Rezension zu Gesellschaft und Subjektivität (PDF-E-Book)
Newsletter des Fortbildungsinstituts für Supervision (FiS), Nr. 10, April 2017
Rezension von Jürgen Kreft
Im supervisorischen Alltag erleben wir immer wieder, wie sich
soziale und psychische Prozesse überlagern und gegenseitig
beeinflussen. Die organisationsspezifischen Strukturen und die
berufsbezogenen Rollen können nur adäquat ausgefüllt werden, wenn
die Mitarbeiter*innen über bestimmte psychische
Verarbeitungsmöglichkeiten verfügen, die von der sozialen Situation
gefordert sind. Andererseits produziert das soziale Gerüst
psychische Nebenwirkungen, mit denen die Akteure erst einmal fertig
werden müssen. Weil dies so ist, wechseln wir in unseren Beratungen
häufig die Perspektive: mal legen wir den Schwerpunkt auf eine
soziologische und dann wieder kontrastierend auf eine
psychodynamische Betrachtungsweise. Da wäre es doch hilfreich, wenn
wir auf eine Theorie zurückgreifen könnten, die beides miteinander
verbindet.
Mit der Frage, wie soziologische Analysen mit einem Verständnis
manifester und latenter Psychodynamik verbunden werden können,
beschäftigt sich der Soziologe Johann August Schülein schon seit
geraumer Zeit.(1) In seiner aktuellen Veröffentlichung
»Gesellschaft und Subjektivität« versammelt er bereits an anderer
Stelle veröffentlichte und unveröffentlichte Aufsätze und gibt so
einen Einblick in sein »work of progress« zur Kooperation von
Soziologie und Psychoanalyse.
Im ersten Aufsatz zur »Erinnerung an die Psychoanalyse« skizziert
er die schwierige Beziehung zwischen Soziologie und Psychoanalyse
und macht darauf aufmerksam, dass letztere zum Verständnis sozialer
Phänomene ein interessantes Erklärungspotential zur Verfügung
stellen könnte. Für die Soziologie – so Schülein – ist das aktuelle
psychoanalytische Wissen vor allem dort interessant, wo eine
Theorie des Subjekts gefragt ist, bzw. wo es um Subjektivität auf
der Ebene der sozialen Situation im Zusammenhang mit sozialen
Beziehungen, in Hinsicht auf Gruppen und Organisationen, und im
sozialgeschichtlichen Kontext geht.
In der »Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse« – so der
Titel des zweiten Aufsatzes – hat es einige Versuche einer
psychoanalytischen Sozialpsychologie und einer psychoanalytischen
inspirierten Soziologie gegeben. Im Mainstream der Soziologie hat
dies keinen bleibenden Niederschlag gefunden, was auch damit zu tun
hat, dass die Entwicklung der Soziologie mit Durkheim Soziales nur
durch Soziales erklären wollte und die Nachbarwissenschaften
ignorierte. Dies hat folgenschwere Nebenwirkungen, da die
Soziologie in der Beschränkung nur ein begrenztes
Subjektverständnis entwickeln konnte, das nur unzureichend die
Dialektik von sozialer Realität und Psyche einbezieht, während die
Psychoanalyse zum Verständnis von sozial relevanter Dynamik ein
relevantes Modell anzubieten hätte.
