Rezension zu Vom Menschen in der Medizin
www.titel-kulturmagazin.net vom 26. Januar 2018
Rezension von Wolf Senff
Kulturbuch – Volker Roelcke: Vom Menschen in der Medizin
Nein, Schmerzen, das wäre nicht so sehr meins. Wenn ich versuche,
einen Nagel in den Tisch zu schlagen, wird mich das nicht zum
Fachmann in Sachen Schmerz befördern. Doch das Thema ist
aufschlussreich, es wirft die Gewichtungen der medizinischen
Forschung über den Haufen, und das ist offensichtlich gut so.
Von WOLF SENFF
Man hat den Eindruck, Volker Roelcke zeigt gründlich und
überzeugend, dass sich die gegenwärtige Medizin umorientieren muss,
wenn sie nicht in einer Sackgasse enden will bzw. aus der Sackgasse
heraus finden will, in der sie steckt. Er verweist auf eine Debatte
der zwanziger und dreißiger Jahre, ausgelöst durch einen Aufsatz
Ferdinand Sauerbruchs, in dem dieser auf die Grenzen der
Wissenschaft in der Behandlung erkrankter Menschen hinwies.
Grenzen der Wissenschaft
Eine Medizin, so Roelcke, die sich auf das theoretische und
methodische Repertoire von Natur- und Technikwissenschaften, auf
Informatik und Statistik reduziere, bleibe kurzsichtig. Bestenfalls
werde eine Krankheit erforscht, aber der kranke Mensch werde nicht
erfasst. Das ist ein kleiner, aber feiner und folgenschwerer
Unterschied.
Die Naturwissenschaften sind hilflos, sobald sie nicht über zähl-
und messbare Daten und Resultate verfügen. Wir erinnern uns an all
die so aufgeregt piependen und blinkenden bunten Apparaturen am
Krankenbett.
»Schulmedizin«
Schmerz ist ein Beispiel, an dem die Unzulänglichkeiten eines
naturwissenschaftlich orientierten Verständnisses von Medizin klar
werden. Schmerz ist nicht quantifizierbar: weder messbar noch
zählbar, Schmerz wird höchst subjektiv empfunden, die Reaktion auf
Schmerzen fällt oft nicht nur individuell, sondern auch durch den
jeweiligen kulturellen Hintergrund sehr verschieden aus.
Das ist Roelckes zentraler Vorwurf gegen eine traditionell
orientierte Medizin, die sich auf naturwissenschaftliche Diagnose-
und Therapieverfahren gründe. Sie sei reduziert, weil sie darauf
verzichte, den Patienten mitsamt seiner Krankheit auch aus dessen
Lebenszusammenhängen zu verstehen.
Soziale Kontexte
Doch Schmerz ist keine Krankheit, und Roelcke belässt es nicht bei
diesen Bemerkungen. Aus seiner Position heraus, dass die
wissenschaftliche Medizin einseitig sei und maßgebliche soziale und
kulturelle Zusammenhänge nicht erfasse, dekonstruiert er das
westliche Hirntod-Konzept, das seinerseits auf Wissenschaftlichkeit
gründe. Krankheit wie Tod würden als objektivierbare, messbare
Phänomene betrachtet.
Für Volker Roelcke ist das eine falsche, weil reduzierte
Sichtweise, er verweist auf Beispiele aus der hinduistischen
Mythologie und eines afrikanischen Volksstamms, bei dem der Tod als
Teil einer sozialen Ordnung rituell herbeigeführt, begleitet und
formalisiert werde.
Labormedizin
Detailliert zeichnet er die Entwicklung von Tierversuchen und
schließlich der medizinischen Forschung am Menschen nach, das eine
wie das andere finde in Laboren statt, und beides strebe nach
objektivierbarem Erkenntniszuwachs. Dieser könne jedoch nicht per
se als Ziel gelten, sondern müsse infrage gestellt werden, zumal
bei der Erforschung einer Krankheit die Sorge um menschliche
Versuchspersonen prinzipiell in den Hintergrund trete.
Sinnvoll sei, den potentiellen Wissenszuwachs im Vorwege an einem
Erwartungshorizont zu orientieren. Dabei müsse die Individualität
des Patienten und seiner Erkrankung im Mittelpunkt stehen, um die
Gefahr einer verselbstständigten medizinischen Praxis zu
vermeiden.
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