Rezension zu Körperpsychotherapie und Sexualität
Freie Psychotherapie – Magazin des VFP, Ausgabe 4, 2017
Rezension von Carola Seeler
Ich gebe zu, das Buch zu lesen, nicht zwischendrin aufzugeben, war
eine Herausforderung. Dabei hatte ich zunächst gedacht: Warum
nicht? Psychotherapie – ist Teil deiner Arbeit. Körper – hast und
kennst du. Sexualität – kennst du sehr gut, hat dich dein Leben
lang beschäftigt. Jetzt, 318 Seiten später, kann ich beeindruckt
sagen, dass die beschriebene Thematik sehr komplex ist, sogar, dass
es sich um mehrere Themenbereiche handelt, die einerseits
miteinander verwoben sind, die andererseits voneinander abweichende
Gesichtspunkte beschreiben, Schwerpunkte setzen und klarstellen,
dass es sich um vernachlässigte oder verdrängte Themenbereiche
handelt.
Sexualität – besonders im Alter, Nacktheit, Sinnlichkeit, Lust,
Orgasmus, Missbrauch. Alleine diese Begriffe bergen unzählige
Möglichkeiten – in unserer Gesellschaft vor allem immer noch die
Macht: sich zu schämen. Aus diesem Grunde ist die Sexualität ein in
den Randbereich der Psychotherapie gerücktes »Phänomen«, bekommt
schnell den Stempel »geheim« = esoterisch aufgedrückt und hat so
bisher wenig Raum in der täglichen Praxisarbeit eingenommen, führt
ein Schattendasein. Dabei beschäftigt sie uns, wenn wir ehrlich
sind, unser ganzes Leben lang, beeinflusst unser Handeln bzw.
werden wir durch das Handeln anderer Menschen, mit uns oder
ungewollt an uns, unmittelbar, aber auch mittelbar berührt.
»Oversexed and underfucked« – ganze Bücher sind zu diesem Thema
geschrieben worden, junge Mädchen gehen in Hotpants und
bauchnabelfrei zur Schule, LKK ist aber igitt, das Körpergefühl
beschränkt sich bei vielen Menschen darauf, gut zu wirken, und
alles, was immer das Modediktat gerade vorschreibt, zu erfüllen.
Ein Körpergefühl, das signalisiert, dass »ich« bin, wie ich bin,
und dass das gut ist, fehlt den meisten Menschen. Das ist eine
Wahrnehmungsessenz, die ich für mich gezogen habe.
Dieses Buch nähert sich der Thematik aus verschiedenen Richtungen.
Nehmen hier auch die Sexualtheorien Wilhelm Reichs einen nicht
unwesentlichen Raum ein, so dienen sie doch eher als Grundlage denn
als Ansatz für heutige zeitgemäße Psychotherapie. Die Beiträge im
Buch beschreiben die Entwicklung der Körperpsychotherapie und den
Platz, den Sexualität darin einnimmt. Theoretisch und auch
praktisch werden verschiedene Ansätze körperpsychotherapeutischer
Arbeit vorgestellt. Es kommen Tanz- und Bewegungs-, Sexual- und
Paartherapeuten zu Wort. Geschlechterkritische Betrachtungen,
Missbrauch, traumatologische Aspekte und die Befassung mit
Rollenbildern sowie die Gefahr einer zunehmend mechanistischen,
technisierten Welt, die neue Denkfiguren menschlicher Sexualität
kreiert, sind nur einige herausgehobene Begriffe, die in Beiträgen
thematisiert werden.
Es werden verschiedene therapeutische Modelle vorgestellt.
Besonders interessant waren für mich und meine Arbeit die
Darstellung zur Wirkung narzisstischer und egozentrischer
Persönlichkeits- und Lebensstile auf Erlebniseinbußen innerhalb
partnerschaftlicher Beziehungen, wenngleich ich durchaus
Schwierigkeiten damit hatte, die Fokussierung auf die Mutter als
allein »selig« – oder eben »gestört machende« Machtperson einmal
unvoreingenommen anzunehmen und anzusehen.
Mir persönlich wurde der »Problematik Frau und Sexualität« zu viel
Raum gegeben, als seien Frauen Wesen, die aus den verschiedensten
Gründen kein selbstbestimmtes Leben führen und in der Regel in
unserer Gesellschaft ein Problem mit Sexualität haben, sei es
aufgrund von traumatischen Ereignissen oder sei es aus Gründen, die
in der Erziehung und der gesellschaftlichen Akzeptanz liegen.
Sexualität ist im Gesamtzusammenhang Psychotherapie vielleicht nur
ein Aspekt – aber ein wichtiger. Und ich muss gestehen, bisher wird
dieser Aspekt auch von mir vernachlässigt bzw. überhaupt nicht
aktiv in Beratungsgespräche einbezogen. Aber wie wir mit Nacktheit,
Scham, Sexualität, besonders auch im Alter, umgehen, ist von
essenzieller Bedeutung für jeden Menschen, der psychotherapeutisch
tätig ist, da ohne diese Aspekte ein großer Teil des Menschen, den
wir ggf. beraten, behandeln oder coachen, unberücksichtigt bleibt.
Das ist mir bei der Lektüre des Buches ganz besonders deutlich
geworden. Deshalb kann ich dieses Buch auch nur empfehlen. Man muss
nicht das Ziel haben, Körperpsychotherapeut zu werden. Das Wissen
jedoch um die Zusammenhänge allein und die Integration wichtiger
körperbetonter Aspekte, besonders der Sexualität in unsere Arbeit
kann diese enorm bereichern. Und das wird in diesem Buch
detailliert, kenntnisreich und gekonnt aufgezeigt.