Rezension zu Widersprüche des Medizinischen
Sexuologie – Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft, Band 24, Heft 3-4/2017
Rezension von Franziska von Verschuer
Mit ihrer Dissertation legt die Berliner Politikwissenschaftlerin
Katharina Jacke eine instruktive
wissenschaftshistorisch-genealogische Untersuchung von
Transsexualität als Kategorie medizinischen Wissens vor. Zu Beginn
des Buches positioniert sie sich als Tochter einer_s Trans*Mutter_
Vaters (9) und situiert damit ihr Erkenntnisinteresse an der
Regulierung des Lebens von Trans*Menschen durch die Kategorien der
Medizin.
Das Phänomen der Transsexualität erlangte erstmals in den 1950er
Jahren unter dem Begriff des »Geschlechtswechsels« besondere
Aufmerksamkeit von Medizinerinnen. Während seitdem einerseits ein
sukzessiver Prozess der Normalisierung von Trans* als
gesellschaftlichem Phänomen zu beobachten ist, bildet andererseits
die Medizin nach wie vor das primäre Regulativ für den
gesellschaftlichen und rechtlichen Umgang mit Trans*Menschen.
Jackes zentrales Anliegen ist es, »Strukturprinzipien des
medizinischen Umgangs mit der Krankheitseinheit Trans* zu
präparieren und gerade dadurch einen pointierten Einblick in deren
grundlegende Wirkmechanismen und die Wirkmechanismen des
Medizinischen zu erhalten« (307). In dieser Weise soll ein
Verständnis der Medizin als einer politisch agierenden
Ordnungsstruktur des Sozialen eingeführt werden.
Jacke zeichnet in ihrer Studie einen grundlegenden Wandel in der
Theoretisierung und Behandlung von Trans* seit Mitte des 20.
Jahrhunderts nach. Sie verweist auf die Bedeutungsverschiebung vom
ehemals als Transsexualismus bezeichneten Stigma der Perversion zu
Transsexualität als einer Pathologie, die medizinischer (anfänglich
vor allem chirurgischer) Intervention bedarf, und schließlich zu
einer bedeutsamen Identitätskategorie, deren Depathologisierung
zunehmend nicht nur von Trans*Personen, sondern auch vonseiten der
Medizin gefordert wird. Diese Verschiebungen analysiert Jacke unter
Rückgriff auf die theoretischen Begriffe des Mikrobiologen Ludwik
Fleck als »Denkstilumwandlung« (17). Damit beschreibt dieser einen
dauerhaften und sukzessiven Prozess der Transformation des
Wissensbestands eines Denkkollektivs.
Ein zentraler Aspekt der sozialkonstruktivistischen Theorie Flecks
ist die Einsicht, dass es keine letztgültige Erkenntnis gibt, da
jedes Erkennen immer an den Kontext eines bestimmten Denkstils
gekoppelt ist. Folglich ist jede »objektive« Wahrheit über das
Erkannte als historische, kontingente Interpretation des
Erkennenden zu verstehen. Jacke geht davon aus, dass sich auch die
Medizin stets in einem solchen Prozess der Denkstilumwandlung
befindet und dieser sich in wechselseitiger Dependenz mit den
Gegenständen ihrer Forschung vollzieht. Dies veranschaulicht Jacke
anhand des sich wandelnden gesellschaftlichen und medizinischen
Verständnisses von und Umgangs mit Trans*, welche zunehmend von
Liberalisierungsintentionen gekennzeichnet sind, die Jacke wiederum
in den Kontext eines gegenwärtig generellen (sozialpolitischen
Liberalisierungstrends stellt.
Nach einer Einführung in die theoretische und methodologische
Herangehensweise folgt zunächst eine
wissenssoziologisch-genealogische Analyse verschiedener
Vorstellungen von Geschlecht seit Mitte des 20. Jh. sowie von
Krankheit, hier verstanden als Opponentin variierender Normen bzw.
Normalitäten biopsychosozialer Gesundheit. Obwohl es dabei nicht
primär um die medizinische Kategorisierung von Trans* geht, ergibt
sich die Relevanz dieser Analyse daraus, dass Trans* in der Medizin
in erster Linie unter dem Vorzeichen Geschlecht und als
Krankheitseinheit ver- und behandelt wird. Dies wird auch im
zweiten Kapitel ersichtlich, in dem Jacke die Objektivierung und
Standardisierung von Trans* in den gängigen Diagnosekatalogen und
deren Überarbeitungen untersucht (DSM, ICD und den »Standards of
Care der World Professional Association for Transgender Health«).
Hier zeigt sie unter anderem die Diversifikation der
Klassifizierung von Trans* auf, die neben jenen, die einen
operativen »Geschlechtswechsel« wünschen, nun auch ›Transgender‹
und ›Gendernonconforming People‹ klinisch erfasst.
