Rezension zu Destruktiver Wahn zwischen Psychiatrie und Politik
PSYCHE Heft 3 2007 61.Jg.
Rezension von Martin Altmeyer
Das Buch beginnt mit einem Raunen: »Der Wahn macht sich dem
Ungeheuer der Herrschaft gleich, das er leibhaftig nicht überwinden
kann«. Gleich im ersten Satz ihrer Einleitung berufen sich die
Herausgeber auf die Dialektik der Aufklärung und zitieren aus dem
Juliette-Exkurs, um die instrumentelle Vernunft ihrer Nähe zum
destruktiven Wahn zu überführen. Adorno und Horkheimer ziehen in
dieser Passage, in der es um die Perversion der Liebe beide Sade
und Nietzsche geht, eine gewagte Analogie: »die Einbildung von
Grausamkeit wie die von Größe verfährt in Spiel und Phantasie so
hart mit den Menschen wie dann der deutsche Faschismus in der
Realität« (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Querido
Verlag, Amsterdam 1955, 5. 136). Erst im vollständigen Zitat
erschließt sich die eigentliche Bedeutung dieser verführerischen
Analogiebildung: »Während jedoch der bewußtlose Koloß des
Wirklichen, der subjektlose Kapitalismus, die Vernichtung blind
durchführt, läßt sich der Wahn des rebellischen Subjekts von ihr
seine Erfüllung verdanken und strahlt so mit der schneidenden Kälte
gegen die als Dinge mißbrauchten Menschen zugleich die verkehrte
Liebe aus, die in der Welt von Dingen den Platz der unmittelbaren
hält. Krankheit wird zum Symptom des Genesens. Der Wahn [...1 macht
sich dem Ungeheuer der Herrschaft gleich, das er leibhaftig nicht
überwinden kann« (ebd., S. 136f.). Es ist die Analyse der
faschistischen Herrschaft als totaler, bis in die Triebstrukturen
und Wahnbildungen der Subjekte reichender Herrschaft des Kapitals,
an die Bender und Auchter Anschluß suchen.
Das von Adorno und Horkheimer geborgte Raunen ist programmatisch:
Die bekanntlich unter dem Eindruck des faschistischen
Zivilisationsbruchs im amerikanischen Exil geschriebene, 1944
veröffentlichte und zum Kultbuch der 68er-Generation gewordene
Dialektik der Aufklärung soll ins 21. Jahrhundert verlängert
werden. Heute verkörpert sich »der Wahn des rebellischen Subjekts«
im islamistischen Selbstmordattentäter und »das Ungeheuer der
Herrschaft«, gegen das er sich wehrt und dem er sich doch
gleichmacht, in der Inhumanität der kapitalistischen
Globalisierung. Originalton Bender/Auchter: »Während wir die
entsetzlichen Folgen des Faschismus und seiner Kriege noch lange
nicht überwunden haben, entstehen aus den Eigengesetzlichkeiten der
Hochtechnologie und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen neue
Möglichkeiten und Gefahren kriegerischer und insbesondere
terroristischer Aktionen mit wiederum massenvernichtenden Ausmaßen,
Der Narzißmus der Mächtigen und ihrer geschlossenen Gesellschaften
erweist sich dabei als eine direkte Ursache für die ohnmächtige Wut
der Verlierer und Gedemütigten. Aber den Gewinnern mußte jenseits
der Ideologie spätestens am 11. September 2001 klar werden, daß
ihrem eigenen, auf globale Verbreitung ausgerichteten
›Betriebssystem‹ permanent die Gefahr einer Sabotage durch andere
›Benutzer‹ innewohnt, die in ihren Folgen nicht weniger inhuman ist
als das System selbst« (S. 13). Schwerer erträglich noch als der
Jargon ist die Botschaft, die uns hier wie selbstverständlich
verkündet wird und irgendwie bekannt vorkommt: das Theorem einer
der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden strukturellen
Gewalt, auf das sich die RAF schon berufen hatte, um ihren
Todestrip zu rechtfertigen.
