Rezension zu Therapeutik und Lebenskunst
Aufklärung & Kritik, Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Heft 59, März 2017, 24. Jahrgang, Nr. 1
Rezension von Robert Zimmer
Das Thema philosophische Lebenskunst, in der Spätantike noch im
Zentrum der Philosophie, war bis in die Moderne zu den
theologischen und schließlich, in Folge der Säkularisierung, zu den
psychologischen Seelsorgern abgewandert. Während die Philosophie
spätestens seit Foucault sich wieder bemüht, das verlorene Terrain
für sich zurückzugewinnen, besinnen sich andererseits auch wieder
Psychologen und Pädagogen auf die philosophischen Grundlagen ihrer
therapeutischen Praxis.
Günter Gödde, in Berlin praktizierender Psychotherapeut, und Jörg
Zirfas, in Köln lehrender Erziehungswissenschaftler, gehören zu
denjenigen, die diesen Brückenschlag schon seit vielen Jahren
praktizieren und sich intensiv mit den philosophischen Bezügen
ihrer praktischen und wissenschaftlichen Arbeit befasst haben.
Gödde ist insbesondere mit Arbeiten hervorgetreten, die den
Zusammenhang zwischen der Psychoanalyse und der Philosophie
Schopenhauers und Nietzsches beleuchten, darunter vor allem
»Traditionslinien des Unbewussten. Schopenhauer – Nietzsche –
Freud« (1999). Auch Zirfas hat sich, angeregt durch Foucault und
Wilhelm Schmid, schon sehr früh dem Thema Lebenskunst zugewandt und
zusammen mit A. Brenner bereits 2002 ein kleines »Lexikon der
Lebenskunst« (2002) verfasst (Rezension in A&K in Sonderheft
14/2008, S. 270f). Beide zusammen veröffentlichten, als Herausgeber
und Autoren, zahlreiche Aufsätze und Sammelbände zum Thema, u.a.
»Takt und Taktlosigkeit« (2012), »Lebenskunst im 20. Jahrhundert«
(2014) sowie zuletzt »Nietzsche und die Lebenskunst« (2016). Viele
der dort entwickelten Thesen sind in das vorliegende Buch
eingeflossen.
Das nun vorliegende, mehr als 700 Seiten umfassende »Therapeutik
und Lebenskunst« kann mit Recht als Summa all dieser Bemühungen und
gleichzeitig als ›opus magnum‹ der beiden Autoren gelten. Es ist
ein Buch, das den Zusammenhang zwischen philosophischen
Lebenskunsttheorien und psychologischen Therapiekonzepten
historisch und systematisch umfassend aufarbeitet. Die beiden
Autoren verfolgen dabei das Ziel, »psychotherapeutische Ansätze für
die Thematik der Lebenskunst aufzuschließen und Lebenskunstmodelle
und -aspekte mit therapeutischen Problemstellungen zu
konfrontieren« (S. 39). Philosophische Lebenskunst soll durch die
Anbindung an therapeutische Methoden praxisnäher werden, während
die Therapeutik von dem Verständnis einer rein technischen
Disziplin gelöst und ihre philosophische Grundierung sichtbar
gemacht werden soll. Der Faden, der Lebenskunst und Therapeutik
noch in der Antike verknüpft hat und der in der Neuzeit gerissen
ist, soll wieder geknüpft werden.
Der Zusammenhang zwischen philosophischer Lebenskunst und
Psychotherapeutik ist nach Ansicht der Autoren nicht nur eng,
sondern umfassend: Danach hat jede Form der Lebenskunst eine
therapeutische Grundlage und kann als eine Form der Psychotherapie
verstanden werden; andererseits sei jede Psychotherapie mit Fragen
des guten und gelungenen Lebens verknüpft.
Zur Stützung ihrer These haben die Autoren ein materialreiches
Kompendium zusammengestellt: Nach einem einführenden Kapitel (»Die
Wechselbeziehung zwischen Therapeutik und Lebenskunst«), in dem die
Autoren das Thema für den Leser öffnen, gehen sie in sechs weiteren
umfangreichen Kapiteln zunächst auf die Geschichte sowohl der
philosophischen Lebenskunst wie auf die, in der antiken Heilkunst
wurzelnde Geschichte der modernen Psychotherapie ein; ein eigenes
großes Kapitel widmet sich Freud als einem Bindeglied zwischen
Psychotherapie und philosophischer Lebenskunst, ein weiteres
behandelt ausgewählte psychoanalytische Therapierichtungen,
darunter die von Sandor Ferenczi, Theodor Reiks, Stavros Mentzos
und Irvin Yalom, dessen unorthodoxe Bücher über Schopenhauer und
Nietzsche zu Bestsellern wurden.
