Rezension zu Geschlechtersensible Beratung

supervision – Mensch Arbeit Organisation, 35. Jahrgang, Heft 4, 2017

Rezension von Susanne Graf-Deserno

Die drei Autorinnen legen ein 440 Seiten umfassendes Buch vor. In neun Kapiteln werden sowohl begriffsgeschichtliche als auch politische Kontexte der Geschlechterforschung und -politik sowie verschiedene sozialpädagogische Praxisfelder der Beratung dargestellt. Die Autorinnen haben den Anspruch, eine Lücke zu füllen, und sprechen im Vorwort von einer »strukturellen und theoretischen Geschlechterabstinenz der Wissensproduktion zur Profession und zum Arbeitsfeld ›Beratung‹«. Im 1. Kapitel betont K. Gröning programmatisch, dass »die geschlechterreflexive Beratung« die ökonomischen und politischen Strukturen in den Blick rücken müsse, durch die das, was unter dem Männlichen und dem Weiblichen zu verstehen sei, »befestigt und reproduziert« werde. Diese »Konstruiertheit« des Männlichen und Weiblichen sei in den Erzählungen der Ratsuchenden aufzuspüren. Allerdings, so K. Gröning, sei mit dem Gedanken der »sozialen Konstruiertheit« auch das Aufgeben der gesellschaftspolitischen Implikationen der »alten feministischen Beratung« einhergegangen. In einem historischen Rückblick erinnert K. Gröning aber auch an die Fehldeutungen in der politisch motivierten Geschlechterforschung der 70er-Jahre. Es sei problematisch gewesen, wenn Ergebnisse von Untersuchungen stets unter der Vorannahme einer »allgemeinen Unterdrückungstheorie« interpretiert worden seien. Des Weiteren thematisiert K. Gröning die Psychologisierung und Therapeutisierung feministischer Praxis und ihre damit einhergehende Entpolitisierung. Sie bezieht sich auf die Wende in der Geschlechterforschung durch Judith Butlers 1990 in Deutschland herausgegebenes Buch: »Das Unbehagen der Geschlechter« und verweist auf die Psychotherapie- und Beratungskritik der 80er- und 9oer-Jahre. Für eine kritische Beratungswissenschaft in geschlechterorientierter Perspektive diskutiert K. Gröning Foucaults Wissenschaftskritik an einer Medizin, die den Patienten vergisst, um die Krankheit zu erklären. Deshalb postuliert sie einen »empathischen Wissenschaftsbegriff«. Für ihren Ansatz bestimmend ist Pierre Bourdieu mit dem Anspruch an eine Soziologie als reflexive Wissenschaft, die eine affektive Dimension enthalte. Dieser Grundgedanke im Buch regt zu genauerem Nachforschen an, denn gerade dieser Aspekt fehlt bei Bourdieu in einer ausgearbeiteten Form. K. Gröning sieht in W. Bion den Pioniet für die affektive Dimension und die empathischen Vorgänge. Die neuere Emotions- und Affektforschung sowie die Arbeiten zur Mentalisierung und Bindungsforschung tauchen in den theoretischen Ausführungen nicht auf. Auch fällt hin und wieder eine wenig plausible Kritik an systemischen Ansätzen auf, vor allem am Begriff der Ressourcenorientierung als einem Begriff, der von K. Gröning den »gouvernementalen, amtlichen und formalen Beratungsformen« zugeordnet wird. Um die Lücke in der »Wissensproduktion«, wie die Autorinnen sagen, zu füllen, wäre es schön gewesen, eine systematische Diskussion über Fall rekonstruktive qualitative Forschung im Beratungsfeld einzufügen, in der die von ihr geforderte Einheit von Empathie und logischem Verstehen eine praktische Fundierung erfahren könnte. Hilfreich ist der Text unter dem Titel »Feministische Beratung«, will man in historischer Perspektive die Entstehung der Beratungsprofession und die Dilemmata zwischen geschlechterpolitischer Parteilichkeit und Professionalität nachvollziehen. Gleichzeitig erfahren die Leserinnen und Leser etwas über die verschiedenen Beratungsgebiete, Gewalt gegen Frauen, Beratung zum §218 etc., die in Verbindung mit der feministischen Bewegung entstanden