In den beiden folgenden Aufsätzen geht es folgerichtig um die
Probleme der Soziologie mit einer Handlungstheorie und den
Möglichkeiten, die sich aus der Berücksichtigung psychodynamischer
Sichtweisen ergeben. Die Soziologie untersucht das Handeln und
die
Interaktion von Handelnden aus der Perspektive der sozialen Genese,
der sozialen Funktionsweise und Problemlage. Ohne die
Berücksichtigung psychodynamischer Faktoren aber lässt sich dies
nur unzureichend beschreiben, da sie in allen Situationen als
stabilisierender oder potentiell dynamisierender Faktor beteiligt
sind. Dies fällt zunächst nicht auf, wenn die beteiligten Akteure
in der Lage sind, die unterschwellig wirksame Psychodynamik zu
kontrollieren. In diesem Fall ermöglicht die Situation planmäßige
Handlungen ohne einen großen Bedarf an bewusster Kontrolle. Die
Handelnden haben eine übereinstimmende Vorstellung von der Szene
und realisieren erwünschte Übertragungen. Aber nicht alle
Situationen können die Psychodynamik kontrollieren und für ihre
Zwecke nutzen. Deutlich häufiger erleben wir durch manifeste oder
latente Dynamik dominierte Situationen. »Situationen und ihre
Entwicklung lassen sich nur dann angemessen verstehen, wenn die
Dialektik von sozialen und psychodynamischen Prozessen
berücksichtigt wird. Situationen brauchen und erzeugen
Psychodynamik; Akteure bringen Psychodynamik ein, die die soziale
Realität beeinflussen und bestimmen kann.« (S. 135)
Um soziökonomische Prozesse in ihrer vollen Komplexität zu
erfassen, braucht es eine Subjekttheorie, die es erlaubt, sowohl
Eigendynamik als auch soziale Formatierung zu verstehen. Vor allem
wenn man sich mit Themen wie Personalmanagement, Führung, Status
und Karriere, Organisation u.v.a.m. beschäftigt, wird eine
Auseinandersetzung mit der Subjektivität der Handelnden dringend
benötigt.
Am Beispiel »Kaufen« lässt sich gut verdeutlichen, wie und in
welchem Ausmaß psychodynamische Faktoren in sozioökonomischen
Themen präsent und aktiv sind. Wenn wir etwas kaufen dient dies
nicht ausschließlich der Bedürfnisbefriedigung, sondern es geht
immer auch um Fragen der Ich-Grenzen, des Austausches mit der
Umwelt und der narzisstischen Balance. Demonstrativer Konsum ist
wird zu einem Mittel der Selbstinszenierung und der Erwerb und der
Gebrauch von Gütern zu einem Teil der sozialen Distinktion: Konsum
wirkt identitätsstiftend. Aus soziologischer Sicht geraten
vorrangig die Fragen nach Zugehörigkeit und Abgrenzung in den
Fokus. Aus psychodynamischer Sicht hat Konsum »auch eine
narzisstische Dimension: Es geht auch um Selbstwertbalance und
deren Facetten. Wo sie aktiviert werden kann, werden die sozialen
Mechanismen gestützt und angefeuert durch psychodynamische
Konfigurationen. Die narzisstische Seite des Umgangs mit Produkten
impliziert immer auch Formen der Selbstidealisierung und
entsprechenden magischen Zuschreibungen.« (S. 172)
Eine Subjekttheorie hat zu berücksichtigen, dass sich die
gesellschaftliche Struktur und die Art und Weise ihrer Steuerung
verändert haben. Im Übergang »Vom ›autoritären‹ Charakter zum
›flexiblen Menschen‹« – so der Titel eines Aufsatzes – haben sich
Sozialisationsmilieu und damit verbunden die soziale und
persönliche Identität verändert. Deutlich wird dies am Wandel der
Vorstellungen über die Familie und den Beziehungen zu den Kindern.
Von der Vormoderne bis zur (Post-)Moderne haben sich die
Institution der Familie und die Eltern-Kind-Beziehungen von einer
Orientierung an traditionellen Beziehungswerten über eine moderate
Veränderung von Elternrolle und Kinderbild bis hin zu einer
radikalen Modernisierung entwickelt. Am Ende existieren alle Formen
nebeneinander – und die Identitätsbalance wird zur
Daueraufgabe.