In den beiden abschließenden Kapiteln werden die Verschränkungen
zwischen beiden Bereichen und die Elemente resümiert, die in den
Augen der Autoren für eine philosophische bewusste Therapeutik
wesentlich sind. Hierbei spielen ästhetische und soziale
Kompetenzen eine besondere Rolle, die man mit den im Buch
diskutierten Begriffen »Geschmack« und »Takt« zusammenfassen kann
und mit denen sich beide Autoren schon in früheren Publikation
befasst haben. Wie weit ihnen bewusst war, dass sie hier ein Thema
fortführen, das in der Moralistik u.a. unter dem Begriff »esprit de
finesse« verhandelt wurde, ist nicht ganz klar. Unter den
theoretischen Vorläufern des Taktbegriffs wird die Moralistik
jedenfalls nicht erwähnt.
Dass es im letzten Kapitel um die »Bedeutung von
Lebenskunstkonzepten in der Therapie und Lebenspraxis« geht, macht
deutlich, dass das Hauptaugenmerk der Autoren darauf gerichtet ist,
das Selbstverständnis der Psychotherapeutik philosophisch zu
renovieren und nicht zuletzt die praktizierenden Kollegen für die
Fruchtbarkeit der philosophischen Lebenskunsttradition zu
sensibilisieren. Philosophische Lebenskunst, so soll verdeutlicht
werden, macht den Therapeuten die philosophische Grundierung ihrer
Handlungskonzepte bewusst. So findet, um nur ein Beispiel zu
nennen, das therapeutische Streben nach Balance, nach
Persönlichkeitsstabilität und Gleichgewicht in der antiken
Philosophie des Maßes ein Orientierungsmodell.
Klugerweise haben sich die Autoren angesichts des Umfangs des
Buches dazu entschlossen, auch innerhalb der Großkapitel immer
wieder Zusammenfassungen und Literaturangaben einzuschalten, was
die Orientierung des Lesers erleichtert und es auch ermöglicht,
einzelne Teilkapitel isoliert zu lesen.
Klar ist auch, dass die Autoren in ihrer Darstellung
philosophischer und psychologischer Theorien auswählen mussten. Was
die philosophische Lebenskunsttradition angeht, muss man
zugestehen, dass sie mit einer Ausnahme die wichtigsten Stationen
aufgegriffen haben: von der Antike über Montaigne und die
Moralistik, die Aufklärung, Schopenhauer, Nietzsche bis zu Foucault
und Wilhelm Schmid. Verdienstvoll auch, dass hier Kants seit langem
vernachlässigte Spätschrift von 1798, »Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht«, endlich einmal in ihrem richtigen, nämlich
lebenskunstphilosophischen Kontext gewürdigt wird. Leider wird der
Existentialismus von Kierkegaard bis Sartre, in dessen
Anthropologie und Ethik Konzepte wie Wahl, Freiheit und
Selbstbestimmung im Mittelpunkt stehen, in dem historisch
orientierten Kapitel 2 (»Philosophien der Lebenskunst«) ganz außen
vor gelassen. Existenzialistische Motive werden verstreut, so im
Abschnitt »Wahl eines Lebensentwurfs« in Kap. 7 (S. 648ff.)
behandelt.
Was die Geschichte der Psychotherapie angeht, so ist man etwas
erstaunt, dass Alfred Adler, der Begründer der
Individualpsychologie, weder im Buch erwähnt wird noch im
Literaturverzeichnis auftaucht, wo doch Adlers Spätwerk »Der Sinn
des Lebens« von 1933 sich genau mit der im Buch diskutierten
Thematik beschäftigt.
Was die Autoren in ihrer historischen Aufarbeitung zu Recht
feststellen, ist eine zunehmende Psychologisierung,
Emotionalisierung und Subjektivierung der Lebenskunstproblematik.