sind. Unter dem Titel »Beratung und Gleichstellungsbewegung« wird eine interessante Darstellung des veränderten Verhältnisses feministischer Debatten zu staatlichen Einrichtungen gegeben und gezeigt, »wie sehr die Benachteiligung von Frauen in den Strukturen und Abläufen amtlicher und institutioneller Beratung und Hilfe eingegossen war«. Während die ursprünglichen Projekte in alternativen Sozialmilieus stattfanden, so K. Gröning, sei nach und nach ein Umdenken im Hinblick auf die staatlichen Einrichtungen und ihre Akteure entstanden, mit denen die Frauen begonnen hätten zu kooperieren. Diese Veränderung habe vor allem mit menschenrechtlichen Denkweisen zu tun, die bislang nicht im Rechtsbewusstsein verankert gewesen seien. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt allerdings sei Beratung an traditionellen Geschlechterbildern orientiert geblieben. Man räume in den Arbeitsämtern persönlichen Beratungsanspruch ein, der jedoch durch Bürokratismus, Geschlechterideologie und Kontrolle wirkungslos bleibe. Die Kritik daran habe zu frauenfreundlicheren Gleichstellungseinrichtungen geführt. K. Gröning macht auf die Wirkungen der feministischen Sozialstaatsanalyse aufmerksam, welche die Ursache der »Feminisierung von Armut« aufgezeigt und zur Umgestaltung und Modernisierung des weiblichen Lebenszusammenhangs beigetragen habe. Zugleich verweist sie auch auf die verschiedenen problematischen »Nebenwirkungen« dieses Modernisierungsprozesses. Durch ihn hätten sich die Lebensphasen derart verändert, dass für die aufeinanderfolgenden Entwicklungsaufgaben weniger Zeit bleibe. Wo das junge Erwachsenenalter noch Zeit der Selbstverwirklichung gewesen sei, sei es inzwischen eine Phase zunehmend sorgenvoller Sicht auf die Gestaltungsaufgaben mit Gefühlen der Überforderung durch Beruf und Familienplanung. Gut qualifizierte Frauen neigten dazu, die Sorgearbeit mit Kindern und Familienangehörigen kleinzureden und einseitig die Selbstständigkeit der Kinder ins Zentrum des Erstrebenswerten zu rücken. In diesem Kapitel wird erkennbar, welchen Verleugnungen junge Erwachsene in der Deutung ihres Lebensentwurfs erliegen können. Der Affekt der Scham, den Anforderungen nicht zu genügen oder gar das Augenmerk zu sehr auf die Verantwortung für Kinder und Privatleben zu richten, eben jenen Reproduktionsbereich, der gering geschätzt und missachtet wird, reguliere zunehmend die Verhaltens- und Argumentationsweisen. Eine nicht gelingende, eventuell zur Armut führende Existenz könne nicht mehr gerechtfertigt werden, weil die Individuen selbst zuständig für Gelingen und Misslingen der Biografie in jedweder Hinsicht seien. Der Einblick in die Strukturen amtlicher Beratungen präsentiere das Bild einer wirkungslosen, die Ratsuchenden mit Eigenverantwortung für ihre soziale Lage überlastenden Kommunikationsstruktur. Im vierten Kapitel konzeptualisiert K. Gröning Beratungshandeln nach der Habitustheorie von Pierre Bourdieu. Wichtig in diesem Theorieansatz sei es, dass nicht mehr dem freudschen Unbewussten nachgespürt wird, sondern den nicht wahrgenommenen, weil inkorporierten, habitualisierten Geschlechterideologien und Geschlechterperformanzen. Ganz dem Aufklärungsimpetus verpflichtet, gelte es, sie bewusst zu machen, um sie zu verändern. Der Ansatz scheint einer Pathologisierung nach dem Muster therapie-orientierter Vorgehensweisen im Beratungsprozess gegenzusteuern. Allerdings möchte man sich eine konzeptvergleichende Diskussion wünschen. Stattdessen fügt K. Gröning den »Beitrag der Psychoanalyse« in Gestalt der Konzepte von Bion hinzu, ohne zu thematisieren, ob die Metaphorik der neokleinianschen Schule hilfreich und forschungsverträglich ist. K. Gröning spricht unbekümmert von der »seelischen