Zwar lesen wir, ebenfalls in der Einleitung, von der
»Machtstrategie eines hermetischen Weltbildes, wie es das
vergangene Jahrhundert der Ideologien mit ihren Todesfabriken
gezeigt hat«, und dürfen wohl annehmen, mit dem Plural seien
Faschismus und Kommunismus gemeint. Aber von jener zweiten
totalitären Ideologie ist anschließend nicht mehr die Rede. Vom
Gulag, von der Umdeutung von politischem Widerstand in
Verrücktheit, vom notorischen Mißbrauch psychiatrischer
Einrichtungen im Realsozialismus erfahren wir nichts in einem Buch,
das immerhin den »Wahn zwischen Psychiatrie und Politik« im Titel
trägt. Hat sich wirklich kein Autor, keine Autorin aus einem der
postsowjetischen Länder finden lassen, um entsprechende Erfahrungen
beizusteuern? Möglicherweise wäre die Hermetik im Weltbild der
Herausgeber dann erschüttert worden.
Exemplarisch für dieses unerschütterliche Weltbild – das links zu
nennen mir widerstrebt, auch wenn es dem linksintellektuellen
Mainstream entspricht – ist ein Beitrag von Götz Eisenberg (Die
Normalität gebiert Ungeheuer), der den zweiten Teil des Bandes
eröffnet. Er ist von einer kulturkritischen Selbstgewißheit
durchdrungen, die sich an spektakulären Ereignissen wie dem
Erfurter Schulmassaker bzw. der Entführung und Ermordung eines
Frankfurter Bankierssohns Bestätigung verschafft, indem sie die
Täter zu Produkten und Vollstreckern einer gesellschaftlichen
Pathologie erklärt. Ob die »monströsen Schulfabriken«, der
»Kältestrom der Leistungskonkurrenz«, das »Rattenrennen um Chancen
auf Arbeitsplätze«, die »fragwürdigen Produkte der westlichen
Kulturindustrie«, das »Gift, das den Apparaten entströmt [gemeint
sind die Computerspiele; M.A.]« oder eine Sozialisation mit
»bestenfalls flachen Anpassungsmustern, unter denen sich eine
weitgehend unsozialisierte, ja a-soziale Psyche« verbirgt – kein
Feuilletonklischee, keine Standarderklärung, keine
Verachtungsvokabel läßt der Autor aus, um der grassierenden
Unkultur den Prozeß zu machen. Seine universelle Strukturformel für
die Entstehung des Bösen: »Die Gewalt, die aus der Kälte
kommt«.
Aber woher kommt diese Kälte? Aus dem Kapitalverhältnis
selbstverständlich, aus der Tiefe von Tauschwert und Warenform: »Im
Zuge der kapitalistischen Vergesellschaftung frißt sich der
Kältestrom, der aus der Grundschicht der bürgerlichen Gesellschaft
– letztlich der Tauschabstraktion – entspringt, durch alle
Schichten des Gesellschaftsbaus hindurch, zehrt sozialmoralische
Traditionsbestände auf und dringt schließlich bis ins Innere der
Menschen vor, das er in eine Gletscherlandschaft eingefrorener
Gefühle verwandelt« (S. 243). Blade Runner, Endzeitstimmung,
Eiszeit – beim Lesen solcher Sätze kommt man selber ins Frösteln
und fragt sich, welcher gesellschaftlichen Erfahrung dieses
verschwafelt-verschwefelte Untergangsszenario entspricht, das in
der Metapher von der »sozialen Kälte« den Bogen zur gängigen Kritik
an Neoliberalismus und Globalkapitalismus schlägt.
