einer einzigen
Ausnahme alle Autorinnen Psychoanalytiker*innen in Zürich sind und
fast alle eine eigene Praxis betreiben.
Rony Weissberg geht Roberto Benignis Darstellung des Faschismus und
des Lebens und Sterbens im Konzentrationslager in »La vita e bella«
(»Das Leben ist schön«, Roberto Benigni, I 1997) nach. Dabei
unterscheidet er eine humoristische Überhöhung des Unglaublichen
(aber noch Vorstellbaren) des italienischen Faschismus im ersten
Teil des Films von der märchenhaften Darstellung der die
menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Geschehnisse im
Konzentrationslager in der zweiten Hälfte des Films, in der Guido
sich weigert, seinem Kind die Wahrheit über ihre Situation zu sagen
und diese stattdessen als Spiel um Punkte und einen großen Gewinn,
den Panzer, darstellt. Dass er die Verhältnisse im Lager als
verharmlosend dargestellt empfindet, entspricht zwar durchaus der
Leichtigkeit, die den Film begleitet. Doch ist bekannt, dass sich
die Realität des Lagers noch mit keinem Film abbilden ließ und sich
die Frage stellt, ob eine realistische (grausamere?) Darstellung
denn der historischen Wirklichkeit und ihrer Bedeutung näher zu
kommen vermag.
Alexander Moser arbeitet wohltuend heraus, was Michael Haneke uns
im Film »Das weiße Band« (Michael Haneke, D/Ö/F/I 2005) zeigt,
nämlich wie Kinder, die andauernd zugunsten einer übergeordneten
Moral gedemütigt und unterworfen werden, die gleiche demütigende
Moral ihrer Eltern und Erzieherinnen verinnerlichen, um sich auf
die Seite der Starken zu schlagen, und in Folge dessen ihrerseits
wieder erniedrigen und verletzen müssen. Hanekes Film begreift er
als ein Plädoyer für unterstützende Eltern, die »ihre Kinder so
sehen, wie sie sind«, die deren »Entwicklung positiv beantworten«
und ihnen »in ihrer Entwicklung hilfreich unter die Arme greifen«
(S. 64). Haneke ist übrigens gleich mit zwei Filmen im Buch
vertreten. Kein Wunder, möchte man anmerken, denn seine
verstörenden Filme müssen eine Fundgrube für die Psychoanalyse
sein.
Vera Salier nimmt sich mit »Gegen die Wand« (Fatih Akin, D/Türkei
2004) einen wahren Brocken vor und bringt aus eigener Praxis mit
türkischen Patientinnen in deren Muttersprache besondere Expertise
mit. Ihr Beitrag liest sich schließlich als eine Fürsprache für
eine Befreiung aus dem Patriarchat für Frauen und Männer.
Die Lektüre von Markus Fähs Interpretation von »American Beauty«
(Sam Mendes, USA 1999) als Darstellung und Abrechnung mit einer
oberflächlichen und neurotischen amerikanischen Gesellschaft
erfreut zwar einerseits durch seine Thematisierung des Lebens im
Kapitalismus, auch dadurch, dass er formuliert, an »Mendes/'
Frauenbild könnte man beinahe verzweifeln« (S. 35), wird aber
getrübt durch ein antiamerikanisches Geschmäckle seiner
Formulierungen und Zuspitzungen. Dieses findet sich auch in seinem
Kommentar zu »High Noon« (»Zwölf Uhr mittags«, Fred Zinnemann, USA
1952), wenn er den dort ausgetragenen Konflikt nicht als ein
universelles Thema menschlichen Zusammenlebens und menschlicher
Gesellschaften darstellt, sondern als Problem der amerikanischen
Gesellschaft und Demokratie. Will Kanes Gewissenskonflikt, die
Überwindung seiner Angst und wie er schließlich ohne Unterstützung
das Richtige tut und seinem Gewissen folgt, erklärt Fäh mit dem
Konzept des ödipalen Konflikts. Sicher, wer sich mit der
Psychoanalyse einlässt, kommt an diesem ungeliebten Konzept nicht
vorbei. Und obwohl Fäh um die nicht stereotype Darstellung von
Männern und Frauen bemüht ist, fühle ich mich als Leserin
spätestens ab Seite 173 abgehängt, wenn sein »wir« nur noch »wir
Männer« meint. Wenn es darum geht, weder hyperaggressiv noch
raffgierig, noch gehemmt zu werden, sportlich und fair zu bleiben
und das Richtige im Leben zu tun, sind Frauen, seinen
Formulierungen folgend, scheinbar ausgenommen.