Entgiftung« und ignoriert Ansätze einer intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse, die über Bion hinausgehen. In Kapitel 5 und 6 werden erfahrungsgeleitete Berichte vorgestellt. Von B. Schaub wird über die rechtliche Situation Erwerbsloser und Alleinerziehender im Kontext amtlicher Beratung berichtet. A. Eggert-Schmid Noerr thematisiert aus der Pflegekinderhilfe »komplexe Vermittlungsprozesse«, in denen männliche oder weibliche Handlungsmuster im Sinne des Doing Gender hervorgebracht werden. Nahe an den Fällen stellt die Autorin zunächst geschlechtsunspezifische und sodann geschlechtsspezifische Erlebnis- und Verarbeitungsweisen der Entwicklungskonflikte dar. Sie problematisiert zugleich das Dilemma, dass die binäre Beschreibung von Männlichem und Weiblichem die Gefahr berge, die Geschlechterstereotypien zu befestigen. Wer sich für die genderorientierte Beratungsdebatte unter Berücksichtigung der Habitusanalyse Bourdieus interessiert, findet im 7. Kapitel fünf Beiträge hinsichtlich berufsbezogener Entwicklungsaufgaben. Gerd Tomaschautzky belegt seine These, dass Berater in einem Jobcenter nicht anders könnten, als aus ihrer eigenen Habitusformation heraus Beratung zu betreiben, weshalb es gelte, diese »Strukturen des eigenen Handelns zu reflektieren«. Sodann wird von U. Keiper und M. Kleine eine interessante Übersicht über neun Artikel aus der Zeitschrift ›Forum Supervision‹ gegeben. Die Autorinnen resümieren, dass man »die Gefahr stereotyper Zuschreibungen und Essentialisierungen« in einer geschlechtersensiblen Beratung im Blick behalten müsse. M. Bredemann erläutert an einem Beratungsfall einige Kategorien von Bourdieu – Klasse und Geschlecht, sozialer Raum, ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital – und bezieht die Habitusanalyse auf jene Effekte der Modernisierung des weiblichen Lebenszusammenhangs, die zu Selbstzuschreibungen führen. Sie argumentiert auf diese Weise gegen Personalisierung im Beratungsprozess und nimmt an, dass »die Aufdeckung des Habitus (...) eine entlastende Funktion für die Supervisanden haben (könne), (...), dass das Leiden – auch oder insbesondere – auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen (sei), wodurch sich die Person von dem Gefühl des Selbstverschuldens (...) lösen (könne)«. Ähnlich versteht V. Rumpold die »Habitustransformation« in der Supervision von Führungskräften. E. Rohr hingegen diskutiert in psychoanalytischer Tradition Übertragungskonstellationen und favorisiert komplementäre Geschlechtszuschreibungen in einer unhinterfragten Begrifflichkeit der Psychoanalyse: So heißt es, Frauen lernten mehr über die »ödipale Welt von Differenz, Unabhängigkeit, Konkurrenz, Macht und Erfolg« durch einen männlichen Supervisor; Männer hingegen bei einer Supervisorin »über die präödipale Welt von Bindungen, über Abhängigkeiten, Empathie, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit«. Das 8. Kapitel enthält sechs informative Artikel zum Thema »Geschlechtersensible Beratung bei Gewalt im Geschlechterverhältnis« von C. Neumann, S. Glammeier, R. Härtel und K. Gröning. Abschließend im 9. Kapitel reflektieren A.-C. Kunstmann, C. Ernst, B. Möhrke und C. Hornberg, A. Stach, S. Samerski, H. Friesel-Wark Argumentationen im Kontext der Beratungspraxis zu Gesundheit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit.

Vor allem für den Lernprozess von Lesern und Leserinnen in Weiterbildung stellt das Buch durch seine instruktiven historischen Ausführungen zu Beginn und die erfahrungsgeleiteten feldspezifischen Beiträge ein informatives, kritisches Denken und Widerspruch herausforderndes Lehrbuch zu Geschlechterfragen dar.

www.zeitschrift-supervision.de

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