Dadurch erfahren zwar mehr Trans*Menschen Anerkennung und erhalten
Zugang zu medizinischer Hilfe, jedoch nur um den Preis ihrer
Pathologisierung. Dies steht wiederum im Widerspruch zu der unter
medizinischen Expertinnen zunehmend diskutierten und von einigen
geforderten Depathologisierung von Trans*. Jacke spricht daher vom
Paradox eines »depathologisierten Krankheitswertes« (118ff) und
leitet dieses aus dem Paradox der »regressiven Liberalität« (336)
her: Auf der einen Seite sind Expertinnen zunehmend an einer
Liberalisierung der Klassifikation und Behandlung von Trans*
interessiert, um Trans*Menschen eine Transition jenseits von
Operationen zu ermöglichen, da diese durchaus nicht von allen
gewünscht werden. Gleichzeitig wird die Krankheitskategorie Trans*
ausgedehnt, um mehr Trans*Personen Zugang zu klinischer Versorgung
zu gewähren, wodurch wiederum die Zuständigkeit der Medizin für
Trans* sowie das paternalistische Ärztin-Patientin-Verhältnis
zementiert werden. Letzteres zeigt sich vor allem darin, dass die
Entscheidung über klinische Behandlungsmaßnahmen erstens »als
Krankheitsmuster konzipiert (wird) und nicht (...) als mündige
Entscheidung von Patientinnen, die das (ihre Reproduktionsfähigkeit
und ihr Lustempfinden) einschränkende medizinische Angebot
möglicherweise ablehnen« (198). Zweitens wird diese Entscheidung
letztlich nach wie vor von den medizinischen Expertinnen
getroffen.
Dies und die konkreten physischen und nicht- bzw. pseudo-physischen
Behandlungspraktiken diskutiert Jacke im dritten Kapitel. Darin
schildert sie das Vorgehen und die Bedeutung von operativen
Körpermodifikationen an Genitalien und Brust sowie von
Hormonbehandlungen, von identitätsbezogenen psychologischen und auf
die Stimme gerichteten logopädischen Interventionen. Zuletzt geht
sie auf neuere Ansätze neurobiologischer Trans*Forschung ein, die
auf eine Synthese physischer und nicht-physischer
Geschlechtsmerkmale abzielen. In diesem Kapitel wird besonders
deutlich, wie die Vorstellung einer erfolgreichen Behandlung und
die Anerkennung von Trans*Menschen – ganz im Sinne des
medizinischen Begriffs eines Geschlechts›wechsels‹ – durch die
gesellschaftliche Norm der Zweigeschlechtlichkeit strukturiert
sind, deren Erfüllung von externen Beobachter innen beurteilt
wird.
Abschließend wendet sich Jacke der durch verschiedene
Binärkategorien gekennzeichneten Struktur des Denkstils zu, in
dessen Rahmen sie ,»(d)as medizinische Projekt Trans*« (335)
verortet und analysiert. Überzeugend erläutert sie, dass Binarismen
weniger essentialistisch zu verstehen, sondern in erster Linie als
Hilfskonstrukte wissenschaftlicher Ordnung aufzufassen sind, d.h.
dem wissenschaftlichen Wahrnehmen und Interpretieren dienen. Auch
hier betont sie noch einmal die politische Dimension
wissenschaftlichen Wissens, die aus einer solchen vorstrukturierten
Wahrnehmungsweise erwächst. Wie Jacke herausarbeitet, lässt sich an
der Realität der Behandlung von Trans* sowie am subjektiven Erleben
von Trans*Menschen in besonderer Weise demonstrieren, dass die
klassischen Gegensatzpaare Krankheit/Gesundheit,
Subjektivität/Objektivität, Psyche/Physis, sex/gender und
Natur/Kultur einander wechselseitig durchdringen. So schreibt
sie:
»Nicht allein sind chirurgisch und endokrinologisch hergestellte
Geschlechtszeichen per se als Hybride zu begreifen, denn die
menschlich-technische Intervention greift in die vermeintliche
›Natur des Geschlechts‹ ein. Vielmehr noch durchdringt das
Kulturelle geschlechtliche Naturvorstellungen, wenn deren Optik und
Funktionsweisen sich sozialen Kriterien unterwerfen müssen.« (329;
Hervorh. im Orig.) (1)
Die »Widersprüche des Medizinischen«, die der Titel des Buches zu
untersuchen verspricht, werden hier also als Verflechtungen
vermeintlich gegensätzlicher Sphären in den Blick genommen, die
jedoch in der Erforschung und Behandlung von Trans* als Gegensätze
aufrecht erhalten bleiben. Neuere Tendenzen diese Binarismen
aufzulösen interpretiert Jacke mit Fleck als »Widerstandsaviso/'
(...), das allen wissenschaftlichen Entwicklungen anhaftet und
neuen Denkstilen zur Existenz verhilft« (339). Aus dieser
Perspektive erscheint die Denkstilumwandlung gewissermaßen als
Selbstläufer und Jacke als externe Beobachterin, die diese Dynamik
lediglich beobachtet und beschreibt. Mit ihrer
(medizin-)soziologischen Studie ist sie jedoch selbst aktive
Diskursteilnehmerin und bringt zudem eine besondere und wichtige
Perspektive ein, die sie durchaus stärker für ihre kritischen
Absichten fruchtbar machen könnte. Am Ende des Buches kritisiert
sie, dass die beobachtbaren Transformationen der Kategorie Trans*
sich lediglich auf die Medizin und die ihr zugrundeliegenden
Klassifikationen erstrecken. Stattdessen plädiert sie für eine
»Transformation des Sozialen« (340), in deren Folge Trans* als
Normvariante anerkannt (anstatt als Normabweichung akzeptiert)
wird. Mit einer pointierteren Kritik an der unvermittelten
Anwendung der Dualismen, die Jacke zuvor als Hilfskonstrukte
wissenschaftlicher Beobachtung und Beschreibung entschleiert,
könnte sie ihre theoretischen Interpretationen deutlicher im Sinne
einer kritischen Intervention stark machen.