Johannes Binottos Zuspitzung des in der Filmhandlung zentralen und
gesuchten Knochens auf ein Symbol der (sublimierten) sexuellen
Befriedigung, dessen Abwesenheit Begehren garantiert, so zu lesen
in seiner Analyse von »Bringing Up Baby« (»Leoparden küsst man
nicht«, Howard Hawks, USA 1938), vermag hingegen zu erstaunen und
zu amüsieren. Die Analyse auch der schlussendlichen Akzeptanz der
Unzulänglichkeit des Knochens und der andauernden Dekonstruktion
der Männlichkeit der Hauptfigur ist mit leichter Hand geführt und
reich sowohl an detaillierten Beobachtungen als auch an
philosophischen, filmhistorischen und psychoanalytischen Verweisen.
Der Gedanke, dass das leichte Format dieses Kommentars sich mit dem
leichten Format des Films, einer Komödie, erklären ließe, ist zwar
naheliegend, wird aber gleich vertrieben von Binottos zweitem
Beitrag, der sogar noch mehr erstaunt. Seine Besprechung von
»Tonari no Totoro« (»Mein Nachbar Totoro«, Hayao Miyazaki, J 1988)
kann als Glanzstück dieses Bandes bezeichnet werden. Endlich
findet, dank der Verbindung, die Binotto zwischen Donald Winnicotts
Konzept der Fähigkeit zum Alleinsein und dem Film herstellt, das
unerklärlich Sanfte und Leise dieses besonderen Filmes eine
treffende Beschreibung. Wir lernen, dass Miyazaki seine Figuren
allein sein lässt, nicht trotzdem, sondern weil sie einander
lieben. Deshalb lassen sie einander Raum zum Alleinsein und sind
andererseits auch in der Lage, allein und gerade ›nicht‹ einsam zu
sein. Binotto findet im Film auch die von Byung-Chul Han
beschriebene Distanz, die Nähe und Liebe nicht verhindert, sondern
ermöglicht und von solcher Art ist, dass sie auch die Akzeptanz und
Wertschätzung dessen ermöglicht, was wir nicht verstehen. Das gilt
für alle Beziehungen in diesem Film und am Ende selbst für die
Beziehung zwischen dem Film und uns. Ein Blick in die Informationen
zu den Autorinnen des Bandes steuert eine interessante
Nebensächlichkeit bei: Binotto ist der einzige »Fachfremde«, das
heißt kein ausgebildeter Psychoanalytiker wie alle anderen
Beiträger*innen. Welche der Kommentare interessanter und
überzeugender sind als andere, bleibt dabei sicherlich der
subjektiven Beurteilung jedes einzelnen Lesers überlassen und hat
wohl damit zu tun, dass die (psychoanalytische) Auslegung eines
Films uns mehr berührt, wenn dieser – wie im Falle von »Totoro« –
uns mit Fragen zurücklässt, und wenn sie – wie Binottos
Kommentierung – uns zu neuer Erkenntnis verhilft.
Winnicott wird auch von Andrea Kager für den Kommentar zu
»Persepolis« (Vincent Paronnaud, Marjane Satrapi, F 2007)
gewinnbringend herangezogen, wenn sie die »doppelten
Transformationsanforderung von Adoleszenz und Migration« (S. 81)
analysiert, die sich an die jugendliche Protagonistin stellt.