Weitere gesellschaftskritische »Fallstudien« folgen. Eine befaßt
sich – ferndiagnostisch und hochspekulativ – mit der
Lebensgeschichte des amerikanischen Sektenführers Jim Jones (Thomas
Auchter). Eine zweite »rekonstruiert« – auf hauchdünner
Materialbasis und überdies aus zweiter, dritter und vierter Hand –
eine angeblich aus dem Jahre 1918 stammende psychiatrische Diagnose
zu Adolf Hitlers Persönlichkeit und stellt allen Ernstes die Frage,
was passiert wäre, wenn dieser sich damals hätte
psychotherapeutisch behandeln lassen (Roland Knebusch). Eine dritte
erklärt – mit Hilfe des psychoanalytischen Instanzenmodells – den
nationalsozialistischen Massenwahn zur »normalen« Folge der
totalitären Einschränkung kritischer Ich- und Überich-Funktionen
(Guy Lava!). In einem weiteren Beitrag wird tief endiagnostisch
über den Begriff »ground zero« als »Nullpunkt« sinniert und eine
Linie verwegener Assoziationen gezogen: vom Atombombenabwurf auf
Hiroshima und Nagasaki zum Terrorangriff auf New York und
Washington, von Harry S. Truman zu Mohammed Atta, von Freuds
Todestriebhypothese zum »Terroristischen in uns selbst« (Johannes
Döser). Nur das klassischpsychiatrisch verfaßte Porträt des
rechtsradikalen Bombenlegers Franz Fuchs, der in Osterreich eine
»Bajuwarische Befreiungsarmee« erfunden hat (Reinhard Haller; sein
Beitrag scheint auf einem Gerichtsgutachten zu beruhen; eine
entsprechende Quellenangabe findet sich allerdings nicht), fällt
aus dem überspannten Rahmen heraus, der die Beiträge dieses zweiten
Teils unter der Überschrift »Der destruktive Wahn in Gesellschaft
und Politik« zusammenhält.
Dieser Sammelband wäre völlig mißglückt, wenn er in seinem ersten
Teil (»Der destruktive Wahn im Rahmen der forensischen
Psychiatrie«) von Autoren, die in Strafanstalten oder im
sogenannten Maßregelvollzug therapeutisch gearbeitet haben oder
noch arbeiten, nicht doch Lesenswertes zum tatsächlichen Umgang mit
Wahnkranken enthielte. Thomas Bender betrachtet die forensische
Psychiatrie unter einem sozialgeschichtlichen und
sozialphilosophischen Blickwinkel, bevor er an den Fallgeschichten
zweier psychisch kranker Straftäter illustriert, wie diese in den
Strukturen der Anstalt ihre innere Welt in Szene setzen. Klaus von
Tuinen berichtet aus der fortgeschrittenen psycho- und
soziotherapeutischen Praxis der holländischen Forensik. Frank
Urbaniok und Mirella Chopard schildern ihre Erfahrungen mit der
stationären Behandlung psychisch kranker Straftäter im Kanton
Zürich. Wilhelm Jakob Nunnendorf schreibt über analytisch
orientierte Supervision im Maßregelvollzug. Psychoanalytische
Überlegungen zum therapeutischen Umgang mit Straftätern in
geschlossenen Einrichtungen stammen von Udo Rauchfleisch, der sich
an den Theorien von Kernberg und Kohut orientiert
(Struktur/Strukturlosigkeit), und von Thomas Auchter, der sich eher
auf Winnicott beruft (Rahmen, Halt, Grenze).
In den 1970er Jahren war eine ganze Generation von angehenden
Psychotherapeuten, Pädagogen und Sozialarbeitern der Auffassung,
seelische Deformationen jeglicher Art seien im Grunde von den
Verhältnissen verursacht. Schuld am Elend trügen die bürgerliche
Familie, die kapitalistische Gesellschaft oder der autoritäre Staat
mit seinen mehr oder weniger totalitären Institutionen. In einem
»wilden« Anwendungsdiskurs wurde das klinische Vokabular der
Psychoanalyse dermaßen überdehnt, daß am Ende die
Psychopathologisierung der Lebenswelt mit einer politischen
Instrumentalisierung von Patienten in psychiatrischen
Einrichtungen, von dissozialen Jugendlichen in Erziehungsheimen
oder von Straftätern im Maßregelvollzug einherging. Der für
Helferprofessionen typische Hang zur Viktimisierung der eigenen
Klientel traf dabei auf die Bereitschaft vieler ihrer Klienten,
bewußt oder unbewußt die ihnen angetragene Opferrolle zu
übernehmen, gegen die nun Widerstand zu leisten war ein kollusives
Bündnis, das unter dem Kampfruf »Aus der Krankheit eine Waffe
machen!« oder »Macht kaputt, was Euch kaputt macht« therapeutisch,
sozialpädagogisch und politisch geradewegs in die Sackgasse führte,
gelegentlich auch in die persönliche Katastrophe.