Zum einen ist das »Selbst-Verständnis« des Menschen als eines
rationalen Wesens spätestens mit der Diskussion um das »Unbewusste«
und »Unterbewusste« seit Freud – im Grunde aber schon seit
Schopenhauer – fraglich geworden. Zum anderen wird
Selbstverwirklichung zunehmend als subjektive »Selbstschöpfung«
(auch im Sinne von ›enhancement‹) verstanden. Gerade an dieser
Entwicklung zeigt sich, dass die Psychotherapie, die ursprünglich
aus dem philosophischen Lebenskunstzusammenhang entwachsen ist,
dessen Thematik nicht nur bewahrt, sondern entscheidend
weiterentwickelt und beeinflusst hat. Die Philosophie der
Lebenskunst kann heute nicht mehr an psychologischen Erkenntnissen
vorbeiphilosophieren.
Doch wie eng ist das Verhältnis von philosophischer Lebenskunst und
Psychotherapie wirklich? Eine der zentralen Thesen des Buches,
nämlich, »dass eine existenzielle Lebenskunst ohne Therapeutik
nicht zu haben ist« (S. 609), sollte man sich jedenfalls genauer
anschauen. Nach Ansicht der Autoren setzt »jedes Modell einer
therapeutischen Lebenskunst (...) mit einem bestimmten Leiden an
einem Nichtwissen oder Nichtkönnen ein« (S. 609) oder, wie es an
anderer Stelle heißt, mit einer »Erschütterung des Selbst« (S.
636). Jede Lebenskunst, so scheinen die Autoren zu suggerieren, hat
im Grunde therapeutischen Charakter. Hier muss man ein Fragezeichen
setzen. Denn das Thema Lebenskunst stellt sich für den Menschen
auch völlig unabhängig von der Erfahrung des Leidens oder der
»Störung« des Selbst. Es stellt sich nicht nur aus psychologischen,
sondern vor allem aus anthropologischen Gründen. Der Mensch
betreibt Lebenskunst, weil er, wie Nietzsche sagt, das »nicht
festgestellte Tier« ist, also ein Wesen, das seinem Selbst
eigenständig Gestalt verleihen muss. Diese Aufgabe stellt sich für
jeden und überall, unabhängig von Erschütterungserfahrungen.
Die Anlässe therapeutischer Aktivität sind deshalb nur
hinreichende, aber keine notwendige Bedingung des Aufbrechens der
Lebenskunstproblematik. Therapie ist zwar immer auf Lebenskunst,
Lebenskunst aber nicht immer auf Therapie bezogen. Wenn man, wie
die Autoren dies tun, den Therapiebegriff für jede Lebenskunst
fruchtbar machen will, dann verliert er an Schärfe. Lebenskunst
greift über Therapeutik hinaus. Genau deshalb ist es aber auch für
die Philosophie wichtig, die »Seelsorge« wieder aus der
ausschließlich psychologischen Umklammerung zu lösen und innerhalb
einer der praktischen Philosophie zugehörigen Philosophie der
Lebenskunst systematisch neu zu etablieren. Dies soll jedoch nicht
die Verdienste des Buches schmälern, das geeignet ist, die gesamte
Lebenskunstdiskussion auf eine wesentlich breitere,
interdisziplinäre Grundläge zu stellen. »Therapeutik und
Lebenskunst« kann mit Recht den Anspruch erheben, eine
psychologisch-philosophische Grundlegung zu sein. Das Buch baut
sowohl für Philosophen als auch für Psychologen tragbare Brücken
der Verständigung und macht historisch wie systematisch
Verbindungen sichtbar, die lange übersehen wurden. Eine eigene
Theorie der Lebenskunst stellen die Autoren nicht auf, aber sie
liefern dazu ein ganzes Arsenal von Bausteinen.
Ein kleiner Wermutstropfen liegt darin, dass die beiden Autoren bei
aller Gründlichkeit die Rezeptionsgewohnheiten des ›common reader‹
etwas aus den Augen verlorenhaben. Kompendien dieses Umfangs
erreichen normalerweise nur spezialisierte Fachleser. Deshalb ist
zu befürchten, dass dieses Buch seinen Platz vor allem auf den
Regalen wissenschaftlicher Institute finden wird. Das Buch verdient
aber eine breite Leserschaft. Um sie zu gewinnen, sollten sich die
beiden Autoren dazu entschließen, eine mindestens auf die Hälfte
gekürzte Paperback-Version zu veröffentlichen.