In der Einleitung zum Beitrag zu »Barbara« (Christian Petzold, D
2012) wird leider die sogenannte Wende als die kontinuierliche und
homogene Bewegung dargestellt, als die sie heute in den
allermeisten medialen Repräsentationen unter dem Stichwort der
»Friedlichen Revolution« eingehegt wird und dort auch in ihren
vermeintlichen Zielen, dem Fall der Mauer und dem Anschluss der DDR
an die BRD, aufgeht. Auch die Verallgemeinerung, dass die
Weigerung, der Ausbürgerung von Wolf Biermann zuzustimmen, generell
Veröffentlichungen für Künstlerinnen verunmöglicht hätte,
entspricht nicht den Tatsachen. Dem Umkehrschluss, dass jede
Veröffentlichung nach 1976 mit besagter Zustimmung zu erklären sei,
würde sicher auch der Autor nicht zustimmen wollen. Dass der Band
überhaupt einen Film zu diesem Abschnitt der deutschen Geschichte
enthält, macht aber viel eher eine Lücke sichtbar, als sie zu
schließen. Es bleibt anzuregen, die DDR nicht nur in der
Retrospektive zu thematisieren, sondern künftig in das Programm von
»Cinepassion« auch DDR-Produktionen und Filme aus Osteuropa
aufzunehmen.
Yvonne Frenzel Ganz/' Analyse von Amelies Entwicklung vom
neurotischen, von der Außenwelt isolierten Kind zu einer normalen
erwachsenen Frau, die sich schließlich in Nino verliebt und soziale
Bindungen eingeht, ist äußerst erhellend und erklärt, wie
versprochen, sehr gut, inwiefern es Regisseur Jeunet mit »Amelie de
Montmartre« (»Die fabelhafte Welt der Amelie«, Jean-Pierre Jeunet,
F/D 2001) gelungen ist, »ein durch und durch optimistisches Werk zu
drehen« (S. 140).
Mit dem Kommentar zu »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« (Fritz
Lang, D 1931) erklärt uns Frenzel Ganz den Wiederholungszwang des
Kindermörders Hans Beckert und die Bedeutung der Massenpsychologie
für den Konflikt zwischen Lynchjustiz und Rechtsstaatlichkeit im
präfaschistischen Deutschland.
Und für den verwirrenden Plot von »Being John Malkovich« (Spike
Jonze, USA 1999) bietet Frenzel Ganz uns eine erstaunlich klare
Interpretation an und bricht ihn herunter auf das Phänomen der
psychischen Bisexualität und den Wunsch nach Unsterblichkeit.
Dass in ihren Beiträgen wiederholt Wikipedia zitiert wird,
entspricht zwar höchstwahrscheinlich den
Informationsbeschaffungsgewohnheiten der meisten Leser*innen.
Trotzdem wäre es wünschenswert gewesen, für die Buchausgabe die
Originalquellen zu sichten und auszuweisen.
Lesevergnügen und -verständnis könnten ein wenig gesteigert werden,
wenn sich in den Kommentaren nicht Irrtümer und Fehler fänden. Da
werden mehrmals die Namen von Filmprotagonist*innen verwechselt,
wie im Beitrag von Fäh (»High Noon«): Amy und Helen (und damit
Ehefrau und ehemalige Geliebte), weniger tragisch bei Frenzel Ganz
(»Amelie de Montmartre«): Nico statt Nino, aber auch bei Salier:
Yilmaz (der Bruder in »Gegen die Wand«) und Acar (der Bruder im
Film »Die Fremde«). Markus Fäh vertut sich in der Angabe der
Handlungszeit in »American Beauty« und gibt einen Tag statt eines
Jahres an.
Unbenommen ist, dass das Buch großes Lesevergnügen bereitet, wenn
man die Filme kennt, was ja ganz dem Veranstaltungsformat
entspricht, zuerst die Filme zu sehen und im Anschluss zu
kommentieren und zu diskutieren. Wer einzelne Filme nicht kennt,
wird neugierig gemacht und erhält mit dieser Veröffentlichung eine
Liste sehenswerter Streifen mit überwiegend inspirierenden
Analysen. Und wer einzelne Filme schon kennt, möchte sie erneut
sehen, um den Beiträger*innen in ihren Gedankengängen zu folgen
oder auch sie zu verwerfen sowie schon Bekanntes zu vertiefen. Aus
fast allen Kommentaren spricht große Liebe zum thematischen
Gegenstand und zum jeweiligen Film.
Zur Zeitschrift:
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