Abweichendes Verhalten galt damals als Symptom, in dem sich, wenn
auch den Akteuren nicht bewußt und auf unproduktive Weise, der
Protest gegen die krankmachenden Normen des verhaßten »Systems« –
wahlweise der Spätkapitalismus, die Ausbeutergesellschaft, die
verwaltete Welt oder das Schweinesystem – ausdrücken sollte: Die
gesellschaftlichen Randgruppen verkörperten das neue revolutionäre
Subjekt, nachdem das Proletariat an seiner historischen Aufgabe
gescheitert war und sich angepaßt hatte. Theoretisch schöpften wir
aus einem wiederbelebten, durch Konzepte der Antipsychiatrie
angereicherten Freudomarxismus, bedienten uns beim französischen
Poststrukturalismus oder übernahmen die Denkfiguren der Kritischen
Theorie der Gesellschaft, die wir freilich durch eine »Kritische
Theorie des Subjekts« zu ergänzen suchten. In den
bundesrepublikanischen Zuständen erkannten wir die Schatten
Nazideutschlands, zumal uns der Faschismus ohnehin als brutale
Sonderform der Herrschaft einer Bourgeoisie galt, die sich in der
Demokratie bloß subtilerer Herrschaftsmittel bediente: Wer vom
Kapitalismus nicht reden wolle, solle vom Faschismus schweigen. Was
Götz Aly in seinem Buch über den nationalsozialistischen
Wohlfahrtsstaat belegt (Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und
nationaler Sozialismus. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005), daß
nämlich die faschistische Massenbewegung in Deutschland ihrerseits
von einem sozialrebellischen, antibürgerlichen,
antikapitalistischen Ressentiment getrieben war, das sich in der
arischen Volksgemeinschaft ausleben ließ und vor allem gegen »das
internationale Finanzkapital« in Gestalt des »reichen Juden«
richtete, dessen Hab und Gut man sich skrupellos aneignen durfte,
das hätten wir auch vor dreißig Jahren schon wissen können.
Die hochfahrende Moral jener Zeit der Revolte, in die sich so
manche familiendynamisch aufgeladene Projektion mischte, die
demonstrative Identifikation mit den Ikonen der Weltrevolution, die
totalitären Utopien, denen wir im Kampf für eine befreite
Gesellschaft selber anhingen, die Macht- und Ohnmachtsphantasien,
die wir pflegten, das geschichtsphilosophische Pathos, der
kulturkritische Furor, die soziodiagnostische Obsession im
Rückblick wirken diese Turbulenzen unserer Spätadoleszenz
einigermaßen bizarr. Alter, reifer und klüger geworden, erzählen
wir unseren staunend zuhörenden Kindern, was wir in unserer Jugend
alles geglaubt, gedacht und gemacht haben, wo wir uns geirrt haben
und weshalb wir die Dinge heute anders sehen. Wie man es schafft,
unbeirrt den alten Überzeugungen treu zu bleiben und die eigene
Trauerarbeit intellektuell zu verweigern, demonstrieren Thomas
Bender und Thomas Auchter mit ihrem Buch. Das Projekt einer
psychoanalytischen Sozialpsychologie rettet man auf diese Weise
nicht: Wer Aufklärung betreiben will, kommt um Selbstaufklärung
nicht herum.