In der Auseinandersetzung mit »Parsons und die Psychoanalyse« – ein
bisher noch unveröffentlichter Aufsatz – lotet Schülein noch einmal
grundsätzlich die Möglichkeiten einer Verknüpfung von Soziologie
und Psychoanalyse aus. Bei aller berechtigten Kritik am
strukturell-funktionalen Ansatz und an der verzerrten Verwendung
psychoanalytischer Perspektiven bietet Parson wichtige Hinweise auf
die Beziehung von Psyche und Gesellschaft. Allerdings hat sich die
Psychoanalyse seit Freud, auf den sich Parson bezieht in erster
Linie, erheblich weiterentwickelt. Beiden Weiterentwicklungen sind
vor allem – soweit es vorrangig um die Verwendung in der Soziologie
gehen soll – die Sozialisationstheorie und das
Persönlichkeitsmodell von Bedeutung.
Zum Abschluss veranschaulicht J.A. Schülein die Verbindung
soziologischen und psychoanalytischen Denkens an den
»Schwierigkeiten im (soziologischen) Umgang mit Emotionen« und den
»Soziologischen und psychoanalytischen Theorien von Macht«. Die
Auseinandersetzung mit dem »Macht«-Thema zeigt abschließend, wie
schwierig und gleichzeitig wie notwendig es ist, die beiden
theoretischen Perspektiven miteinander zu verbinden: »Es ist wenig
sinnvoll und unproduktiv, Machtverhältnisse auf persönliche
Eigenschaften von Personen zu reduzieren. Umgekehrt ist die
Beschreibung von Machtverhältnissen ohne Personal, das entsprechend
sozialisiert und selegiert ist, unvollständig und blutleer.
Prinzipiell sind soziale Gegebenheiten auf Personal angewiesen,
allein sind sie leere und unbewegte Formen. Auch Macht muss
praktiziert werden, auch wenn sich soziale Macht nicht auf deren
praktische Verwendung reduzieren lässt. Die praktische Anwendung
erfolgt jedoch nach den Regeln der Psychodynamik, die keine
Verdopplung der sozialen sind...« (S. 295)
Insofern ist die soziale Matrix allein nicht ausreichend. Das
Soziale wird durch bewusste und unbewusste Bedürfnisse aufgeladen –
und dadurch ein Stück weit schwer steuerbar. Sobald zwei Menschen
miteinander interagieren, entwickelt sich vor dem Zusammenspiel von
Übertragung und Gegenübertragung ein dynamisches Beziehungsmuster.
In unserer supervisorischen Arbeit erleben – und »erleiden« – wir
dies. Es zu erkennen, beschreibbar und mitteilbar zu machen, würde
unserer Arbeit gut tun. Die Aufsätze von J.A. Schülein bieten dabei
eine Fülle von Anregungen.
Johann August Schülein studierte Soziologie, Psychoanalyse und
Philosophie in Gießen und Frankfurt. Von 1985 bis 2015 war er als
Professor am Institut für soziologische und empirische
Sozialforschung der Wirtschaftsuniversität Wien tätig. J. A.
Schülein ist schon früh auch von der Supervisorenszene rezipiert
worden. Seine »Theorie der Institution – eine
begriffsgeschichtliche und konzeptionelle Analyse« von 1987 war
Grundlagentext in vielen Ausbildungsgängen. Und sein Aufsatz zur
Entwicklung selbstreflexiver Kompetenz von 1998 (veröffentlicht in
Forum Supervision Heft 12) hatte einen nicht zu unterschätzenden
Einfluss auf die supervisorische Konzeptionsentwicklung.
Jürgen Kreft
(1) Erinnert sei an dieser Stelle nur an »Soziologie und
Psychoanalyse. Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen
Subjekttheorie« (2015) sowie – gemeinsam mit Rolf Haubl –
»Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften. Wegweiser eines
Dialogs« (2016) und – gemeinsam herausgegeben mit Hans-Jürgen Wirth
– »Analytische Sozialpsychologie. Klassische und neuere
Perspektiven« (2011).
www.fis-supervision.de