In diesem Sinne wäre es ihrem Anliegen außerdem zuträglich, eine
weitere Binärkategorie kritisch in den Blick zu nehmen, die die
gesamte Analyse in unterschiedlichen Explizitheitsgraden
durchzieht, jedoch nicht zum konkreten Analysegegenstand gemacht
wird. Gemeint ist das aporetische Verhältnis von
medizinisch-wissenschaftlicher Theorie und klinischer Praxis, das
sich beispielsweise darin zeigt, dass die Anerkennung von Trans*
als Normvariante mit der Folge einer Streichung der Kategorie aus
den Diagnosekatalogen gleichzeitig die medizinische Versorgung von
Trans*Menschen erschweren würde. Jacke weist zwar darauf hin, dass
medizinische Entscheidungen heute nicht mehr so sehr auf
»ontologischen Wahrheitskonzeption(en)« (328) basieren, sondern von
sozialen Vorstellungen getragen sind und dass Diagnosen trotz
zweifelhafter Eindeutigkeit häufig an das diagnostische System
angepasst werden, um eine Behandlungsindikation zu begründen. Doch
eine kritische Perspektive auf die Wissenschaft und ihr Verhältnis
zur klinischen Praxis, die die unvermittelte Anwendung
wissenschaftlicher Konzepte hinterfragt oder den universellen
Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Begriffe in Frage stellt,
verbleibt auf der Ebene impliziter Andeutungen.
Eine solche Kritik könnte jedoch fruchtbar sein, z.B. im Hinblick
auf die Frage, welchen konkreten Nutzen Medizinerinnen aus der
vorliegenden Studie ziehen könnten, deren ernsthaftes Interesse an
einer Depathologisierung von Trans*Menschen Jacke durchaus
anerkennt. Versteht man Wissenschaft, wie in der vorliegenden
Studie, nicht als Mittel zur Erkenntnis ahistorischer,
ontologischer Wahrheiten, sondern im Fleck/'schen Sinne als
»soziale Praxis des Erkennens« (352), erhalten wissenschaftliche
Kategorien und Klassifikationen einen anderen Stellenwert. Sie
werden so auch der Realität der klinischen Praxis gerechter, die
mitunter durch behandlungstechnische Notwendigkeiten gekennzeichnet
ist, wie beispielsweise dem Auftauchen von Trans* als Kategorie in
den Diagnosemanualen zur Gewährleistung des Zugangs zu
medizinischer Versorgung. Vor dem Hintergrund eines solchen
konstruktivistischen Wissenschafts- und Wahrheitsverständnisses
reformiert sich auch das Verhältnis von (De-) Pathologisierung und
(De-)Klassifizierung.
Wie sich zeigt, dient die zugrunde gelegte
sozialkonstruktivistische Perspektive der Analyse von Trans* als
einer Kategorie medizinischen Wissens in besonderer Weise, da sie
die dualistische Trennung von Trans* als Gegenstand einerseits
politischer und andererseits medizinischer Interventionen aufhebt
und die medizinische Forschung und Praxis selbst politisiert. Die
Studie ist weiterhin ein wertvoller Debattenbeitrag, weil sie sich
an der Schwelle zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Fragen
verortet und gleichzeitig auch diese Trennung kritisch hinterfragt.
Damit gibt sie in Bezug auf die Trans*Forschung den Auftakt zu
wünschenswerten transdisziplinären Auseinandersetzungen. Nicht zu
vergessen ist hierbei jedoch, wie Jacke vielfach betont, dass eine
solche kollaborative Expertise nicht nur von wissenschaftlichen
Akteur innen verschiedener Fachrichtungen entwickelt werden sollte,
sondern Trans*Menschen selbst als Betroffene und somit als eine
weitere und besonders wichtige Expert innengruppe einbeziehen
sollte.
Franziska von Verschuer (Frankfurt am Main)
(1) Die Modellierung eines Penis beispielsweise orientiert sich
eher an Normen wie dem als typisch männlich geltenden Pinkeln im
Stehen, als daran, ein sexuell sensitives Geschlechtsorgan zu
schaffen (196ff und 329f).